18. KAPITEL

Der Fleck angetrockneten Haferbreis in Łukasz’ Schüssel will einfach nicht verschwinden. Ich tauche die Schüssel noch einmal in die Seifenlauge und reibe fester über die Stelle. Normalerweise würde ich sie über Nacht einweichen lassen, doch das ist Łukasz’ Lieblingsschüssel, die einzige, die er leiden kann. Sie muss am Morgen sauber sein, sonst weigert er sich, etwas zu essen.

Ich stelle die Schüssel ab und lasse mich seufzend auf einen Küchenstuhl fallen. Es ist Freitagabend, kurz vor zehn. Łukasz schläft schon lange, und Krysia, die sonst im Haushalt mithilft, hat sich mit Kopfschmerzen zu Bett gelegt. Mir macht die Arbeit nichts aus, es fällt mir immer leichter, am Abend aufzubleiben, wenn ich weiß, dass ich am nächsten Morgen nicht in aller Frühe wieder aufstehen muss. In den Abendstunden herrscht hier eine himmlische Ruhe, die ich sonst nirgendwo finde. Dennoch macht es mir zunehmend zu schaffen, vorzugeben, jemand anderes zu sein. Ich fühle mich mit meinen Kräften schlichtweg am Ende.

Mehr als zwei Wochen ist es inzwischen her, dass ich Marek getroffen habe, aber bis jetzt habe ich von der Bewegung nichts weiter gehört. Ich fasse in meine Tasche, um den Bernstein zu fühlen, der mir an jenem Abend zugesteckt wurde. Seitdem ist es mir ein paar Mal so vorgekommen, als würde mich jemand beobachten, während ich die Straße entlanggehe. Bei jeder dieser Gelegenheiten drehe ich mich um und hoffe, irgendwo Jakub zu entdecken, doch ich sehe ihn nie. Allmählich beginne ich mich zu fragen, ob ich mir das alles nur eingebildet habe.

Unterdessen begleite ich den Kommandanten weiterhin in seine Wohnung, wenn er das wünscht, und suche nach anderen nützlichen Dokumenten, während er schläft. Gefunden habe ich aber nichts mehr. In den letzten Tagen haben sich ohnehin nur wenige Gelegenheiten für meine Suche ergeben, da ich den Kommandanten nicht sehr oft zu Gesicht bekomme. Der Krieg läuft nicht gut für die Deutschen. Das weiß ich nicht nur aus den Telegrammen, die über meinen Schreibtisch gehen, sondern das verraten mir auch die geflüsterten Gespräche und verdrießlichen Gesichter der deutschen Offiziere, denen ich in den Korridoren begegne. Der Kommandant muss länger arbeiten, es finden mehr Besprechungen statt, die manchmal bis spät in die Nacht hineingehen. In den wenigen Nächten, die wir gemeinsam verbringen, schläft er immer nur ein paar Stunden und steht meist vor Sonnenaufgang auf. Dann höre ich ihn durch die Wohnung gehen, oder er sitzt in seinem Arbeitszimmer und liest irgendwelche Dokumente, während ich wach im Bett liege.

Mit jedem Tag, an dem ich meine Suche nicht fortsetzen kann, wächst meine Unzufriedenheit. Vielleicht sollte ich mit Alek Kontakt aufnehmen und ihn bitten, mich von diesem Auftrag zu entbinden. Es ist sinnlos, dieses Spiel fortzusetzen, wenn nichts weiter dabei herauskommt. Trotzdem habe ich es noch nicht mal versucht, Alek diesen Vorschlag zu unterbreiten. Stattdessen rede ich mir ein, dass es notwendig ist, meine Mission weiter zu verfolgen. Wenn ich aber ganz ehrlich bin, dann muss ich gestehen, dass ich meinen Nächten mit dem Kommandanten auch gar kein Ende setzen will. Ich freue mich auf unsere Treffen, und die Wärme, die dieser Mann mir gibt, hat auf mich eine tröstende Wirkung. Ich rede mir längst nicht mehr ein, dass es nur rein körperliche Anziehung ist, die ich empfinde. Vielmehr genieße ich seine Nähe, was mir umso deutlicher geworden ist, seit unsere gemeinsamen Nächte seltener geworden sind.

