13. KAPITEL
Als ich am nächsten Morgen zur Wawelburg hinaufgehe, fühle ich mich von meiner Mission gänzlich erfüllt. Es kommt auf jede Sekunde an, hat Alek gesagt. Also gibt es keinen Grund, den Kommandanten noch länger auf Abstand zu halten. Am besten lässt sich mein Vorhaben mit einem Pflaster vergleichen, das besonders fest auf der Haut klebt: Es ist besser, es mit einem einzigen Ruck abzureißen, anstatt es langsam und Stück für Stück zu versuchen. Die Frage ist nur, wie ich das anstellen soll.
An meinem Schreibtisch angekommen, sehe ich mir den Terminplan des Kommandanten an. Den ganzen Tag über sind Besprechungen am Außenring vorgesehen. Bei Außenterminen am Nachmittag kehrt der Kommandant anschließend meistens nicht mehr ins Büro zurück, sondern fährt direkt nach Hause und lässt sich die Arbeit in seine Wohnung schicken. Als ich später an diesem Vormittag durch den Empfangsbereich gehe, höre ich Oberst Diedrichsen zu Malgorzata sagen, dass ein Bote nach Feierabend verschiedene Akten zum Kommandanten bringen soll.
“Herr Oberst, ich kann die Akten auf dem Heimweg mitnehmen und bei ihm abgeben”, mische ich mich ein. Diedrichsen sieht mich erstaunt an. “Es gibt einige Dinge, die der Kommandant heute Morgen mit mir durchsprechen wollte, aber wir hatten wegen seiner Termine keine Gelegenheit dazu”, rede ich freundlich lächelnd weiter. “Dinge, um die er sich persönlich kümmern muss.”
“Ich weiß nicht …”, meint Diedrichsen zögerlich. Er ist ein typischer Deutscher, der sofort verwirrt reagiert, wenn etwas nicht genau nach Vorschrift läuft.
“Ich bin sowieso in seine Richtung unterwegs, weil ich noch Besorgungen machen muss”, beharre ich, kann den Mann aber noch immer nicht recht überzeugen.
In diesem Moment klingelt Malgorzatas Telefon. “Jawohl?”, meldet sie sich, dann sieht sie hoch. “Es ist für Sie, Herr Oberst.”
Er nimmt den Hörer an, sieht zu mir und zuckt mit den Schultern. “Meinetwegen. Es ist ein schwerer Stapel Akten. Sorgen Sie dafür, dass Stanislaw Sie hinfährt.”
Ich atme erleichtert auf, aber mein Magen verkrampft sich erneut. Immerhin habe ich mich soeben verpflichtet, den Kommandanten in seiner Wohnung aufzusuchen. Damit hat die schwierigste Aufgabe meines Lebens begonnen.
Um fünf Uhr am Nachmittag verlasse ich mein Büro mit den Akten für den Kommandanten. Stanislaw fährt mich zu seinem Wohnhaus und lässt mich vor der Haustür aussteigen. Vorsichtig gehe ich die Treppe hinauf, da ich vermeiden will, dass mir eine Akte hinunterfällt. Vor der Wohnungstür angekommen, zögere ich. Ich kann das nicht! Ich fühle, wie Panik in mir aufsteigt. Ich werde die Akten vor die Tür legen und gehen, überlege ich und platziere den Stapel auf der Fußmatte, dann wende ich mich ab. Bei meinem ersten Schritt knarrt ein Dielenbrett so laut, dass der Kommandant in seiner Wohnung darauf aufmerksam werden muss. “Hallo?”, ruft es von drinnen. Fast bleibt mein Herz stehen, als ich höre, wie sich seine schweren Schritte der Tür nähern. Jetzt ist es zu spät, um noch wegzulaufen. Laut seufzend bücke ich mich und hebe die Akten auf. Als ich mich aufrichte, öffnet er die Tür. “Anna!”, sagt der Kommandant erstaunt und sieht mich mit großen Augen an.
“Der Bote hatte schon Feierabend”, behaupte ich, da ich weiß, dass er zu überrascht ist, um an meiner Geschichte zu zweifeln. “Oberst Diedrichsen erwähnte, Sie bräuchten die hier.” Ich hebe die Akten leicht an, um ihn auf sie aufmerksam zu machen.
