5. KAPITEL
Wortlos führte mich der Mann durch die menschenleeren Straßen von Podgorze. Ich hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten und mich genauso lautlos fortzubewegen. Meine Empfindungen wechselten immer wieder zwischen Bestürzung, Verwunderung darüber, mich außerhalb des Ghettos zu befinden, und der Angst, jeden Moment entdeckt zu werden. Allein schon unsere sichtbaren Atemwolken in der eiskalten Luft drohten uns zu verraten. Nach einer Weile säumten immer weniger Wohnhäuser die Straße und wichen schließlich den Fabrikhallen und Lagerhäusern. Aus der gepflasterten Straße wurde ein Feldweg, dann ein schneebedeckter, schmaler gewundener Pfad, der in den Wald führte.
Erst als wir den Schutz der Bäume erreichten, sprach mich der Fremde wieder an. “Ich bin ein Freund von Alek”, sagte er und fügte nach einer Pause hinzu: “Und ein Freund von Jakub. Sie haben mich geschickt, um dich fortzubringen.”
“Zu Jakub?” Vor Begeisterung wurde ich lauter.
“Schht!”, machte der Fremde, blieb stehen und sah sich um. “Nicht zu ihm. Es tut mir leid.” Offenbar sah er mir meine Enttäuschung an. “Er wollte selbst herkommen, aber das wäre zu riskant gewesen.”
Zu riskant. Alles war doch eigentlich zu riskant. “Wohin dann?”
“Keine weiteren Fragen. Vertrau mir. Emmeth”, wiederholte er, als könnte seine Kenntnis unseres geheimen Codeworts einen Zauber bewirken, der mich gehorsam machte. “Es tut mir leid, dass wir so lange gehen müssen, aber alles andere würde zu viel Aufmerksamkeit erzeugen.”
“Es tut gut, zu Fuß unterwegs zu sein”, erwiderte ich, obwohl sich meine Zehen bereits ein wenig taub anfühlten. Plötzlich jedoch blieb ich stehen. “Ich kehre nicht hierher zurück, oder?”
“Nein.”
Bestürzt flüsterte ich: “Aber meine Eltern …”
“Sie werden eine Nachricht erhalten, dass du in Sicherheit bist. Aber es ist besser für sie, wenn sie so wenig wie möglich wissen.”
Ich stellte mir meine Eltern vor, wie ich sie zum letzten Mal gesehen hatte: friedlich schlafend in ihrem Bett. Dann malte ich mir aus, wie sie aufwachten und feststellten, dass ich verschwunden war. Ich hatte keine Gelegenheit gehabt, mich von ihnen zu verabschieden. Eben machte ich den Mund auf, um zu erklären, ich würde meine Eltern nicht im Stich lassen, da ging der Fremde bereits weiter. Ich hatte keine andere Wahl, als ihm zu folgen, wenn ich nicht auf mich allein gestellt hier zurückbleiben wollte.
Während ich tapfer einen Fuß vor den anderen setzte, erkannte ich, dass die Morgendämmerung allmählich einsetzte. Im Osten überzogen bereits feine Lichtstreifen den Nachthimmel. Ich sah mich in der mir fremden Umgebung um, bis ich auf einmal eine kleine hölzerne Kirche auf einer Lichtung entdeckte. Wir befanden uns in Las Wolski, dem Wald im Westen der Stadt. Damit war mir auch klar, wohin wir unterwegs waren. “Tante Krysia …?” Ich erinnerte mich daran, dass Jakubs Tante auf der anderen Seite von Las Wolski lebte. Der Mann nickte. “Aber werde ich sie nicht in Gefahr bringen?”
“Es gibt Papiere für dich. Du wirst nicht mehr die gleiche Person sein.”
Meine Gedanken überschlugen sich, ich war überwältigt von der Flut an Ereignissen. Aber mir blieb kaum Zeit, all die neuen Informationen zu verarbeiten. Der Fremde ging zügig weiter, und ich hatte Mühe, dicht hinter ihm zu bleiben, ohne dabei über Steine und Wurzeln zu stolpern.
