3. KAPITEL
Vom Fuß der Brücke aus ging ich ein paar hundert Meter an der Umgrenzungsmauer des Ghettos entlang. Die Oberkante dieser Mauer hatte die Form großer Bögen, jeweils fast einen Meter breit. Ihr Aussehen erinnerte mich an Grabsteine, und beim Gedanken daran bekam ich Magenschmerzen. Als ich das eiserne Tor erreichte, das den Eingang zum Ghetto darstellte, blieb ich kurz stehen und musste tief durchatmen, ehe ich auf den deutschen Wachmann zutrat. “Name?”, fragte er bereits, noch bevor ich etwas sagen konnte.
“Ich … ich …”, stammelte ich hilflos.
Der Wachmann sah von seinem Klemmbrett auf. “Name?”, bellte er.
“Gerschmann, Emma”, brachte ich heraus.
Er sah auf seine Liste. “Die gibt’s hier nicht.”
“Nein, aber ich glaube, meine Eltern sind hier. Chaim und Reisa Gerschmann.”
Wieder durchsuchte er die Namensliste und blätterte weiter. “Ja, hier. Ulica Limanowa 21, Wohnung sechs.”
“Dann möchte ich bei ihnen sein.” Ein überraschter Ausdruck huschte über sein Gesicht, langsam öffnete er den Mund. Er wird mir sagen, ich darf nicht hinein, dachte ich und verspürte einen Moment lang Erleichterung. Doch dann überlegte er es sich anders, schrieb meinen Namen zu denen meiner Eltern auf die Liste und ging zur Seite, um mich durchzulassen. Ich zögerte und blickte in beiden Richtungen die Straße entlang, ehe ich das Ghetto betrat. Hinter mir fiel laut das Tor ins Schloss.
Drinnen schlug mir der Gestank menschlicher Ausscheidungen wie eine massive Wand entgegen, und ich musste mich zwingen, nicht zu würgen. Während ich bemüht war, nur flach und nicht durch die Nase zu atmen, fragte ich einen Mann nach der ulica Limanowa. Auf meinem Weg durch das Ghetto bemühte ich mich, nicht die ausgemergelten Passanten in ihrer schmutzigen Kleidung anzusehen, die mich – die Neue – mit unverhohlener Neugier anstarrten. Ich bog in die ulica Limanowa ein und ging bis zu der Hausnummer, die der Wachmann mir gesagt hatte. Das Gebäude machte auf mich den Eindruck, als sei es bereits zum Abriss vorgesehen. Ich öffnete die Haustür und stieg die Treppe hinauf. Im oberen Stockwerk angekommen, zögerte ich kurz und wischte die verschwitzten Handflächen an meinem Rock ab. Durch das verrottende Holz einer der Wohnungstüren hindurch hörte ich die Stimme meiner Mutter. Tränen stiegen mir in die Augen. Bis zu diesem Moment hatte ich nicht glauben wollen, dass meine Eltern tatsächlich hergebracht worden waren. Ich holte tief Luft, dann klopfte ich an.
“Nu?”, hörte ich meinen Vater rufen. Seine Schritte wurden lauter, dann öffnete er die Tür. Bei meinem Anblick bekam er große Augen. “Emmala!”, rief er, schlang seine Arme um mich und drückte mich so fest an sich, dass ich dachte, er würde mich zu Boden reißen.
Hinter ihm stand meine Mutter und hielt verkrampft ihre Schürze fest. Ein Schatten lag über ihren Augen. “Was machst du hier?”, wollte sie wissen. Als mein Vater mich endlich losließ, zog sie mich in die Wohnung.
Ich sah mich um und konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. Hier sollten sie wohnen? Das Zimmer war klein und düster, modrig feuchter Schimmelgeruch lag in der Luft, die trübe Scheibe im einzigen Fenster wies einen Sprung auf. Dagegen wirkte unsere bescheidene Wohnung in Kazimierz fast luxuriös. Es war nicht zu übersehen, dass meine Mutter ihr Bestes gab, um es hier wohnlich zu machen. Vor dem Fenster hingen blassgelbe Vorhänge, und ein großes Laken teilte den Raum in zwei Bereiche – einen zum Schlafen und einen mit gerade eben Platz für zwei Stühle und einen kleinen Tisch. Trotz dieser Bemühungen bot die behelfsmäßige Unterkunft einen entsetzlichen Anblick.