“Kommen Sie doch erst mal herein”, fordert er mich auf und macht einen unsicheren Schritt zur Seite. Er hat seine Jacke ausgezogen, die Ärmel sind hochgekrempelt, und das Hemd ist so weit aufgeknöpft, dass ich ein paar graue Haare auf seiner Brust erkennen kann. So zwanglos gekleidet habe ich ihn noch nie gesehen. Ich lege die Akten auf den Tisch, auf den er zeigt, und verharre dann ein wenig hilflos mitten in dem nur schwach beleuchteten Zimmer. Der Reisekoffer des Kommandanten steht in einer Ecke auf dem Fußboden, er ist geöffnet, aber seit der Rückkehr aus Berlin noch nicht ausgepackt worden. Im Zimmer ist es viel zu warm, die Luft ist schwer vom Geruch nach Weinbrand und Schweiß.
“Willkommen”, erklärt er und macht eine ausholende Geste mit der Hand, in der er ein Glas hält. Die bräunliche Flüssigkeit schwappt bedenklich hin und her. Mir wird klar, dass er wieder getrunken hat. So habe ich ihn bislang nur kurz vor seiner Abreise nach Berlin erlebt, und besorgt frage ich mich, was ihn diesmal aus der Fassung gebracht hat. “Kommen Sie, setzen Sie sich.” Gegen meinen Willen gehe ich zum Sofa und nehme auf der äußersten Kante Platz. “Möchten Sie etwas trinken?”, fragt er.
Mein Magen dreht sich um, und ich muss mich zwingen, nicht aufzuspringen und aus der Wohnung zu rennen. “Ja, bitte.” Vielleicht bekomme ich ihn so dazu, noch mehr zu trinken, bis er einschläft. Dann könnte ich mich in aller Ruhe umsehen, ohne ihm überhaupt näherkommen zu müssen. “Vielen Dank”, sage ich, als er mir ein Glas hinhält. Ich nippe daran und muss fast husten, so sehr brennt der Alkohol in meinem Hals.
Der Kommandant trinkt sein Glas in einem Zug leer, geht zum Fenster und zieht die schweren Vorhänge auf. Auf der Scheibe liegt ein grauer Schmutzfilm. “Fehlt Ihnen das Meer, Anna?”
Ich stutze, da mich seine Frage völlig unvorbereitet trifft. “Ich habe noch nie …” Mitten im Satz halte ich inne. Fast hätte ich gesagt, dass ich noch nie das Meer gesehen habe. Aber Anna kommt aus Gdańsk, und das ist eine Hafenstadt. Für einen Moment habe ich nicht daran gedacht, welche Rolle ich spiele.
“Noch nie was?”, will er wissen.
“Noch nie einen so trockenen Spätsommer erlebt”, improvisiere ich, während ich versuche, die Ruhe zu bewahren.
“Mmhm”, murmelt der Kommandant und nickt zustimmend. Er ist zu betrunken, um zu merken, dass meine Erwiderung nicht zu seiner Frage passt. “An der Küste ist das Wetter viel milder”, fügt er noch hinzu. Plötzlich habe ich das Gefühl, mich auf Messers Schneide zu bewegen. Ein einziger falscher Schritt und mein Leben ist verwirkt.
Ich nehme noch einen kleinen Schluck und genieße nun das wohlige Gefühl, das der Weinbrand in meinem Magen auslöst. Der Kommandant schaut wieder aus dem Fenster. Was soll ich jetzt tun? Wie soll ich mich diesem Mann nähern? Ich weiß nicht, wie man mit einem Mann schäkert, erst recht nicht, wie man ihn verführt. Als ich Jakub kennenlernte, war das anders. Wir waren beide jung, und er … Halt!, ermahne ich mich. Wenn ich jetzt zulasse, dass ich an meinen Ehemann denke, werde ich erst recht nicht in der Lage sein, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Doch es ist bereits zu spät, im Geiste sehe ich Jakubs Gesicht.