Aber selbst wenn ich dem Ganzen ein Ende setzen wollte, wie sollte das ablaufen? Man trennt sich nicht einfach so von einem hochrangigen Nazi, vor allem nicht vom Kommandanten. An den liebevollen Blicken, die er mir zuwirft, kann ich deutlich erkennen, dass ein Ende unserer Beziehung für ihn kein Thema ist. Wir sind uns einig, dass unsere Affäre bis auf Weiteres geheim bleiben muss, da es ihm nicht gut zu Gesicht stehen würde, dass er sich mit seiner polnischen Assistentin eingelassen hat. Doch wenn wir allein sind, redet er oft von einer gemeinsamen Zukunft. “Nach dem Krieg werden wir heiraten”, hat er mir bereits mehr als einmal versprochen, “und dann kommst du mit nach Deutschland. Du, Krysia und dein Bruder, ihr werdet mit mir in unserem Haus in Hamburg wohnen.”

Ich erwidere nichts, wenn er vom Heiraten spricht, aber innerlich verkrampft sich mein ganzer Körper. Jede andere junge Frau, die eine Affäre mit ihrem Vorgesetzten hat, würde sich über ein Eheversprechen freuen. Doch ich bin bereits verheiratet und finde solche Überlegungen albern, wenn nicht gar beängstigend. Wie soll ich dem Kommandanten je entkommen und zu Jakub zurückkehren? Werden die Deutschen verlieren, dann ist das kein Problem. Aber wenn sie siegen … nein, eine solche Möglichkeit darf ich gar nicht erst in Betracht ziehen.

Die Fensterläden rappeln laut. Wir haben Anfang Dezember, und draußen ist es bitterkalt. Es ist uns gelungen, in Krysias Haus für Wärme zu sorgen, indem wir im Herbst einen genügend großen Vorrat an Feuerholz und Kohlen angelegt haben. Aber ich bin in ständiger Sorge um Jakub und meine Eltern, denen es auf keinen Fall so gut ergehen kann wie mir. Sie alle fehlen mir so sehr wie noch nie zuvor. Morgen Abend beginnt Chanukka, was ich schon von klein auf weiß, weil meine Eltern mir den jüdischen Kalender sozusagen eingeimpft haben. Könnten wir diesen Feiertag doch bloß gemeinsam begehen! Früher an diesem Abend habe ich Łukasz beobachtet, wie er auf dem Boden saß und mit seinen Bauklötzen spielte. Er weiß nicht mal, was Chanukka eigentlich ist. Wie gern würde ich ihn auf den Schoß nehmen und ihm die Geschichte von den tapferen Männern erzählen, die den Tempel retteten, und vom Wunder des Lichts, das acht Nächte lang brannte. Sein Vater hätte das für ihn getan. Doch ich wage es nicht, auch wenn ich weiß, dass ich Łukasz etwas versage. Er ist jetzt nach unserer Schätzung dreieinhalb und wird jeden Tag ein bisschen geschwätziger. Wenn er die Geschichte von Chanukka einem Nachbarn weitererzählt, würden wir alle in große Gefahr geraten. Aus dem gleichen Grund bekommt er von uns auch kein Chanukka-Geld, jene Münzen oder kleinen Geschenke, die ich als Kind an diesem Feiertag überreicht bekam. Auch werde ich keinen Dreidl für ihn basteln, und zudem keine Chanukka-Spiele spielen. Stattdessen bekommt Łukasz seine Geschenke einige Wochen später an Weihnachten, was wir zu feiern vorgeben, um den Schein zu wahren. Heute Abend allerdings hat Krysia in einem unausgesprochenen Zugeständnis an unseren Glauben Latkes gebacken, Kartoffelpuffer mit süßer Apfelsoße und Schmand, die traditionell an jüdischen Feiertagen gegessen werden. Der Geschmack erinnerte mich an meine Mutter und ließ mich in Tränen ausbrechen.