“Ich kam nach Kazimierz, um bei euch zu bleiben, aber ihr wart nicht mehr da.” Mir entging nicht der vorwurfsvolle Unterton in meiner Stimme: Warum habt ihr mir nicht gesagt, wohin ihr geht? Warum habt ihr mir nicht wenigstens eine Notiz hinterlassen?
“Wir hatten nur eine halbe Stunde, dann mussten wir aus der Wohnung sein”, erklärte mein Vater und zog einen Stuhl zurück, damit ich mich setzen konnte. “Uns blieb keine Zeit, dir Bescheid zu geben. Wo ist Jakub?”
“Seine Arbeit”, antwortete ich nur. Meine Eltern nickten stumm. Meine Worte überraschten sie nicht, sie waren sich über Jakubs politische Aktivitäten durchaus im Klaren. Neben der Tatsache, dass er kein orthodoxer Jude war, hatten sie sich bei ihm auch an dieser Sache gestört.
“Du solltest nicht hier sein”, sagte mein Vater besorgt und ging in dem kleinen Zimmer auf und ab. “Wir sind älter, an uns wird sich vermutlich niemand stören. Es sind die Jüngeren, die sie …” Er musste den Satz nicht zu Ende führen. Wer im Ghetto den Deportationsbefehl erhielt, der saß in der Falle, ohne jede Möglichkeit zur Flucht.
“Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte”, erwiderte ich den Tränen nahe.
“Na ja”, meinte Mutter und nahm meine Hand. “Wenigstens sind wir jetzt wieder vereint.”
Am nächsten Morgen meldete ich mich im jüdischen Verwaltungsgebäude, um mich vom Judenrat erfassen zu lassen. Der Rat bestand aus einer Gruppe von Leuten, die von den Deutschen den Auftrag erhalten hatten, die inneren Angelegenheiten im Ghetto zu regeln. Ich bekam eine Arbeit im Waisenhaus zugewiesen. Man konnte von Glück reden, dass auch meine Eltern für akzeptable Arbeiten eingeteilt worden waren. Mein Vater war in der Küche der Kommune tätig, während meine Mutter als Schwester im Krankenhaus half. Uns allen war die gefürchtete Zwangsarbeit erspart geblieben, bei der Juden unter der Aufsicht von brutalen Deutschen schwerste körperliche Anstrengungen erdulden mussten.
Bereits am Nachmittag ging ich das erste Mal ins Waisenhaus. Es war vom Judenrat in der ulica Józefińska eingerichtet worden, in einem winzigen Gebäude, das aus Parterre und erstem Stock bestand. Im überbelegten Inneren war es recht dunkel, aber ein kleines Rasenstück hinter dem Haus bot den rund dreißig Kindern einen Platz zum Spielen. Die meisten von ihnen waren noch Kleinkinder, und fast ausnahmslos hatten sie ihre Eltern in der Zeit seit Kriegsbeginn verloren. Es machte mir Spaß, den Kleinen beim Spielen zuzusehen. Durch die spärlichen Essensrationen im Ghetto erschreckend mager geworden, waren sie doch noch Kinder und nahmen kaum Notiz von den Dingen um sich herum – von der abscheulichen Umgebung, von der alltäglichen Gewalt und der düsteren Tatsache, dass sie keine Eltern mehr hatten, die sich in dieser kalten, erbarmungslosen Welt um ihr Wohl sorgten.