“Nun, es ist schon spät”, erkläre ich unsicher und stehe auf. “Ich sollte mich auf den Heimweg machen.” Wieder zögere ich, denn auf der einen Seite möchte ich mich so schnell wie möglich in Krysias Haus flüchten, auf der anderen Seite hoffe ich, der Kommandant wird mich zurückhalten. “Nochmals danke für den Weinbrand”, sage ich, während er mir zur Tür folgt.
“Anna.” Plötzlich überholt er mich und versperrt mir den Weg. Als er seine Hand ausstreckt, muss ich mich zusammenreißen, um nicht vor ihm zurückzuschrecken. Er berührt meine Schläfe und streicht eine Haarsträhne zurück. Dabei berühren seine Finger leicht meine Wange. “Gute Nacht”, flüstert er, ohne mir den Weg zur Tür freizugeben.
“Gute Nacht”, erwidere ich und wende mich von ihm ab. Meine Wangen glühen. Ich greife um ihn herum und bekomme den kühlen Messingtürgriff zu fassen. Es gelingt mir, die Tür weit genug zu öffnen, um mich durch den Spalt nach draußen zu zwängen.
“Anna”, ruft er, während er mir nach draußen folgt. Das Blut rauscht so sehr in meinen Ohren, dass ich ihn kaum hören kann. Ich zögere und tue dann etwas, worüber ich mich den Rest meines Lebens wundern werde: Ich drehe mich zu ihm um. Im nächsten Moment drückt der Kommandant seine Lippen auf meinen Mund und reißt mich an sich.
Mir fehlt die Erinnerung daran, wie ich zurück in seine Wohnung gelangte oder wann ich meinen Mantel auszog. Mein Gedächtnis scheint sich genauso abgeschaltet zu haben wie mein Verstand. Allein mein Geschmacks-, Geruchs- und Tastsinn arbeiten noch, ich schmecke das salzige Aroma seiner Haut auf meiner Zunge, ich spüre seine Bartstoppeln an meiner Wange. Mir fällt ein, dass ich die Rolle vergessen habe, die ich spiele. Anna sollte eine Jungfrau sein, ruft mir eine Stimme irgendwo tief aus meinem Inneren zu. Anna sollte schüchtern und zurückhaltend sein. Stattdessen stammen die Laute, die über meine Lippen kommen, von einer Frau, die das Verlangen kennt. Gleiches gilt für die Art, wie ich mich an ihn klammere. Aber diese Frau ist ganz sicher auch nicht Emma, denn als mich der Kommandant hochhebt und mich in sein Schlafzimmer trägt, da bin ich nur noch halb bekleidet, und ich erwidere seine Küsse auf eine Weise, die meinen Vorsatz Lügen straft, das alles lediglich zu spielen. Später werde ich mir einreden, meine Begierde sei nur Teil meiner Rolle, meiner Mission gewesen, um diesem Mann näherzukommen. Doch in dem Augenblick, da er mich auf sein Bett legt, meinen Rock hochschiebt und mich unter sich begräbt, da verliere ich mich in seinen Armen und gebe mich dem sehnsüchtigen, verzweifelten Liebesspiel hin.
Stunden später liege ich zitternd auf dem schweißnassen Bettlaken. Meine Arme und Beine schmerzen, und ich weiß, ich werde wohl einige blaue Flecken davontragen, so wie er auch. Der Kommandant liegt leise schnarchend neben mir, einen Arm über seinem Kopf, den anderen quer über meinem Bauch ausgestreckt. Zuvor, als sein Atem nicht mehr ganz so schwer ging und er wieder sprechen konnte, da hatte er sich bei mir entschuldigt. “Es tut mir leid”, hatte er geflüstert und über mein Gesicht gestrichen. Ich wusste, er meinte seine raue Art. Da er es für mein erstes Mal hielt, hätte es sanft und romantisch sein sollen. Ich presste bei seinen Worten die Lippen aufeinander und hoffte, er würde es als ein Lächeln deuten. Ich konnte nur nicken, weil ich mich vor dem fürchtete, was mir womöglich herausrutschen würde, sollte ich den Mund aufmachen. Er lächelte leicht auf mich hinab und schlief wenig später ein.
