7. KAPITEL

Mehrere Tage lang hören wir nichts mehr von Kommandant Richwalder. “Vermutlich braucht die Überprüfung deiner Personalien einige Zeit”, erklärt Krysia, als ich sie darauf aufmerksam mache.

“Die Überprüfung meiner Personalien?” Ich gerate in Panik, weil ich überzeugt davon bin, dass meine wahre Identität ans Licht kommen wird. Aber Krysia sagt, ich müsse mir keine Sorgen machen, und ein paar Tage später stellt sich heraus, dass sie recht hat. Der Widerstand scheint in ganz Polen Kontakte zu haben, und so gibt es Leute in Gdańsk, die bezeugen, dass sie eine Anna Lipowski kennen, dass sie ihre Nachbarin, ihre Kollegin, ihre Mitschülerin war. Und jeder von ihnen betont, wie schrecklich doch der Tod ihrer Eltern gewesen ist. Am Freitagmorgen – also fast eine Woche nach der Gesellschaft bei Krysia – wird mir durch einen Boten mitgeteilt, dass meiner Einstellung nichts mehr im Wege steht und ich mich am kommenden Montag im Büro des Kommandanten melden soll.

“Wir müssen morgen in die Stadt gehen”, sagt Krysia am Samstagabend, nachdem wir Łukasz zu Bett gebracht haben.

“Morgen?” Im Flur drehe ich mich verwirrt zu ihr um. Die Geschäfte sind am Sonntag geschlossen.

“Wir müssen in die Kirche gehen.” Als sie meinen fassungslosen Gesichtsausdruck bemerkt, fährt sie fort: “Die Frau des Bürgermeisters machte uns doch darauf aufmerksam, dass ich mit dir und Łukasz noch nie in der Kirche war.”

“Ach, ja”, bringe ich schließlich heraus. Gegen diese Logik kann ich nichts einwenden. Krysia ist eine strenggläubige Katholikin, und es ist nur folgerichtig, davon auszugehen, dass das auch auf Łukasz und mich zutrifft. Dennoch kann ich mich nicht mit dem Gedanken anfreunden, einen katholischen Gottesdienst zu besuchen.

“Es tut mir leid”, sagt sie. “Uns bleibt keine andere Wahl, wenn wir den Schein wahren wollen.”

Ich erwidere darauf nichts, sondern gehe in mein Schlafzimmer und öffne den Kleiderschrank. Lange Zeit betrachte ich meine Kleider und überlege, welches davon eine junge katholische Frau in meinem Alter beim Kirchgang trägt.

“Das Helle”, meint Krysia, als sie sich hinter mich stellt.

“Das hier?” Ich halte ein beigeweißes Baumwollkleid mit halblangen Ärmeln und vorderer Knopfleiste hoch.

“Ja. Ich werde mir einen Tee kochen. Möchtest du auch einen?”, fragt sie.

Ich nicke und folge ihr nach unten in die Küche. Wenig später bringen wir unsere Teetassen in den Salon. Mir fällt Krysias Strickzeug und ein Knäuel hellblaue Wolle auf dem niedrigen Tisch auf. “Ich stricke einen Pullover für Łukasz”, lässt sie mich wissen. “Ich glaube, im nächsten Winter kann er den gut gebrauchen.”

Im nächsten Winter. Krysia geht also davon aus, dass wir dann immer noch bei ihr sind. Ich weiß nicht, warum mich das überrascht. Die Deutschen halten Polen nach wie vor besetzt, und wir können nirgendwo anders hin. Trotzdem sind es noch mindestens sechs Monate bis zum nächsten Winter. Mein Herz wird schwer, als ich an Jakub denke und mir vorstelle, noch für so lange Zeit von ihm getrennt zu sein.

Ich versuche, meine Traurigkeit zu überspielen, und halte die Stricknadeln hoch, um Krysias Arbeit zu begutachten. Bislang hat sie erst ein paar Reihen gestrickt, aber an den kleinen, gleichmäßigen Maschen kann ich erkennen, dass sie mit großer Sorgfalt arbeitet. Es wird ein sehr schöner Pullover werden. Mir fällt auf, wie gekräuselt die Wolle ist, und dann wird mir klar, dass sie einen von ihren Pullovern aufgeribbelt haben muss, um das Knäuel zusammenzubekommen. “Die Farbe passt genau zu seinen Augen”, bemerke ich und bin einmal mehr gerührt, was Krysia alles für uns tut.