In der Diele höre ich den Boden knarren. Krysia ist wohl noch einmal aufgestanden, überlege ich, während ich Łukasz’ Schüssel abtrockne. Ich wische meine Hände an einem Handtuch ab. Auf einmal nehme ich Schritte wahr, die von der Tür zur Küche kommen und schwerer klingen als die einer Frau. Jemand ist ins Haus eingedrungen! Wie erstarrt stehe ich da und halte mit einer Hand den Griff einer Bratpfanne fest, die zum Abtrocknen auf dem Küchentisch liegt. Ich hebe meinen Arm, doch bevor ich mit der Pfanne ausholen kann, drückt sich der Eindringling an mich und hält meine Unterarme fest umschlossen.

“Schabbat schalom, Fräulein Emma.”

Mein Herz macht vor Freude einen Satz. “Jakub!”, rufe ich und lasse die Pfanne fallen. Sekundenlang glaube ich an einen Traum, und als ich die Arme um ihn schlinge, rechne ich insgeheim damit, ins Leere zu greifen. Aber er ist wirklich da, ich kann ihn berühren und festhalten. “O Jakub!”, rufe ich wieder, als er mich in die Arme nimmt. Ich klammere mich an ihn, so fest ich nur kann, und küsse jede Stelle seines Gesichts.

Einen Augenblick später lehnt er sich ein kleines Stück zurück, und wir sehen uns lange an, ohne ein Wort zu sagen. Meine Gedanken überschlagen sich. Jakub ist hier. Er ist zu mir gekommen. So oft habe ich von diesem Moment geträumt, dass ich mir fast nicht sicher bin, ob das hier real ist oder doch nur ein Traum. “Emma”, sagt er, legt seine Hände an mein Gesicht und küsst meine Lippen.

“Ich kann es nicht fassen, dass du hier bist”, erwidere ich, als wir uns irgendwann voneinander lösen. Ich betrachte sein Gesicht, das voller und gebräunter ist. Es wirkt auf mich wie das Gesicht eines Jungen, der erst vor Kurzem vom Jugendlichen zum Mann geworden ist. Ich berühre seine Wangen, die sich vom Leben unter freiem Himmel rau und gegerbt anfühlen. “Es ist so lange her …”

“Ich weiß, es tut mir leid …”, setzt er zum Reden an, aber ich lege einen Finger auf seine Lippen.

“Nicht”, unterbreche ich kopfschüttelnd. “Es ist gut, solange ich weiß, dass mit dir alles in Ordnung ist.”

“Das ist es, nachdem ich nun hier bei dir bin”, erwidert er ernst. “Aber …”

“Schhht”, flüstere ich und küsse ihn. Ohne ein weiteres Wort führe ich ihn die Treppe hinauf in mein Schlafzimmer. Ich schließe die Tür hinter uns und küsse ihn wieder. Unsere Lippen trennen sich auch dann nicht, als ich ihm den zerlumpten Mantel und das Hemd ausziehe und ihn zu mir aufs Bett ziehe. Unsere Körper ergänzen sich gegenseitig so vollkommen, als wäre das alles nur ein böser Traum gewesen – als hätte es die Trennung nie gegeben.

“Ich hätte dir etwas zu trinken anbieten sollen”, sage ich eine Weile später, als wir erschöpft auf dem Bett liegen.

Jakub schüttelt den Kopf. “Ich habe keinen Durst”, erwidert er und streckt seine Hand nach mir aus. In der Hitze der Leidenschaft hatte ich den Kommandanten und alles andere völlig vergessen, was geschehen war. Jetzt muss ich an meinen Verrat denken, und ich beginne mich für diese Dinge zu schämen. Als sich Jakub erneut über mich legt, betrachte ich seinen hageren Körper und sehe auf einmal den großen, muskulösen Kommandanten vor mir. Nein, denke ich und versuche das Bild zu verdrängen. Nicht jetzt, nicht in diesem Augenblick, den ich mit meinem Ehemann teile.