Jetzt liege ich wach neben ihm, und allmählich beginne ich zu verstehen, was hier passiert ist. Ich habe mit einem anderen Mann geschlafen. Mit einem Nazi. Ich wollte ja gehen, sage ich mir, doch noch während ich das denke, erkenne ich, dass mein Handeln nur Teil des Spiels war, ihn zu verführen. Ich habe Jakub mit voller Absicht betrogen. Nicht hier! Denk nicht hier darüber nach! Doch die Warnung kommt zu spät. Panik regt sich in mir, und ich halte es nicht länger aus, neben diesem fremden Mann zu liegen. Darauf bedacht, den Kommandanten nicht zu wecken, entziehe ich mich seinem schweren Arm, kleide mich an und verlasse die Wohnung.
An der Haustür angelangt, zögere ich kurz, da ich fürchte, Stanislaw könnte noch immer mit dem Wagen auf mich warten. Ich würde es nicht ertragen, jetzt irgendjemandem gegenüberzutreten. Aber natürlich ist Stanislaw nicht mehr da. Stunden sind vergangen, seit er mich abgesetzt hat, und am Stand des Mondes kann ich erkennen, dass es fast Mitternacht ist. Die Straßen sind menschenleer, da die Einwohner zu große Angst davor haben, während der Ausgangssperre erwischt zu werden. Normalerweise wäre das auch für mich ein Grund zur Sorge, doch ich bin zu sehr damit beschäftigt, diesen Ort hier hinter mir zu lassen. Ich gehe in Richtung der Straße, die mich nach Hause führen wird.
Meine Gedanken überschlagen sich. Ich hätte nie erwartet, dass es so schnell passieren würde. Ich hatte mit vielen Tagen oder gar Wochen Vorbereitung gerechnet, aber es dauerte nur ein paar Momente, und schon gab es kein Zurück mehr … Hör auf!, ermahne ich mich einmal mehr. Denk nicht darüber nach. Ich gehe etwas schneller und atme tief und gleichmäßig durch. Du hast es getan. Das Schlimmste liegt hinter dir, und du hast es überlebt. Plötzlich überkommen mich eine sonderbare Ruhe und Gelassenheit.
Ich sehe den Kommandanten vor mir, wie er mich auf die Matratze drückt. Als würde ich einen Film betrachten, nehme ich wahr, wie ich meine Arme um ihn lege und mich dem Rhythmus seiner Bewegungen anpasse. Ich bleibe stehen, da die Erinnerung mir Übelkeit bereitet. Hinter einem großen Busch am Straßenrand beuge ich mich vornüber und dämpfe die unvermeidlichen Würgegeräusche so weit wie möglich, während mein Magen den vorwiegend aus Weinbrand bestehenden Inhalt erbricht. Ich weiß nur zu gut, dass es nicht ratsam ist, Aufmerksamkeit zu erregen, auch nicht mitten in der Nacht auf einer einsamen Straße.
Als sich mein Magen beruhigt hat, richte ich mich auf, wische meinen Mund ab und atme tief durch. Nirgendwo ist ein Mensch zu sehen, nur eine Ratte steckt den Kopf aus einem Gully und scheint mich verächtlich anzusehen. Ich hatte es tun müssen, erkläre ich stumm. Ich musste es danach aussehen lassen, dass ich ihn wirklich mag und den Augenblick genieße. Die Ratte läuft davon. Ich seufze, streiche mein Haar glatt und mache mich auf den langen Weg nach Hause.
Nach vielleicht einem Kilometer bleibe ich erneut stehen. Die Dokumente!, geht es mir durch den Kopf. Ich habe die Wohnung des Kommandanten so hastig verlassen, dass mir entfallen ist, nach den Dokumenten zu suchen, die Alek benötigt. Keine Sorge, meldet sich abermals meine innere Stimme. Es wäre nicht ratsam gewesen, gleich beim ersten Mal seine Wohnung auf den Kopf zu stellen. Erst einmal muss ich seine Schlafgewohnheiten beobachten, damit ich mir sicher sein kann, dass er nicht plötzlich aufwacht. Beim ersten Mal … Mir schaudert. Es wird weitere Male geben. Schon wieder verkrampft sich mein Magen.