Obwohl mich die Arbeit von meinen eigenen Problemen ablenkte, musste ich doch immer wieder an Jakub denken. Durch die Anwesenheit der Kinder wurde ich mehr als einmal daran erinnert, dass wir längst selbst eine Familie hätten haben können, wäre der Krieg nicht gekommen. Nachts durchlebte ich in Gedanken noch einmal unsere gemeinsamen Momente, sein Werben um mich, unsere Hochzeit und die Zeit danach. Während ich im Bett lag und an die niedrige Decke starrte, dachte ich an die Male, die wir miteinander geschlafen hatten, an die stillen, unerwarteten Freuden, die Jakub mir wie beiläufig beigebracht hatte. Wo war er jetzt? Jede Nacht war ich voller Sorge um ihn. Und ich fragte mich, wer wohl bei ihm war. Es musste auch Frauen im Widerstand geben, obwohl Jakub mich bislang nicht gefragt hatte, ob ich mich ihm anschließen wollte. Von Scham erfüllt rätselte ich nicht, ob Jakub verwundet oder ob ihm warm genug war, sondern ob eine mutigere, forschere Frau als ich ihm sein Herz gestohlen hatte.
Mir fehlte aber nicht nur Jakub, sondern jegliche Form von Gesellschaft. Meine Eltern waren nach ihren zwölfstündigen Schichten am Abend so abgekämpft, dass sie gerade noch Kraft genug besaßen, um ihre Rationen zu essen und sich dann schlafen zu legen. Das Ghetto forderte von beiden einen gewaltigen Tribut, obwohl sie erst seit Kurzem hier waren. Mir kam es vor, als seien sie über Nacht um Jahre gealtert. Für meinen einst so gesunden und starken Vater schien jeder Schritt eine enorme Anstrengung zu bedeuten. Auch meine Mutter bewegte sich deutlich langsamer und mühsamer. Ihr volles kastanienfarbenes Haar wirkte nun spröde und war von grauen Strähnen durchzogen. Ich weiß, sie beide fanden nachts nur wenig Schlaf. Manchmal, wenn ich im Bett lag, konnte ich das erstickte Schluchzen meiner Mutter durch den Vorhang hören, der unsere Schlafquartiere voneinander trennte. “Reisa, Reisa”, sagte mein Vater dann immer wieder, um sie zu beruhigen. Ihr Weinen versetzte mich jedes Mal in Unruhe. Meine Mutter war in dem kleinen Dorf Przemysl in einer östlichen Region aufgewachsen, die bis zum Großen Krieg unter russischer Kontrolle stand und Schauplatz plötzlicher, heftiger Gewaltausbrüche gegen die jüdische Bevölkerung wurde. Mutter war Zeuge gewesen, wie man Häuser in Brand setzte, wie man den Bauern ihr Vieh wegnahm und jeden ermordete, der an Widerstand auch nur dachte. Es war die Brutalität der Pogrome gewesen, die sie veranlasst hatte, Richtung Westen nach Kraków zu fliehen, nachdem ihre Eltern durch die erbarmungslosen Lebensbedingungen erkrankten und schließlich gestorben waren. Ihr selbst war es gelungen zu überleben, doch sie wusste, wir hatten allen Grund, uns vor dem zu fürchten, was uns erwartete.
Mit den anderen Frauen, die im Waisenhaus arbeiteten, verband mich nicht viel. Sie waren fünfzig und älter, die meisten kamen aus den Dörfern. Nicht dass sie unfreundlich gewesen wären, doch so viele Kinder zu baden, zu füttern und zu beaufsichtigen, ließ nur wenig Zeit für private Gespräche. Hadassa Nederman war diejenige, die noch am ehesten wie eine Freundin für mich war. Die beleibte Witwe aus dem nahe gelegenen Dorf Bochnia fand immer Zeit für ein freundliches Wort oder einen kleinen Scherz. Sie hatte ein rundliches Gesicht und schien immer nur zu lächeln. Wenn die Kinder ihren Mittagsschlaf hielten, blieben uns bei einer Tasse wässrigem Tee einige Minuten, um ein paar Worte zu wechseln. Zwar konnte ich Hadassa nicht von Jakub erzählen, doch sie schien meine Einsamkeit zu spüren.