Während wir weiter durch den Wald liefen, versuchte ich mir das Gesicht von Krysia Smok vorzustellen. Ich war ihr das erste Mal bei einem Abendessen in der Wohnung der Baus begegnet, wenige Wochen vor meiner Heirat. Ich konnte mich noch gut erinnern, dass ich mich für den Anlass kleidete, als sei ich in ein Königshaus eingeladen. Krysia genoss in Kraków einen legendären Ruf, sowohl als Ehefrau des Cellisten Marcin Smok als auch als eine Dame der besseren Gesellschaft. Als ich ihr vorgestellt wurde, reagierte sie jedoch völlig anders, als ich es erwartet hatte. Sie verzichtete auf die üblichen in die Luft geworfenen drei Küsse und drückte mich stattdessen fest an sich. “Mir ist klar, wieso du sie so sehr liebst”, sagte sie zu dem errötenden Jakub.
Krysias warmherzige Begrüßung erschien mir damals ausgesprochen ironisch, da sie nicht mal Jüdin, sondern eine strenggläubige Katholikin war. Ihre Heirat mit Frau Baus Bruder Marcin war ein unerschöpflicher Quell der Kontroversen und Skandale gewesen. Eine Ehe zwischen Angehörigen verschiedener Glaubensrichtungen war schlicht unerhört, das galt selbst für eine so aufgeklärte Familie wie die von Jakub. Marcin und Krysia waren nach Paris durchgebrannt, und für Jahre hatten die Baus das Paar geschnitten. Erst als Jakub zur Welt kam, änderte Frau Bau – die als Kind beide Elternteile durch Krankheit verloren und nur wenige Verwandte hatte – ihre Meinung und entschied, Marcin zu vergeben.
Mir wurde schnell klar, wieso Jakub seine Tante so bewunderte. Ihre Mischung aus Eleganz und unberechenbarem Temperament war einfach unwiderstehlich. Als Kind eines Diplomatenehepaars, das sich geweigert hatte, die eigene Tochter von Fremden aufziehen zu lassen, war Krysia an Orten aufgewachsen, von denen ich nur gelesen hatte: Rom, London, Paris. Nach ihrer Heirat mit Marcin ließ sie sich in Kraków nieder, und als er weiter auf Konzertreisen ging, richtete sie ihr Zuhause in der Stadt ein. Ihre Wohnung in der ulica Basztowa entwickelte sich schnell zu einem Dreh- und Angelpunkt der kulturellen Elite der Stadt. Krysia stellte Polens vielversprechendste Künstler und Musiker den Menschen vor, die sich ein Leben lang als deren Gönner und Förderer hervortun sollten. Trotz ihrer herausragenden gesellschaftlichen Rolle lehnte sie es jedoch ab, sich an Konventionen zu halten. So traf man sie durchaus in einer der vielen Kellerschänken der Stadt an, wo sie vorzugsweise eiskalten Kartoffelwodka trank und bis spät in die Nacht über Politik diskutierte. Ebenso selbstverständlich besuchte sie am nächsten Tag die Oper oder einen eleganten Ball.
Krysia und Marcin blieben kinderlos. Jakub erzählte mir einmal, er wisse nicht, ob dies aus freien Stücken so war oder ob die beiden keine Kinder kriegen konnten. Marcin starb 1932 nach einem zwei Jahre währenden Kampf gegen den Krebs. Nach seinem Tod verkaufte Krysia die Wohnung im Stadtzentrum und zog sich in ihr Wochenendhaus in Chelm zurück. Dort verstand sie es, Einsamkeit und Geselligkeit miteinander zu verbinden, indem sie unter der Woche in ihrem Garten die Ruhe genoss, an den Wochenenden aber oft Gesellschaften gab. Zu diesem Haus sollte ich nun also gebracht werden.