Ich benötige Stunden, bis ich Krysias Haus erreiche. Als ich dort ankomme, ist alles dunkel. Krysia und Łukasz schlafen tief und fest. Ob sie sich meinetwegen Sorgen gemacht haben, als ich nach Feierabend nicht nach Hause kam? Zwar habe ich am Morgen erwähnt, dass ich womöglich länger arbeiten würde, aber bis jetzt habe ich Krysia noch nichts von meiner “Mission” erzählt. Möglicherweise hat sie aber auf anderen Wegen davon erfahren. Sie scheint einiges mehr über die Bewegung zu wissen, als sie zugibt. Jedenfalls bin ich froh, dass sie schläft. Im Augenblick könnte ich mich ihren Fragen nicht stellen.
In meinem Zimmer angekommen, lasse ich mich erschöpft aufs Bett sinken. Alles tut mir weh, und ich möchte mir am liebsten den Schmutz und die Schmach vom Körper waschen. Stattdessen lege ich mich hin und ziehe die Decke über mich. Obwohl ich todmüde bin, kann ich nicht einschlafen, weil ich unablässig mit Schrecken an den Moment denken muss, da ich dem Kommandanten im Büro begegne. Ich werde ihm in die Augen sehen müssen, und beide werden wir wissen, was zwischen uns geschehen ist. Dabei muss ich den Eindruck erwecken, als wolle ich, dass es wieder geschieht. Vielleicht … ich versuche mir den Terminkalender auf meinem Schreibtisch vorzustellen. Morgen ist der 12. August. Mir fällt ein, dass der Kommandant den ganzen Tag am Außenring verbringt. Also werde ich ihn gar nicht zu Gesicht bekommen. Unendliche Erleichterung erfasst mich.
Doch dann halte ich mitten in meiner Freude inne. Der 12. August ist unser Hochzeitstag! Wie konnte ich das nur vergessen? Morgen ist es genau drei Jahre her, dass wir uns im Salon von Jakubs Eltern das Jawort gaben. Nach der Zeremonie und einem bescheidenen Mittagessen waren wir mit dem Zug nach Zakopane gereist, einer Kleinstadt sechzig Kilometer südlich von Kraków, eingebettet in die Berge der Hohen Tatra an der Grenze zwischen Polen und der Tschechoslowakei. Dort verbrachten wir unsere Flitterwochen, indem wir drei Tage in einem kleinen Gasthaus am Fuß der Berge blieben. Wir unternahmen lange Spaziergänge durch die Natur und durch die kleine, gemütliche Stadt. Ich hatte Jakub einen Pullover gekauft, den eine Bäuerin gestrickt hatte. Von ihm bekam ich eine Bernsteinkette.
Ich erinnere mich jetzt wieder, wie wir in diesen ersten gemeinsamen Nächten im Bett lagen. Ich wusste nur wenig über die Liebe, und Jakubs sanfte, wissende Berührungen ließen mich überlegen, ob er vor mir schon andere Frauen gehabt hatte. Er ging mit meiner Unerfahrenheit zärtlich und geduldig um, und er zeigte mir nie gekannte Freuden, die meine Wangen zum Glühen brachten.
Am letzten Tag unserer Flitterwochen fuhren wir mit der Seilbahn auf einen der Gipfel. Beim Blick über die Grenze in die Tschechoslowakei konnte ich nur staunen, da ich solch gewaltige Landschaftsbilder bis dahin nur von Gemälden kannte. Jakub drückte meine Hand und versprach mir: “Im Winter kommen wir wieder her, und dann bringe ich dir das Skifahren bei.”