Eines Tages – ich arbeitete seit rund zwei Monaten im Waisenhaus – kam Hadassa zu mir und stellte mich einem dunkelhaarigen Mädchen vor, das die gleiche Leibesfülle aufwies wie sie selbst. “Emma, das ist meine Tochter Marta.”
“Hallo!”, rief Marta überschwänglich und warf sich mir an den Hals, als wären wir alte Bekannte. Ich fand sie auf Anhieb sympathisch. Sie war ein paar Jahre jünger als ich, ihre leuchtenden Augen blickten durch eine unsäglich große Brille in die Welt, und die wilden dunklen Locken standen in alle Richtungen ab. Sie lächelte, dabei redete sie unentwegt. Martas Aufgabe war es, für den Judenrat Nachrichten und Päckchen zu übermitteln – innerhalb des Ghettos und manchmal sogar auch nach draußen.
“Du musst zu unserem Schabbes-Abendessen kommen”, erklärte sie, nachdem wir uns einige Minuten lang unterhalten hatten.
“Bei deiner Familie?”, fragte ich verwirrt. Die wenigsten Menschen im Ghetto gaben zu, den Sabbat zu begehen, ganz zu schweigen davon, dass jemand dazu Gäste einlud.
Sie schüttelte den Kopf. “Meine Freunde und ich treffen uns jeden Freitagabend. Gleich da drüben.” Bei diesen Worten zeigte sie auf ein Gebäude gegenüber dem Waisenhaus. “Ich habe dort schon angefragt, nachdem mir meine Mutter von dir erzählt hatte. Sie sagten, du kannst ruhig hinkommen.”
Ich zögerte und dachte an meine Eltern. Schabbes im Ghetto umfasste nur uns drei, aber wir feierten ihn jede Woche. Mein Vater schmuggelte stets einen winzigen Challah-Brotlaib aus der Küche, in der er arbeitete, und meine Mutter zündete ein paar Kerzen aus unserem wertvollen Restbestand an. Sie stellte sie auf einen Teller, da sie die Kerzenhalter in Kazimierz zurückgelassen hatte. So anstrengend und zermürbend die Arbeit unter der Woche auch war, am Freitagabend schienen meine Eltern neue Kraft zu schöpfen. Sie drückten den Rücken durch, der sonst von der Belastung gebeugt war, und ihre Wangen nahmen wieder ein wenig Farbe an, wenn sie mit leiser, aber dennoch fester Stimme die Sabbatgebete sprachen. Stundenlang saßen wir dann zusammen und erzählten uns gegenseitig die Anekdoten, für die wir an den übrigen Tagen einfach zu müde waren. Mir widerstrebte die Vorstellung, meine Eltern allein zu lassen, auch wenn es nur für einen einzigen Freitag war.
“Ich werde es versuchen”, versprach ich Marta, hielt es aber für unwahrscheinlich, tatsächlich hinzugehen. Um ehrlich zu sein, es war nicht nur Sorge um meine Eltern, die mich abhielt. Ich war auch schüchtern, und die Vorstellung, einen Raum voller Fremder zu betreten, machte mich nervös. Doch je näher der Freitag rückte, umso mehr verspürte ich den Wunsch, Marta zu begleiten. Am Donnerstagabend sprach ich schließlich meine Eltern darauf an.
“Geh hin”, erwiderten sie beide gleichzeitig und sichtlich erfreut. “Du brauchst Menschen in deinem Alter um dich.”
Als am Nachmittag darauf meine Schicht im Waisenhaus vorüber war und wir allen Kindern etwas zu essen gegeben hatten, stand auf einmal Marta in der Tür. “Fertig?”, fragte sie, als hätte meine Teilnahme an diesem Abendessen nie infrage gestanden. Gemeinsam überquerten wir die ulica Józefińska und gingen zum Haus Nummer 13.