Ich schließe die Augen und versuche, mich auf Jakubs Berührungen zu konzentrieren. Doch als mein Verlangen erneut erwacht, sehe ich im Geiste abermals das Gesicht des Kommandanten vor mir. Plötzlich kommt mir ein schrecklicher Gedanke: Was, wenn Jakub das bemerkt? Mir ist inzwischen bewusst, dass ich mich anders gebe, wenn ich das Bett mit dem Kommandanten teile. Mein Rhythmus ist auf seinen eingestellt, und ich bewege mich selbstbewusster und kraftvoller. In Panik frage ich mich, ob ich mich bei Jakub so verhalte, wie ich es sollte. Ich versuche mich daran zu erinnern, wie ich mich gab, als wir damals beieinander waren.

Auf einmal stöhnt er laut auf und reißt mich aus meinen Überlegungen. Ich öffne die Augen, während er verloren in seiner eigenen Lust neben mir aufs Bett sinkt. Erleichtert erkenne ich, dass ihm nichts aufgefallen ist.

“Mmm”, murmelt er, die Arme um mich gelegt, die Augen geschlossen. Sein Atem geht ruhig und gleichmäßig. Ich kann nicht einschlafen, sondern drehe mich auf die Seite, um ihn anzusehen und mich an seiner Anwesenheit zu erfreuen. Es gibt so vieles, das ich längst vergessen hatte: seine Wärme, sein Atem, die Art, wie unsere Körper sich gegenseitig ergänzen, als wäre jeder von uns nur Teil eines Ganzen. Beide haben wir seit unserer letzten Begegnung einen weiten Weg zurückgelegt – ich durch das Ghetto und meine Arbeit in der Burg, Jakub durch die Widerstandsbewegung. Gott allein weiß, was er dabei alles durchgemacht hat.

Eine Weile später ist er wieder aufgewacht, und den Rest der Nacht liegen wir im Bett und reden ohne Unterlass, so wie damals, als wir frisch verheiratet waren. Er erzählt mir, dass er sich im Wald aufgehalten hat und zwischen Warszawa, Lodz und Lublin sowie anderen polnischen Großstädten unterwegs war, um die Anstrengungen der verschiedenen Widerstandsgruppen zu koordinieren. “Es gibt auch nicht-jüdische Gruppierungen”, erklärt er. “Der Versuch, die Arbeit der Polen und der Juden aufeinander abzustimmen, war leider größtenteils erfolglos. Aber wir haben jetzt genug über mich geredet.” Er streicht mir übers Haar. “Sag mir, was geschehen ist, nachdem ich dich verlassen habe.”

Ich zögere, da ich mir nicht sicher bin, wie viel ich ihm erzählen soll. “Nun, ich habe versucht, zu meinen Eltern zurückzugehen, so wie du es mir gesagt hast”, beginne ich und lege meinen Kopf an seine Brust. Jakub etwas nicht vorbehaltlos anzuvertrauen ist für mich eine ungewohnte Erfahrung. “Aber sie waren nicht mehr zu Hause.”

“Und dann kamst du ins Ghetto.” An seinem Tonfall merke ich, dass er weiß, was wir dort durchmachten. Mein Leiden hat ihn geschmerzt.

“Als ich dort lebte, war es noch nicht so schlimm”, versichere ich. “Alek und die anderen waren so gut zu mir.”

“Dort hast du auch Marta kennengelernt, nicht wahr?” Ich höre ihm an, dass er in der Dunkelheit lächelt. Plötzlich aufkommende Eifersucht versetzt mir einen Stich.

“Ja.” Mehr sage ich nicht dazu, denn obwohl sie meine Freundin war, möchte ich nicht über sie reden, während ich mit Jakub im Bett liege.