Nach einiger Zeit wurde der Weg abschüssiger, und die Bäume standen nicht mehr ganz so dicht. Minuten später hatten wir den Wald hinter uns gelassen und erkannten ein Stück unterhalb von uns die ersten Bauernhöfe von Chelm. Als wir die Straße entlanggingen, krähte irgendwo ein Hahn, dann begann ein Hund zu bellen, der unsere Anwesenheit zu verraten drohte. Der Fremde legte seine schwere Hand auf meine Schulter. Wie erstarrt blieben wir hinter einem Busch stehen, bis wieder Ruhe eingekehrt war. Nachdem er sorgfältig geprüft hatte, dass niemand uns beobachtete, führte mich der Mann über die Straße und um eines der größeren Häuser herum. An einer Hintertür klopfte er leise an, worauf fast sofort geöffnet wurde. Im fahlen Licht erkannte ich Krysia Smok. Angesichts ihrer stattlichen Erscheinung schämte ich mich für meine abgetragene Kleidung und mein zerzaustes Haar, doch sie nahm meine Hand, zog mich zu sich ins Haus und schloss mich in ihre Arme. Sie duftete nach einer Mischung aus Zimt und Äpfeln, was mich an Jakub erinnerte.
“Meine Liebe”, sagte sie und strich mir zärtlich übers Haar. Einige Augenblicke lang stand ich einfach da und ließ mich von ihr umarmen, erst dann fiel mir der Mann ein, der mich hergebracht hatte. Ich drehte mich um, da ich mich bei ihm bedanken wollte, doch er war bereits verschwunden.
“Bist du müde?” Krysia schloss die Tür und zog mich hinter sich her in den Salon im ersten Stock, wo ich mich auf einen der Stühle setzte. Ich schüttelte den Kopf. “Ich bin gleich zurück”, erklärte sie und ließ mich allein. Ich erkannte an ihren Schritten, dass sie nach oben in die zweite Etage ging, kurz darauf war fließendes Wasser zu hören.
Erschöpft sah ich mich im Zimmer um und entdeckte auf dem Kaminsims mehrere gerahmte Fotografien. Ich stand auf und stellte mich vor den Kamin, um sie besser betrachten zu können. Die Bilder zeigten Jakub als Kind, Jakub und mich an unserem Hochzeitstag, Jakub im Porträt. Es war so eigenartig, ohne ihn in diesem Haus zu sein.
Nach wenigen Minuten kehrte Krysia zurück. “Du musst ein Bad nehmen”, erklärte sie und stellte einen Becher mit Tee vor mich auf den Kaminsims. “Es tut mir leid, dass wir so vorgehen mussten, aber es ging einfach nicht anders.”
Ich vergrub das Gesicht in meinen Händen. “Meine Eltern …”
“Ich weiß.” Sie stellte sich zu mir, einmal mehr umgab mich der Geruch von Zimt und Äpfeln. “Es war nicht möglich, euch alle aus dem Ghetto zu holen. Aber deine Eltern werden sich freuen zu erfahren, dass du in Sicherheit bist. Und wir werden tun, was wir nur können, um auch ihnen zu helfen.”
Unwillkürlich begann ich zu schluchzen, da mich die monatelange Verzweiflung nun doch einholte. “Tut mir leid”, flüsterte ich verschämt. Krysia erwiderte nichts, sondern legte nur den Arm um meine Schultern und brachte mich nach oben ins Badezimmer, wo neben der dampfenden Wanne frisches Nachtzeug bereitlag. Nachdem Krysia gegangen war, zog ich mich aus und nahm mein erstes richtiges Bad seit Monaten. Ich schrubbte mich von Kopf bis Fuß, wusch mir zweimal die Haare und blieb so lange in der Wanne, bis das mittlerweile schmutzige Wasser kalt wurde.
Als ich entspannt und fast zu erschöpft, um mich noch länger auf den Beinen zu halten, das Bad verließ, brachte mich Krysia in mein Schlafzimmer. Verwundert betrachtete ich die Vase mit frischen Blumen auf dem Nachttisch. Existierten solche Dinge tatsächlich noch in dieser Welt? “Leg dich jetzt schlafen”, sagte Krysia und schlug die Bettdecke zur Seite, unter der ein blütenweißes Laken zum Vorschein kam. “Ich verspreche dir, morgen früh werde ich dir alles erklären.”