Marta lief durch das schwach beleuchtete Treppenhaus voran und betrat eine Wohnung, deren Tür nicht verschlossen war. Wir gelangten in einen schmalen, lang gestreckten Raum, von dem es gleich rechts in eine kleine Küche und ein Stück weiter in ein anderes Zimmer abging. Die verschossenen und ausgefransten Vorhänge waren zugezogen, ein langer Holztisch nahm den Großteil des Raums ein. Um ihn verteilt standen mehrere, nicht zueinander passende Stühle. Marta stellte mich gut einem Dutzend junger Leute vor, von denen einige am Tisch saßen, während andere im Zimmer umhergingen. Ich konnte mir nur wenige Namen merken, doch das schien niemanden zu stören. Offenbar waren Neuzugänge hier nichts Ungewöhnliches, und durch die Art, wie die anderen miteinander scherzten, vergaß ich schnell meine Nervosität. Ein paar der Anwesenden hatte ich schon hier und da auf den Straßen des Ghettos gesehen, doch nun kamen sie mir wie verwandelt vor, da sie nicht die übliche düstere Miene zur Schau trugen. Stattdessen wirkten sie von Leben erfüllt, redeten und lachten mit ihren Freunden, als sei das Ghetto Welten entfernt.
Nach einigen Minuten läutete jemand eine kleine Glocke, und wie auf ein geheimes Zeichen hin verstummten alle und scharten sich um den Tisch, um sich einen Platz zu suchen. Ich sah mich um und zählte mindestens achtzehn Leute. Es kam mir eigentlich so vor, dass das Zimmer für so viele Menschen viel zu klein war, und doch fand jeder Platz. Schulter an Schulter stand ich mit den anderen da und wartete.
Plötzlich wurde die zweite Tür am anderen Ende des Raums geöffnet, zwei Männer traten ein. Der eine war stämmig und etwa Anfang zwanzig, der andere ein wenig größer und älter, außerdem trug er einen gepflegten Kinnbart. Die Männer stellten sich hinter die beiden Stühle, die am Kopfende des Tischs frei geblieben waren. Eine junge Frau neben ihnen zündete die Kerzen an. Alle sahen ihr dabei zu, wie sie ihre Hände dreimal um die Flammen kreisen ließ und dabei das Sabbatgebet sprach.
“Das ist Alek Landsberg”, flüsterte Marta mir zu und deutete auf den Älteren. “Er leitet sozusagen die Gruppe.”
“Schalom aleichem”, begann der Mann mit einer wohlklingenden Baritonstimme zu singen, die Gruppe stimmte in seine traditionelle Begrüßung des Sabbats ein. Ich sah mich am Tisch um. Noch vor einer Stunde war mir jeder der Anwesenden fremd gewesen, doch jetzt, im Schein des Kerzenlichts, erschienen mir die Gesichter so vertraut wie die meiner Familie. Während die Leute sangen, hoben sie ihre Stimmen an und schufen einen Klangteppich, der diesen Raum von der schrecklichen, hoffnungslosen Welt da draußen abschottete. Mir kamen die Tränen, und kaum bemerkte Marta meine Reaktion, drückte sie meine Hand.
Als wir zu Ende gesungen hatten, setzten wir uns. Alek hob ein Weinglas und erteilte den Kiddush-Segen. Dann sprach er das Motze über das Challah-Brot, ehe er Salz über den Laib streute, ihn aufschnitt und herumreichte. Dieses Brot stammte eindeutig nicht aus dem Ghetto, denn es hatte eine dicke Kruste und war innen so locker, wie ich es von früher aus der Bäckerei meines Vaters kannte. Kaum hatte ich den Teller weitergereicht, bereute ich, dass ich nicht ein zusätzliches Stück Brot für meine Eltern hatte einstecken können.
Dann standen mehrere junge Frauen auf und brachten aus der Küche dampfende Kochtöpfe herein, aus denen sie Hühnchen, Karotten und Kartoffeln auf die bereitstehenden Teller verteilten. Mein Magen begann bei diesem Anblick zu knurren. Auch das war sicher kein Essen, das aus dem Ghetto kam.