“Sie ist ein bemerkenswertes Mädchen.”

Ich bin froh, dass er sie mehr als Kind denn als erwachsene Frau ansieht. “Im Ghetto hatte ich einige Freunde.”

Er gibt mir einen Kuss auf die Stirn. “Trotzdem kann es für dich nicht leicht gewesen sein.”

“Meine Eltern …”

“Ja, ich hörte, dass sie noch im Ghetto sind. Wir haben es versucht, aber es ist so schwierig, die Älteren herauszuholen.”

Ich überlege, ihn zu fragen, wie man meinen Eltern helfen kann, doch er klingt plötzlich fast so wie Alek. Mir wird klar, wie sinnlos es ist, länger über dieses Thema zu reden. “Mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen, dass einige Leute über die Grenze in die Tschechoslowakei geflohen sind”, sage ich stattdessen.

“Das ist gefährlich. Der Weg durch die Berge ist mühselig, und wenn man erst mal dort ist, befindet man sich keineswegs in Sicherheit. Wie die Polen können auch die Slowaken sehr brutal zu den Juden sein.”

“Die Polen sind doch nett zu uns”, wende ich ein. “Denk nur an Krysia.”

“Einige so wie Krysia sind nett, andere interessieren sich nicht für uns, und wieder andere sind so übel wie die Deutschen. Die meisten von ihnen tun nur das, was zum eigenen Überleben erforderlich ist.”

“Ja, das mag wohl stimmen.” Trotz allem, was ich bislang erlebt habe, kann ich noch immer nicht recht akzeptieren, dass sich Menschen, die ich mein Leben lang kannte, so bereitwillig von uns abgewandt haben.

Wir schlafen irgendwann ein, und als wir spät am Morgen erwachen, lieben wir uns noch einmal, bevor wir aufstehen. Krysia hat eine Notiz hinterlassen, sie und Łukasz seien in der Stadt. Für uns hat sie bereits etwas zu essen hingestellt. “Dann wusste Krysia, dass du herkommst?”, frage ich, als ich Brot, Obst und Käse auf zwei Teller verteile.

Er sucht im Küchenschrank nach Gläsern und füllt sie mit Wasser. “Sie wusste, dass die Chance besteht.”

Gemeinsam bringen wir alles in den Salon und lassen uns auf dem Boden vor dem Kamin nieder. “Wie viel Zeit hast du?”, frage ich, schneide eine Scheibe Apfel ab und füttere ihn damit.

“Sobald die Sonne untergeht, muss ich mich auf den Weg machen”, erwidert er zwischen zwei Bissen. Stumm verfluche ich, dass die Tage so kurz sind und es bereits am späten Nachmittag wieder dunkel wird.

Schweigend frühstücken wir, während mir all die Fragen durch den Kopf gehen, die ich ihm stellen möchte. “Jakub”, sage ich schließlich zaghaft und lege das Messer beiseite. “Wie kommt es, dass du hier bist?”

Er hört auf zu kauen und sieht mich an. “Wie meinst du das?”

Nachdem ich einen Schluck Wasser getrunken habe, entgegne ich: “Ich meine, über ein Jahr lang war es zu gefährlich, mich zu besuchen. Weder ins Ghetto noch hierher konntest du kommen. Wieso geht es jetzt?”

“Ich war die meiste Zeit unterwegs”, erklärt er. “Erst seit Kurzem bin ich wieder in Kraków.”

“Dann warst du das wirklich, nicht wahr? Ich meine den Abend vor ein paar Wochen, in der ulica Starowislna … der Bernstein … das warst tatsächlich du?”

Er nickt. “Ich war bis kurz vor deiner Ankunft zusammen mit Marek in diesem Schuppen. Da Avi dort war, wollte ich mich nicht zeigen. Aber als du weggingst, folgte ich dir, um Gewissheit zu haben, dass es dir gut geht.”