Mir kommt das alles vor, als wäre es in einem anderen Leben gewesen. Ich frage mich, was wir an unserem Hochzeitstag unternommen hätten, wäre Jakub noch bei mir. Vielleicht eine erneute Reise nach Zakopane? Oder nur ein Picknick unten am Fluss? Ich seufze laut. Ich bin jetzt schon fast so viele Tage von ihm getrennt, wie ich sie an seiner Seite verbracht habe. Immer noch liebe ich ihn so sehr wie bei unserer Hochzeit, aber manchmal fällt es mir schwer, sein Gesicht klar und deutlich vor mir zu sehen. Und nun habe ich auch noch unsere Ehe verraten und mit einem anderen Mann geschlafen. Tränen laufen mir über die Wangen, als ich darüber nachdenke. Ich versuche mir zu sagen, dass ich es für Jakub tat – für ihn und für die Sache, an die er glaubt. Aber dieser Gedanke kann mich nicht trösten. Ich drehe mich auf die Seite und weine mich in den Schlaf.
Am nächsten Morgen stehe ich früh auf und mache mich auf den Weg zur Arbeit. Für Krysia lege ich einen Zettel hin, damit sie sich keine Sorgen um mich macht. Noch kann ich ihr nach dem gestrigen Abend nicht gegenübertreten. Während ich zur Haltestelle gehe, muss ich an den Kommandanten denken. In der Nacht hätte ich mir nicht vorstellen können, ihm noch einmal unter die Augen zu treten. Doch im Licht des neuen Tages weiß ich, mir bleibt gar keine andere Wahl. Ich hoffe, vor Malgorzata im Büro zu sein, damit ich nicht an ihr vorbei muss. Ganz bestimmt würde sie mir ansehen, wie sehr ich mich schäme. Zum Glück funktioniert mein Plan, und das Büro ist noch leer. Ein Blick auf den Terminkalender bestätigt meine Erinnerung, dass der Kommandant den ganzen Tag über nicht im Haus sein wird. Zwar bin ich viel zu erschöpft, um meine Arbeit zu bewältigen, doch zumindest bleibe ich bis zum Feierabend in meinem Vorzimmer völlig unbehelligt.
Als ich am Abend zu Krysia heimkomme, ist es im Garten auffallend ruhig. Normalerweise spielt sie um diese Zeit dort mit Łukasz, während sie auf meine Rückkehr wartet. Einen Moment lang überlege ich, ob das wohl die Revanche dafür ist, dass ich gestern Abend so spät zurückkam und mich heute Morgen in aller Frühe aus dem Haus geschlichen habe.
Ich öffne die Haustür. “Hallo?” Keine Antwort. Irgendetwas muss passiert sein, überlege ich und stürme die Treppe nach oben. Dort stoße ich auf Krysia, die den in eine Decke gewickelten Łukasz in den Armen hält und aufgewühlt im Zimmer auf und ab geht. “Er ist krank”, erklärt sie und sieht mich mit großen Augen an.
“Komm, ich nehme ihn.” Doch Krysia weicht zurück, als ich mich ihr nähere.
“Wir können es uns nicht leisten, dass du auch noch krank wirst und nicht ins Büro gehen kannst”, erwidert sie kühl.
“Krysia, bitte”, beharre ich und nehme das Kind an mich. Łukasz’ Gesicht ist blass, seine halb geschlossenen Augen haben einen glasigen Glanz. Die Stirn ist glühend heiß, schweißnasse Locken kleben auf seiner Haut. Doch was mich am meisten beunruhigt, ist sein Schluchzen. Normalerweise ist der Junge ruhig und genügsam, aber jetzt jammert er kläglich, und an seinen geröteten Augen erkenne ich, dass er den ganzen Tag lang geweint hat.
“Er hat sich mehrmals übergeben, und er kann kein Essen bei sich behalten”, erklärt Krysia, während sie hinter mir steht und mir über die Schulter sieht. Mir macht Angst, dass sie so aufgelöst wirkt. Ihr sonst so perfekt frisiertes Haar ist wirr und zerzaust, das Kleid ist mit Flecken übersät. Und zum ersten Mal sehe ich in ihren Augen einen panischen Ausdruck.
“Wie wäre es mit einem kühlen Bad, um das Fieber zu senken?”, schlage ich vor. Sie schüttelt nur ungeduldig den Kopf.
“Das habe ich schon versucht.”