Während des Mahls unterhielten sich die anderen unablässig. Zwar waren sie freundlich, aber doch so vertieft in ihre Gespräche, dass sie oft Anspielungen machten, ohne mir zu erklären, von was sie da redeten. Ich hörte interessiert zu, wie Marta sich über meinen Kopf hinweg mit dem Mädchen rechts von mir über einige Jungs unterhielt, um dann mit zwei Männern zu ihrer Linken darüber zu diskutieren, ob die Vereinigten Staaten in den Krieg eintreten sollten oder nicht. Mich störte es nicht, dass sich niemand direkt an mich wandte oder mir eine Frage stellte. Plötzlich bemerkte ich, wie der Mann am Kopfende des Tischs, der das Gebet gesungen hatte, in meine Richtung schaute. Er flüsterte seinem Tischnachbarn etwas zu, während ich spürte, wie meine Wangen in dem viel zu vollen und viel zu warmen Zimmer rot wurden.
Nach dem Essen servierten die jungen Frauen heißen Tee. Die meisten Tassen wiesen Sprünge auf und passten nicht zu den jeweiligen Untertassen. Ein junger Mann begann auf seiner Gitarre zu spielen, während die anderen es sich auf ihren Stühlen bequem machten und dabei so glücklich und entspannt wirkten, als würden sie die Sommerferien im Kurbad von Krynice verbringen. Stundenlang sangen wir jiddische und hebräische Lieder, von denen ich einige seit Jahren nicht mehr gehört hatte. Erst als Marta und ich aus Angst vor der Ausgangssperre nicht noch länger zu bleiben wagten, bedankten wir uns bei den anderen und machten uns auf den Weg.
Von diesem Tag an verbrachte ich jeden Freitagabend in der ulica Józefińska, trotz der Schuldgefühle, die ich hatte, weil ich den Sabbat nicht gemeinsam mit meinen Eltern begrüßte. Doch in diesen wenigen Abendstunden konnte ich vergessen, wo ich war und was sich um mich herum ereignete. Das Schabbesessen entwickelte sich für mich zum Höhepunkt einer jeden Woche.
Gut einen Monat später kam Helga – die Frau, die jeden Freitag die Mahlzeiten zubereitete – auf Marta und mich zu, als wir gerade unsere Mäntel anzogen, um nach Hause zu gehen. “Alek würde dich gern sprechen”, sagte sie zu mir.
Mein Magen verkrampfte sich. Marta warf mir einen fragenden Blick zu, worauf ich mit einem gespielt lässigen Schulterzucken reagierte. “Du musst nicht auf mich warten”, ließ ich sie wissen. Helga zeigte auf die Tür am anderen Ende des Zimmers. Nervös ging ich dorthin und überlegte angestrengt, ob ich mir wohl Aleks Ärger zugezogen hatte. Aber als ich an der halb offen stehenden Tür anklopfte, winkte er mich freundlich zu sich herein.
Das Hinterzimmer war nicht halb so groß wie der andere Raum, ein kleiner, mit Papieren übersäter Tisch stand dort, außerdem ein paar Stühle und ein Feldbett. “Emma, ich bin Alek”, begrüßte er mich lächelnd und hielt mir seine Hand hin. Ich schüttelte sie und wunderte mich, dass er meinen Namen kannte. Dann stellte er mich dem stämmigeren Mann vor, der beim Essen neben ihm gesessen hatte. “Das ist Marek.” Der Mann nickte, legte einen Stoß Papiere zusammen und entschuldigte sich dann.
“Setz dich doch”, bat mich Alek und deutete auf einen Stuhl, ich nahm auf der äußersten Kante Platz. Aus der Nähe fielen mir die dunklen Ringe unter Aleks Augen und die feinen Fältchen in seinen Augenwinkeln auf. “Entschuldige bitte, dass ich mich nicht schon früher vorgestellt habe, doch ich hatte dringende Angelegenheiten zu erledigen.” Ich fragte mich, welche dringenden Angelegenheiten es im Ghetto wohl zu erledigen gab. “Emma, ich möchte es dir ohne Umschweife sagen”, fuhr er fort und senkte die Stimme. “Wir haben einen gemeinsamen Freund. Einen sehr engen Freund. Aus der Zeit an der Universität.”