“Und als du den Wagen der Gestapo sahst, da hast du mich zu Boden geworfen, damit ich nicht erwischt werde?” Wieder nickt er. “Dafür bin ich dir sehr dankbar. Doch selbst da hast du mir nur den Stein zugesteckt, anstatt dich mir zu zeigen.”

“Es war zu gefährlich.”

“Aber jetzt bist du hier”, hake ich nach. “Darum frage ich dich, was sich geändert hat.”

“Nichts. Es ist nach wie vor gefährlich. Aber ich bin hergekommen, weil …” Er weicht meinem Blick aus. “Es kann sich bald einiges ändern …”

“Wie meinst du das?”, frage ich, liefere jedoch mit einem entsetzten “Nein!” selbst die Antwort. Seit ich Marek die Informationen gab, habe ich so ein Gefühl, dass Alek und die anderen einen großen Schlag gegen die Besatzer planen. Wann und wie sie zuschlagen werden, weiß ich nicht, doch mein Instinkt sagt mir, es wird passieren. Deshalb also ist Jakub hergekommen. Was auch geplant wird, er ist besorgt, dass er mich vielleicht nie mehr wiedersieht. “Nein!”, rufe ich abermals, schiebe meinen Teller weg und klammere mich fest an meinen Mann.

“Schhht”, beschwichtigt er, während er mich an sich drückt und mir übers Haar streicht. Erst nach einigen Minuten verstummt mein Schluchzen. “Emma …” Er setzt mich auf, dreht mich auf seinem Schoß um und wiegt mich wie ein kleines Kind. “Heute Abend beginnt Chanukka. Erinnerst du dich an die Geschichte der Makkabäer?” Ich nicke stumm. “Wofür stehen die vier Buchstaben auf dem Dreidl?”

“Nes gadol haya sham”, zitiere ich auf Hebräisch.

“Richtig. Und was bedeutet das?”

“Ein großes Wunder ist hier geschehen.”

“Ganz genau. Ein großes Wunder ereignete sich in Israel, als die Makkabäer den Tempel wiederherstellten und der winzige Tropfen Öl acht Nächte lang brannte. Ein großes Wunder. Es ist die Jahreszeit für Wunder, und hier wird auch eines geschehen. Es muss geschehen.” Ich sehe ihn an. Seine Augen leuchten, als würde hinter ihnen ein Feuer lodern. Das ist der Ausdruck, in den ich mich verliebt habe, als wir uns das erste Mal begegneten, nur dass dieses Feuer jetzt tausendmal stärker brennt. Zum ersten Mal verstehe ich, wie fest Jakub, Alek und die anderen davon überzeugt sind, dass es der einzige Weg ist, unser Land von den Deutschen zu befreien. Der Widerstandskampf hat aus ihm einen Krieger gemacht.

“Du bist so mutig”, sage ich und wische mir über die Augen.

“Wir sind Makkabäer, Emma. Du, ich, Alek, Marta und die anderen.” Ich will protestieren, da es mir peinlich ist, mit den Übrigen in einem Atemzug genannt zu werden, doch er redet weiter. “Ja, du bist ebenfalls mutig. Ich weiß alles darüber, wie du der Bewegung durch deine Arbeit für Richwalder geholfen hast.” Innerlich zucke ich zusammen. Ich kann nur hoffen, dass er eben nicht alles weiß. “Und wie du das Kind des Rabbis gerettet und versteckt hast. Du bist auch eine Kämpferin.”

“Krysia ebenfalls”, wende ich ein.

“Ganz besonders Krysia.” Wie auf ein Stichwort hin wird die Haustür aufgeschlossen, und ich höre, wie Łukasz auf Krysia einredet. Seinen Worten entnehme ich, dass sie trotz der Kälte noch einen Ausflug zum Ententeich gemacht haben. Jakub lässt mich los, wir stehen beide auf.