“Na, dann machen wir es eben noch mal.” Ich wickle den Jungen aus der Decke und ziehe ihn aus, obwohl ich selbst nicht so recht weiß, was ich da tue. Krysia begibt sich wortlos ein Stockwerk höher und bereitet das Bad vor.
Als ich Łukasz zur Treppe tragen will, bemerke ich aus dem Augenwinkel etwas leuchtend Rotes. Ich bleibe stehen und sehe, dass es sich um einen Strauß Rosen handelt, der mitten auf dem Tisch steht. Auch ohne Krysia zu fragen, weiß ich, von wem die Blumen kommen.
“Ich habe es mit allen Hausmitteln versucht”, erklärt sie Minuten später, nachdem ich den Jungen in die Wanne gesetzt habe und etwas Wasser auf seinen Kopf träufele. Er weint jetzt nicht mehr, aber er fühlt sich immer noch so an, als würde er glühen.
“Kinder werden krank, das ist ganz normal”, erwidere ich, ohne von meinen Worten überzeugt zu sein. Seit Łukasz bei uns ist, war er noch nie krank. Unwillkürlich kommt es mir so vor, als sei seine Erkrankung so kurz nach meiner Nacht mit dem Kommandanten kein Zufall. Bestimmt soll ich für meine Sünden bestraft werden.
Das Problem besteht natürlich nicht nur darin, dass der Kleine krank ist – wir können ihn auch nicht zu einem Arzt bringen. Jüdische Jungen sind beschnitten, polnische Jungen dagegen nicht. Ein Doktor, der Łukasz untersucht, wird sofort seine wahre Identität erkennen. Es gibt keinen jüdischen Arzt mehr, an den wir uns wenden können, und wir kennen keinen polnischen Arzt, dem wir vertrauen können. Die Gefahr ist zu groß, dass er uns anschwärzt, weil wir den Jungen bei uns verstecken. Ich empfinde es als große Schande, dass Krysia all ihrer guten Kontakte und ihrer Verbindung zum Widerstand zum Trotz keinen vertrauenswürdigen Mediziner kennt.
Als die Fingerspitzen des Jungen bereits runzlig werden, nehme ich ihn aus der Wanne und wickle ihn in frische Handtücher. Während ich ihn abtrockne, scheint er in einen unruhigen Schlaf zu sinken, wobei die Augen hinter seinen Lidern hin und her tanzen. Ich frage mich, wovon ein Kind in seinem Alter wohl träumt. In einem anderen Leben würde er in seinen Träumen unbeschwerte Erlebnisse verarbeiten können. So aber wird er sicherlich von Albträumen verfolgt, in denen er sieht, wie seine Mutter erschossen und sein Vater verschleppt wird. Wie man ihn versteckt hält und in der Nacht zu fremden Menschen bringt. Ganz gleich, wie sehr Krysia und ich uns bemühen, ihm ein Gefühl von Geborgenheit zu vermitteln, er wird niemals den Schrecken vergessen, den er als Kind mitansehen musste.
Wir ziehen Łukasz einen frischen Schlafanzug an und bringen ihn zurück ins Bett. “Wir sollten abwechselnd aufbleiben und ihn beobachten”, sagt Krysia, ich nicke zustimmend. Allerdings kann sich keiner von uns durchringen, sich schlafen zu legen, und so sitzen wir schließlich beide bei ihm – Krysia in dem kleinen Stuhl neben seinem Kinderbett, ich auf einem Kissen auf dem Boden. Wir beobachten ihn und fühlen alle paar Minuten seine Stirn.
“Die Blumen hat der Kommandant schicken lassen”, flüstert Krysia, als Łukasz zur Ruhe gekommen ist und wieder gleichmäßig atmet.
“Ich weiß”, erwidere ich tonlos.
“Geht es dir gut?”, fragt sie.
Ich zucke nur mit den Schultern, da ich keinen Ton herausbekommen kann.
“Es wird alles gut werden, meine Liebe. Das verspreche ich dir.”
Keiner von uns sagt noch etwas. Als ich ein paar Minuten später zu Krysia hinüberschaue, ist sie auf ihrem Stuhl eingedöst. Ihren Kopf hat sie gegen die Wand gelehnt, der Mund steht ein wenig offen. Sieh an, denke ich. Die Grande Dame von Kraków schnarcht also. Früher hätte mich das überrascht, heute weiß ich, nichts ist so, wie es scheint.