Mir war sofort klar, er sprach von Jakub. Mein Herz machte einen Satz, und mein Gesichtsausdruck verriet nur zu gut, dass ich verstand, was er meinte. Dann bekam ich mich wieder in den Griff und begann zu protestieren. “Ich … ich weiß nicht, wovon du sprichst …”
“Keine Sorge”, unterbrach er mich und hob die Hand. “Ich bin der Einzige, der es weiß. Vor einiger Zeit hat er mir von dir erzählt und mir dein Foto gezeigt.” Ich errötete. Er meinte bestimmt unser Hochzeitsfoto. Ich wusste, Jakub besaß einen Abzug davon, doch ich hätte nicht gedacht, dass er es jemandem zeigen würde. Trug er es immer noch bei sich? Wie lange war es her, dass dieser Mann es zu sehen bekam? “Er bat mich, dich im Auge zu behalten, falls du herkommen solltest”, erklärte Alek. “Bevor du das erste Mal zu unserem Treffen kamst, war mir nicht klar, wer du bist. Du musst wissen, dein Freund und ich gehen der gleichen Arbeit nach.” Also gehörte Alek auch zur Widerstandsbewegung.
“Hast du …?”, setzte ich an, wagte aber nicht, die Frage auszusprechen.
“Gelegentlich hören wir von ihm, üblicherweise über einen Kurier, da er nicht hierher ins Ghetto kommen kann. Ich werde ihm ausrichten lassen, dass wir uns begegnet sind und es dir gut geht.”
“O ja, bitte, das würde mir sehr viel bedeuten.” Er nickte. Ich wollte noch etwas sagen, zögerte jedoch einen Moment lang, bis ich den Mut zum Weiterreden fand. “Kann ich auch mithelfen? Bei der Arbeit, meine ich.”
Alek schüttelte entschieden den Kopf. “Unser Freund dachte sich bereits, dass du fragen würdest, und er hat sehr klar zu verstehen gegeben, dass das nicht in seinem Sinne wäre. Er ist um deine Sicherheit besorgt.”
“Ich wünschte, er würde sich etwas weniger um meine und dafür mehr um seine eigene Sicherheit sorgen.” Mich überraschte, wie bestimmt mir die Worte über die Lippen kamen.
Alek sah mich ernst an. “Dein Ehemann ist ein großartiger Kämpfer, Emma, und du solltest stolz auf ihn sein.”
“Das bin ich auch”, murmelte ich demütig.
“Gut. Für den Moment werde ich seinen Wunsch respektieren und dich nicht einbeziehen. Aber …”, er machte eine lange Pause und strich sich über den Kinnbart, “… du allein entscheidest, was du tun willst und was nicht. Wenn du uns wirklich helfen willst, dann könnte der Zeitpunkt kommen, an dem deine Hilfe von Nutzen ist. Wie du siehst, arbeiten viele Frauen bei uns mit.” Er deutete auf die Tür zum Nebenraum, und dabei wurde mir erst bewusst, dass all die anderen Gäste beim Schabbesessen in Wahrheit zum Widerstand gehörten – auch Marta. “Bis dahin bist du bei uns immer herzlich willkommen. Allerdings sollten die anderen nicht erfahren, wer du bist. Deine Ehe muss ein Geheimnis bleiben, es ist besser so. Ich wollte heute nur den Kontakt zu dir aufnehmen und dir von unserem gemeinsamen Bekannten erzählen.”
“Danke.” Ich fasste Alek am Arm, erfüllt von Erleichterung und Dankbarkeit. Er nickte und lächelte warm, dann wandte er sich auf eine Weise wieder seiner Arbeit zu, die zwar nicht unhöflich wirkte, mir aber zu verstehen gab, dass unser Gespräch beendet war. Es kam mir vor, als würde ich tanzen, während ich mich auf den Heimweg begab. Alek kannte Jakub und wusste von unserer Ehe. Zum ersten Mal seit dem Untertauchen meines Mannes fühlte ich mich nicht völlig allein auf der Welt.