Als Krysia das Zimmer betritt, bleibt sie wie angewurzelt stehen. Bei Jakubs Anblick kommen ihr die Tränen. Sie sieht zu Łukasz, zögert kurz und erklärt dann: “Łukasz, das ist mein Cousin Michal.” Der Junge, dessen Wangen von der Kälte gerötet sind, sieht Jakub mit großen Augen an, als der zu Krysia geht und sie dreimal küsst. Sowohl Krysia als auch Jakub müssen sich zusammenreißen, um vor dem Kind nicht die Kontrolle über ihre Gefühle zu verlieren.

“Hallo, Łukasz.” Jakub kniet sich hin und streicht dem Kleinen spielerisch übers Haar, doch in seinen Augen erkenne ich Ehrfurcht. Er weiß, wer der Junge ist und wie er zu uns gelangte.

“Du wusstest Bescheid?”, frage ich Krysia.

Sie nickt. “Ich wollte nicht, dass du enttäuscht bist, falls es nicht klappt.”

“Ich verstehe.” Mein Blick wandert zu Jakub, der mit Łukasz redet – auf Hebräisch. Plötzlich erinnere ich mich daran, wie Łukasz in der Gegenwart des Kommandanten hebräisch zu sprechen versuchte. “Nicht!”, rufe ich, woraufhin mich alle drei erstaunt ansehen. Ich selbst wundere mich auch über meinen scharfen Tonfall. “Es tut mir leid, Jak… Michal”, stammele ich und kann mich noch eben berichtigen. “Es ist nur so, dass …” Ich gerate ins Stocken, da ich Jakub nicht von meiner Sorge erzählen kann, ohne dabei zugeben zu müssen, dass der Kommandant hier war. Auf einmal fühle ich mich unendlich müde. Das alles ist zu viel für mich. Über Monate hinweg muss ich jetzt schon darauf achten, dass der Kommandant meine wahre Identität nicht erfährt, gleichzeitig habe ich so lange Zeit auf Jakub verzichtet. Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass ich auch meinen Ehemann würde belügen müssen, sobald es zu einem Wiedersehen kommt.

Jakub richtet sich auf und kommt zu mir. “Ist schon gut”, sagt er, legt eine Hand in meinen Nacken und zieht mich an sich. “Ich verstehe das.” Vor dem Jungen sollten wir besser nicht so viel Zuneigung füreinander zeigen, doch in diesem Augenblick ist es mir egal. In Jakubs Armen liegend verspüre ich mit einem Mal den Wunsch, ihm alles über den Kommandanten zu erzählen. Er würde es verstehen. Krysia sagte einmal, Jakub würde mir verzeihen. Aus dem Augenwinkel bemerke ich ihren eindringlichen Blick, mit dem sie mich zu warnen versucht, es ihm nicht zu sagen. Sie weiß genau, was in meinem Kopf vor sich geht. Behalt es für dich, fleht sie mich stumm an. Erdrück ihn nicht mit dem Wissen deiner Untreue, nur um dich selbst von dieser Last zu befreien. Nicht jetzt, wenn er in die Dunkelheit und Kälte zurückkehren muss.

Natürlich hat sie recht. Irgendwann später wird vielleicht eine Zeit für Geständnisse und Vergebung kommen, aber heute ist das noch nicht der Fall. Ich straffe meine Schultern und löse mich von Jakub. “Łukasz, komm. Du bist ganz schmutzig vom Herumlaufen im Wald”, sage ich. “Wir werden dich erst mal waschen.” Widerstrebend lässt sich Łukasz von dem Fremden wegziehen. Ich hasse es, Jakub während seines kurzen Besuchs auch nur für ein paar Sekunden aus den Augen zu lassen, doch Krysia und er sind länger verwandt, als ich mit ihm verheiratet bin. Ich weiß, sie beide wollen sich ungestört unterhalten, und ich möchte Krysia die Gelegenheit dazu geben. Jakub zwinkert mir zu, während ich mit Łukasz hinausgehe.