Ich sitze auf dem Kissen und sehe den beiden zu, wie sie schlafen – den beiden Menschen, die für mich zur Familie geworden sind. Erst an diesem Abend dürfte Krysia und mir bewusst geworden sein, was uns dieser Junge bedeutet. Anfangs war es unsere Aufgabe, uns um ihn zu kümmern, weil wir so der Bewegung helfen konnten. Jetzt ist er unser Kind: mein Sohn, den ich eines Tages hoffentlich mit Jakub haben werde, und Krysias Enkel, den sie nie haben wird.
Zum ersten Mal mache ich mir Gedanke darüber, was nach dem Krieg sein wird. Wird der Rabbi wie durch ein Wunder das Lager überleben und sein Kind zurückhaben wollen? Und wenn nicht, wird Łukasz dann bei mir oder bei Krysia bleiben? Eine Antwort darauf zu finden, bedeutet für mich, mir mein Leben nach dem Krieg vorzustellen. In meinen Träumen werde ich wieder mit Jakub und meiner Familie vereint sein. Ich ertrage es nicht, etwas anderes in Erwägung zu ziehen. Ich habe keine Ahnung, wo wir leben werden. Ich glaube kaum, dass wir in Kraków bleiben. Die jüdische Gemeinde wurde zerschlagen, und es könnte nie wieder so sein wie früher. Und wenn ich nach dem urteile, was ich gelegentlich auf der Straße aufschnappe, ist man in Kraków mehr als froh, uns Juden los zu sein. Jakub und ich werden sicher nicht in eine schöne Wohnung im Stadtzentrum ziehen können, und die Universität wird uns auch nicht wieder einstellen.
Würde es uns im Rest der Welt besser ergehen? Ich habe schon früher von den magischen Königreichen gehört: New York, London und sogar Jerusalem. Ich kann mir diese märchenhaften Orte nicht vorstellen, die ich noch nie gesehen habe. All diese Gedanken sind so überwältigend, dass ich selbst einzudösen beginne.
Im ersten Licht des neuen Tages wache ich auf, alle Knochen tun mir weh, weil ich die Nacht auf dem Fußboden verbracht habe. Krysia schläft noch immer auf ihrem Stuhl. Ich stehe auf und lege ihr eine kleine Decke um die Schultern. Als ich in das Kinderbett sehe, bemerke ich, dass Łukasz wach ist. Er weint nicht, sondern hält seine Füße umklammert und plappert leise vor sich hin.
“Łukaszku”, sage ich leise und strecke eine Hand nach ihm aus, woraufhin er mir die Arme entgegenreckt, als wäre es ein Morgen wie jeder andere. Als ich ihn hochnehme, legt er die Arme um meinen Hals, während ich meine Lippen sanft auf seine Stirn drücke. Sie fühlt sich wieder kühl an.
“Danke”, flüstere ich ihm zu. Tränen steigen mir in die Augen. Wie es scheint, will Gott mich zumindest nicht auf diese Weise bestrafen. “Danke.”
Łukasz sieht mich an und lächelt. Ich bin mir nicht sicher, aber es könnte sein erstes richtiges Lächeln sein, seit er zu uns gekommen ist. “Na”, ruft er. “Na.”
“Anna?”, frage ich und betone die zweite Silbe.
“Na”, wiederholt er und greift nach meiner Nase. Nun muss ich lächeln. Er versucht meinen Namen auszusprechen. Dass es eigentlich nicht mein Name ist, soll mich nicht kümmern. Łukasz ist wieder gesund, und er wirkt glücklicher als je zuvor. Der Schrecken der letzten Nacht hat mir vor Augen geführt, wie leicht uns in dieser Welt auch das Wenige, was wir haben, von einem Moment zum nächsten weggenommen werden kann. Weil ich Krysia nicht aufwecken will, schleiche ich mit dem Jungen auf dem Arm nach unten, um das Frühstück vorzubereiten.