Nach Monaten im Ghetto erschienen mir die weiche Matratze und die sauberen Bezüge wie ein Traum. Trotz allem, was ich in dieser Nacht erlebt hatte, fiel ich in einen tiefen Schlaf.
Als ich am Morgen erwachte, war ich zunächst völlig verwirrt. Beim Anblick meiner komfortablen Umgebung fragte ich mich für Sekunden, ob ich zurück in dem Zimmer war, in dem ich mit Jakub das Bett geteilt hatte. Im nächsten Moment jedoch kehrte die Erinnerung zurück. Ich war in Krysias Haus. Durch das Fenster konnte ich den Wald sehen, die Sonne stand bereits hoch am Himmel, und ich wunderte mich, wie lange ich wohl geschlafen hatte. Ich ging nach unten in die Küche, wo Krysia am Herd stand. “Es tut mir leid, dass ich jetzt erst aufgestanden bin”, entschuldigte ich mich bei ihr.
“Du hast den Schlaf gebraucht, und jetzt fehlt nur noch eine kräftigende Mahlzeit.” Sie deutete auf einen Teller mit Eierkuchen und zwei blank polierten Äpfeln. “Setz dich doch.” Ich nahm Platz und hoffte, dass sie nicht hörte, wie laut mein Magen knurrte. Sie stellte ein Glas Tee vor mich hin. “Ich habe erfahren, dass deinen Eltern dein Verschwinden bereits erklärt wurde. Außerdem hat eine andere junge Frau deinen Platz im Waisenhaus übernommen, sodass niemand dein Fehlen bemerken wird.” Ich war erleichtert und zugleich sehr neugierig, weil ich mich wunderte, woher Krysia diese Dinge wusste.
Ich zögerte, da mir eine Frage auf der Zunge lag, die Jakub betraf. Stattdessen fragte ich: “Was ist mit den Baus?”
Kopfschüttelnd brachte sie mir noch einen Teller mit Brot und ein wenig Käse und setzte sich dann zu mir. “Von ihnen hörte ich das letzte Mal vor zwei Monaten, seitdem nichts mehr. Es geht ihnen gut, aber sie leben nicht so, wie Fania es gewohnt ist.” Mir entging nicht der ironische Unterton in ihrer Stimme. Ich nickte verstehend. Mit polnischem Geld konnte man in der Schweiz nicht weit kommen, selbst wenn man recht viel davon besaß. Durch die Kriegswirren wurde den Baus zudem der Zugriff auf ihr Vermögen erschwert. “Sie wollten persönlich mit dir Kontakt aufnehmen, aber sie hatten Angst, darauf aufmerksam zu machen, dass ihr miteinander verwandt seid.”
“Und ihr Zuhause?” Mein Magen drehte sich um, als ich an die prachtvolle Villa dachte.
“Es wurde im Sommer von einem hochrangigen Nazioffizier beschlagnahmt.” Sie legte ihre Hand auf meine. “Du hättest nichts tun können, um es zu verhindern. Und nun iss erst einmal.”
Ich kam ihrer Aufforderung nach und vergaß völlig meine Manieren, da ich mir Eierkuchen, Apfel und Brot beinahe gleichzeitig in den Mund stopfte und alles mit Tee herunterspülte. Doch so sehr ich das Essen auch genoss, war ich mit den Gedanken bei meinen Eltern, die weiter mit ihren Rationen im Ghetto auskommen mussten.
“Dein Name”, begann Krysia, nachdem ich aufgegessen hatte, “ist Anna Lipowski. Du bist in Gdańsk aufgewachsen, aber deine Eltern starben in den ersten Kriegstagen. Seitdem lebst du bei mir, deiner Tante Krysia.”
Erstaunt sah ich sie an. “Ich verstehe nicht …”
“Du musst dich nach außen hin wie eine Christin geben”, gab sie wie selbstverständlich zurück. “Anders geht es nicht, es ist fast unmöglich geworden, Juden über einen längeren Zeitraum zu verstecken. Du gehst ohne Weiteres für eine Polin durch. Und von deinen früheren Kollegen an der Universität abgesehen, um die du einen großen Bogen machen wirst, gibt es in der Stadt niemanden mehr, der weiß, wer du wirklich bist.” Ihre Worte hallten in meinen Ohren nach. Wie sehr sich Kraków doch verändert hatte, dass ich als Fremde durchging, obwohl diese Stadt mein ganzes Leben lang meine Heimat gewesen war!