Als wir die Treppe hinaufgehen, überschlagen sich meine Gedanken. Jakub ist hier, und so ganz kann ich das noch immer nicht fassen – genauso wenig wie die Tatsache, dass er bald schon wieder fort sein wird. Unten kann ich die beiden leise reden hören. Krysia hat eine gewisse Ahnung von dem, was die Bewegung plant, und ihrem angespannten Tonfall nach zu urteilen, ist sie dagegen. Ich versuche, ein paar Fetzen aufzuschnappen, da ich zu besorgt bin, als dass es mir etwas ausmachen würde, sie zu belauschen. Doch so sehr ich meine Ohren auch anstrenge, kann ich doch nicht viel verstehen.

Nachdem ich Łukasz ins Bett gelegt habe, damit er ein wenig schläft, kehre ich in den Salon zurück. Krysia und Jakub verstummen mitten im Satz, als ich hereinkomme. Ich frage mich, was wohl so schrecklich und streng geheim ist, dass ich es nicht hören darf. Auch ich bin große Risiken eingegangen, um der Bewegung zu helfen, dennoch fühle ich mich manchmal wie ein Außenseiter.

Meine Verärgerung nimmt ein jähes Ende, als ich aus dem Fenster schaue. Es ist erst halb vier, doch es beginnt bereits zu dämmern. Krysia folgt meinem Blick und versteht. “Ich glaube, ich werde mich auch ein wenig frisch machen”, sagt sie abrupt. “Ich habe dir einen Korb gepackt, Jakub. Essen und warme Kleidung. Er steht auf dem Tisch in der Küche.” Da Łukasz nicht mit im Zimmer ist, gibt es keinen Grund, bestimmte Themen zu meiden. Sie umarmt ihren Neffen. “Viel Glück, mein Schatz. Möge Gott dich begleiten.” Während sie sich abwendet und das Zimmer verlässt, sehe ich, dass auf Jakubs Wangen ihre Tränen schimmern.

Wir beide stehen mitten im Salon und fühlen uns so unbeholfen wie bei unserer ersten Begegnung. “Dass du hier bist, ist wundervoll für sie”, sagt er.

“Das höre ich gern. Ich war schon besorgt, wir könnten eine zu große Belastung sein.”

“Überhaupt nicht.” Wir stehen da und sehen uns schweigend an. Ein paar Mal muss ich zwinkern, weil ich nicht vor ihm in Tränen ausbrechen will. Er legt beide Arme um mich und drückt sein Kinn auf meinen Kopf. “Ich komme zu dir zurück, Emma. Ganz gleich, was auch geschieht, wir werden bald wieder zusammen sein.”

“Ich bin immer bei dir”, erwidere ich, woraufhin er nickt und mich innig küsst. Als sich unsere Lippen lösen, kneife ich weiter die Augen zu und versuche, diesen Moment für die Ewigkeit festzuhalten. Als ich meine Augen wieder öffne, starre ich ins Leere. Ich höre seine schweren Schritte, dann wird die Haustür geöffnet und leise zugezogen. Schnell laufe ich ans Fenster und suche die Straße nach ihm ab, doch er ist nirgends zu sehen.

Ich kehre an die Stelle zurück, an der wir uns zuletzt in den Armen lagen, und hoffe, noch etwas von seinem Duft wahrzunehmen, doch die Luft um mich herum ist kalt geworden. Ein paar Stunden lang war ich noch einmal Emma, aber nun ist Jakub gegangen, und ich bin nur wieder Anna, die Freundin des Kommandanten.

Minuten später kommt Krysia die Treppe herunter. “Ist er weg?”, fragt sie, als sie vor mir steht.

Ehe ich antworten kann, wird an die Tür geklopft. “Jakub!”, rufe ich aus und laufe los. Vielleicht hat er etwas vergessen. Oder er hat sich überlegt, die Nacht doch hier zu verbringen.

“Emma, warte!”, ruft Krysia mir nach. “Jakub würde nicht …”

Doch es ist bereits zu spät. Ich reiße die Tür auf. “Ich dachte, du …” Dann verstumme ich mitten im Satz. Vor mir stehen zwei Offiziere der Gestapo.