“Hier sind deine Papiere.” Krysia schob mir eine braune Mappe zu, in der sich ein Ausweis und zwei Geburtsurkunden befanden.
“Łukasz Lipowski”, las ich laut vor. “Ein Dreijähriger?”
“Ja. Wie ich hörte, möchtest du Jakub gern bei seiner Arbeit helfen?” Sie hielt kurz inne. “Nun, jetzt bekommst du die Gelegenheit dazu. Es gibt da einen Jungen, der seit Monaten im Ghetto versteckt gehalten wird. Er hat keine Eltern mehr. Man wird ihn herbringen, damit er bei uns leben kann. Nach außen hin wird er dein kleiner Bruder sein. Heute Abend kommt er zu uns.”
Ich nickte bedächtig, während sich meine Gedanken regelrecht überschlugen. Vor nur vierundzwanzig Stunden hatte ich noch mit meinen Eltern im Ghetto gewohnt, und jetzt war ich frei, lebte als Christin bei Krysia und sollte mich um ein Kind kümmern.
“Da wäre noch etwas.” Sie schob mir einen schmalen Umschlag zu. Ich öffnete ihn, und eine Goldkette mit einem kleinen goldenen Kreuz rutschte heraus. Meine Hand zuckte zurück. “Ich verstehe dich”, sagte Krysia sanft. “Aber es ist eine notwendige Maßnahme, auf die wir nicht verzichten können.” Sie nahm die Halskette, stellte sich hinter mich und legte sie mir um. Damit begann mein Leben als Nicht-Jüdin.
Nach dem Frühstück nahm mich Krysia mit nach oben in ihr Schlafzimmer. Sie öffnete den Schrank und schob die Kleider auf der Stange zur Seite, sodass eine Treppe zum Vorschein kam, die auf den Speicher führte. Krysia stieg hinauf und reichte mir mehrere metallene Gegenstände sowie eine Matratze für ein Kinderbett an. Wir trugen alles ins Gästezimmer, wo der Junge untergebracht werden sollte.
“Das gehörte früher Jakub”, erklärte sie, während wir das Kinderbett zusammenbauten. “Später bewahrte ich es für seine Eltern auf, da ich dachte, ich könnte es vielleicht für ein eigenes Kind gebrauchen.” Ihre Augen nahmen einen verlorenen Ausdruck an, und mit einem Mal wusste ich, dass sie nicht aus freien Stücken kinderlos geblieben war. Als das Bettchen fertig war, strich ich über das geschnitzte Holzgitter und stellte mir meinen Mann vor, wie er als kleines Kind darin gelegen hatte.
Um die Mittagszeit stellte Krysia eine Schüssel Rote-Beete-Suppe und eine Platte mit Wurst, Brot und Käse auf den Tisch. Einen Moment lang zögerte ich, denn das Fleisch war bestimmt nicht koscher. Zudem war es verboten, Fleisch und Käse zusammen zu essen.
“Oh”, machte sie, als sie den Grund für meine Reaktion erkannte. “Es tut mir sehr leid. Ich hätte versucht, koscheres Fleisch zu bekommen, aber …”
“Aber es gibt keine koscheren Metzger mehr”, beendete ich den Satz für sie, und sie nickte zustimmend. “Es ist nicht schlimm.” Als ich bei den Baus lebte, war das Essen auch nicht immer vollständig koscher gewesen, und im Ghetto aßen wir, was wir beschaffen konnten. Ich wusste, meine Eltern würden es verstehen und sich freuen, dass ich gutes Essen bekam. Wie auf ein Kommando hin begann mein Magen zu knurren. Krysia sah mich erleichtert an, als ich mich großzügig bei Wurst und Käse bediente.
“Weißt du, ich habe mich nie um ein Kind kümmern müssen”, gestand Krysia mir später an diesem Nachmittag. Wir standen auf dem Balkon, der vom Salon abging, und hängten frisch gewaschene Kinderkleidung zum Trocknen auf, die Krysia ihren Worten zufolge von einer Freundin erhalten hatte.
“Ich auch nicht, bis ich im Ghetto meine Arbeit im Waisenhaus aufnahm.” Ich schaute zu Krysia hinüber, die mit einem Ausdruck der Hilflosigkeit ein noch klammes Kinderhemd in den Händen hielt. Ihr war anzusehen, wie viel Sorgen sie sich machte. “Aber wieso, Krysia? Du hast dich doch um Jakub gekümmert. Er erzählte mir, er sei als Kind oft bei dir gewesen.”
Sie schüttelte den Kopf. “Als Tante einen kleinen Jungen ein paar Stunden in der Woche zu versorgen, kann man nicht damit vergleichen.”
Ich nahm ihr das Hemd ab und hängte es auf die Leine. “Das bekommen wir schon hin, ich verspreche es dir.”
Von Krysia erfuhr ich, dass der Junge so spät wie ich in der Nacht hier eintreffen würde. Am frühen Abend machte sie einen erschöpften Eindruck. “Warum ruhst du dich nicht eine Weile aus?”, schlug ich ihr vor, doch sie schüttelte den Kopf.
Als die Zeiger der Standuhr im Flur schon lange nach Mitternacht anzeigten, lief Krysia noch immer rastlos im Haus auf und ab, machte hier etwas sauber, sortierte da irgendwelche Kleinigkeiten. Das Licht hatte sie so weit heruntergedreht, dass die Küche nur noch von einem schwachen Schein erleuchtet wurde und unsere Schatten weit in den Korridor hineinreichten. Alle paar Minuten hob sie die schweren Vorhänge am rückwärtigen Salonfenster ein winziges Stück an und hielt nach dem Neuankömmling Ausschau.
Gegen zwei Uhr am Morgen setzten wir uns jeder mit einer Tasse Tee in die Küche. Mehrmals versuchte ich, zum Sprechen anzusetzen, aber da ich Krysia so vieles fragen wollte, wusste ich nicht, wo ich anfangen sollte. “Wie bist du …?”, begann ich schließlich, geriet aber gleich wieder ins Stocken.
“… mit der Widerstandsbewegung in Kontakt gekommen, meinst du?” Sie rührte ihren Tee, dann legte sie den Löffel beiseite. “Ich wusste von Anfang an von der Sache, für die sich Jakub einsetzt. Er sprach mit mir darüber, weil sich seine Mutter nicht sonderlich dafür interessierte, während sein Vater zu sehr um seine Sicherheit besorgt war. Natürlich machte ich mir auch Sorgen um sein Wohl”, fügte sie hinzu und trank einen Schluck. “Aber ich wusste, er würde sich nicht davon abbringen lassen.” Mir erging es nicht anders, ergänzte ich im Stillen. “Irgendwann im Frühjahr kam er eines Nachts zu mir”, fuhr sie fort. Offenbar sprach sie von dem Abend vor seinem Untertauchen, als er viele Stunden lang nicht nach Hause zurückgekehrt war. “Er sagte mir nicht im Detail, worum es ging, aber er bat mich, ein Auge auf dich zu haben, falls ihm etwas zustoßen sollte. Ich fragte, ob ich sonst noch etwas für ihn tun könnte, und da wurde uns beiden klar, dass meine gesellschaftliche Stellung vielleicht von Nutzen wäre. Näheres erfuhr ich erst, als er bereits gegangen war.”
“Aber das ist doch schrecklich gefährlich! Hast du denn gar keine Angst?”
“Natürlich habe ich Angst, meine Liebe.” Sie verzog die Mundwinkel zu einem leichten Lächeln. “Sogar eine alte, kinderlose Witwe wie ich hängt am Leben. Doch dieser Krieg …” Sie wurde wieder ernst. “Dieser Krieg ist eine Schande für mein Volk. Dich und den Jungen bei mir unterzubringen ist das Mindeste, was ich tun kann.”
“Die Polen haben den Krieg nicht angefangen”, wandte ich ein.
“Nein, aber …” Sie wurde von einem leisen Kratzen an der Hintertür unterbrochen. “Warte hier.”
Auf Zehenspitzen schlich Krysia die Treppe nach unten. Ich hörte Geflüster, Bewegungen, dann ein leises Klicken, als die Tür geschlossen wurde. Krysia kam die Stufen wieder hinauf, diesmal waren ihre Schritte schwerer und langsamer. Als sie den Kopf der Treppe erreicht hatte, sah ich, dass sie ein großes Stoffbündel in den Armen hielt. Ich stand auf, um ihr zu helfen, dann trugen wir den schlafenden Jungen gemeinsam in den zweiten Stock.
Wir legten ihn ins Kinderbett, Krysia wickelte ihn aus der Decke. Als ich das Gesicht des Jungen sah, stockte mir der Atem. Es war der kleine blonde Junge, dessen Mutter man auf offener Straße erschossen hatte.
“Was ist?”, fragte sie.
Bevor ich antworten konnte, begann das Kind zu wimmern, da meine erschrockene Reaktion und Krysias Stimme ihn aufgeweckt hatten. “Schhhht”, besänftigte sie den Kleinen und streichelte ihm über den Rücken, bis er wieder einschlief.
Leise verließen wir das Zimmer. “Dieser Junge”, flüsterte ich. “Er ist …”
“Der Sohn von Rabbi Izakowicz, dem bekannten Rabbi aus Lublin. Seine Mutter wurde umgebracht …”
“Ich weiß! Ich habe es von unserer Wohnung aus mitangesehen.”
“Oh, du Arme”, sagte Krysia und tätschelte mitfühlend meine Schulter.
“Du sagtest, er hat keine Eltern mehr. Was ist mit seinem Vater?”
“Das wissen wir nicht. Entweder wurde er in den Wäldern bei Czernichów erschossen oder in ein Lager gebracht. So oder so sieht es nicht gut für ihn aus.”
Ich kniff die Augen zusammen und sah die Szene vor mir, die sich vor unserer Haustür abgespielt hatte. Bestimmt werden sie den Rabbi nicht umbringen, hatte ich an dem Abend zu meinen Eltern gesagt. “Sie war schwanger, als sie sie töteten”, murmelte ich. Meine Augen begannen zu brennen, während ich hinzufügte: “Die Mutter des Jungen, meine ich.”
Krysia nickte. “Davon habe ich gehört. Das macht unsere Arbeit umso wichtiger. Der Junge ist der Letzte einer wichtigen Rabbiner-Dynastie. Er muss am Leben bleiben.”
In der Nacht wechselten wir uns mit dem Schlafen ab, damit immer eine von uns zur Stelle war, falls der Junge aufwachte und die fremde Umgebung ihm Angst machte. Doch zu unserer Erleichterung schlief er bis zum Morgen durch. Als ich ihn aus dem Kinderbett hob, trug er noch seine Straßenkleidung und war so nassgeschwitzt, dass die blonden Locken an seiner Stirn klebten. Ich setzte ihn auf meinen Schoß, worauf er kurz blinzelte, aber keinen Laut von sich gab. Stattdessen legte er die Arme um meinen Hals und ließ den Kopf auf meine Schulter sinken, so als hätte er das schon immer so gemacht. Gemeinsam begaben wir uns nach unten in die Küche, wo Krysia das Frühstück vorbereitete. Bei unserem Anblick leuchteten ihre Augen auf und sie begann zu lächeln.
Eine Woche später würde Łukasz mich in die Stadt begleiten, damit wir unseren ersten Auftritt als Christen absolvierten. Er würde beim Anblick der vielen Menschen große Augen machen, und ich würde nicht widerstehen können und etwas von unserem Essensgeld abzweigen, um ihm eine Leckerei zu kaufen. Und so kam es, dass Łukasz – der Sohn des großen Rabbis aus Lublin – und Emma – Tochter eines armen Bäckers aus Kazimierz – im Wochenendhaus der eleganten Krysia Smok lebten, das ihnen so prachtvoll wie ein Palast erschien.