“Das dachte ich mir auch. Kannst du stricken?”, fragt sie, aber ich muss verneinen. “Komm, ich zeige es dir.” Bevor ich sie davon abhalten kann, rückt sie auf dem Sofa zu mir, legt die Arme um mich und ihre größeren Hände auf meine. “Es geht so.” Sie beginnt, meine Finger in den Schritten zu bewegen, die für eine Masche notwendig sind. Die Berührung durch ihre zarten Hände lässt mich an Jakub denken, was eine ganze Flut von Erinnerungen auslöst, sodass ich kaum die Stricknadeln fühlen kann. “So einfach ist das Ganze”, sagt sie Minuten später und lehnt sich zurück. Erwartungsvoll sieht sie auf die Nadeln, als könnte ich jetzt ohne sie weiterstricken. Stattdessen lasse ich die Arme hilflos sinken.

“Es tut mir leid”, erkläre ich und lege Nadeln und Wolle zurück auf den Tisch. “Ich bin in solchen Dingen nicht sehr gut.” Das entspricht der Wahrheit. Als ich zwölf war, gab meine Mutter es auf, mir das Nähen beizubringen, und erklärte meine weiten, ungleichmäßigen Stiche zu einer Abscheulichkeit. Ich muss jetzt nur die Stricknadeln ansehen und weiß, Krysia wird meine unbeholfenen Maschen aufribbeln und von vorn anfangen müssen.

“Unsinn, dir fehlt nur die Übung.” Sie nimmt Nadeln und Wolle an sich. “Wenn du es lernst, kannst du etwas für Jakub stricken.”

“Jakub”, wiederhole ich und stelle mir sein Gesicht vor. Ich könnte ihm einen Pullover stricken, vielleicht einen braunen, der die Farbe seiner Augen betont. Ich male mir aus, wie er den Pullover über die schmalen Schultern und den mageren Oberkörper zieht. In meiner Erinnerung kommt er mir zerbrechlich vor, fast so wie ein Kind. Es fällt mir schwer, in ihm einen Widerstandskämpfer zu sehen. Plötzlich frage ich mich, ob er genug warme Kleidung mitgenommen hat, als er wegging.

“Er fehlt dir, nicht wahr?”, fragt Krysia mit sanfter Stimme.

“Ja, sehr sogar”, erwidere ich und zwinge mich, das Bild von ihm aus meinen Gedanken zu verdrängen. Ich kann es mir jetzt nicht leisten, mich in Erinnerungen zu verlieren. Ich muss mich darauf konzentrieren, dass ich am Montag meine Arbeit beginne, und dass ich Anna bin. “Krysia …” Ich halte kurz inne, bevor ich die Frage ausspreche, die mich seit der Abendgesellschaft beschäftigt. “Was ist Sachsenhausen?”

Sie stutzt einen Moment lang. “Warum fragst du das?”

“Ludwig sagte, der Kommandant habe Sachsenhausen mit aufgebaut.”

Krysia runzelt die Stirn, schließlich antwortet sie: “Sachsenhausen ist ein Gefängnis der Nazis, mein Schatz. Ein Arbeitslager in der Nähe von Berlin.”

“Für Juden?”, frage ich ängstlich.

Doch sie schüttelt den Kopf. “Nein, nein! Für politische Gefangene und Kriminelle.”

Ich würde gern Erleichterung verspüren, aber ihre so nachdrückliche Beteuerung verrät mir, dass sie nicht völlig ehrlich zu mir ist. Sie legt ihr Strickzeug weg und tätschelt meine Hand.

“Mach dir keine Sorgen. Richwalder mag dich. Er wird dich gut behandeln.”

“Na gut.” Wenn ich ehrlich sein soll, können mich ihre Worte eigentlich nicht beruhigen.

“Meine Güte!” Ihr Blick ist auf die Standuhr gerichtet, die fast halb elf anzeigt. “Ich habe gar nicht gemerkt, wie spät es ist. Du solltest zusehen, dass du genug Schlaf bekommst. Morgen müssen wir früh aufstehen, und du wirst deine Kräfte brauchen.”

Für den morgigen Tag und für alles, was danach folgt, füge ich im Geiste hinzu. Ich trinke einen Schluck von meinem noch immer zu heißen Tee und stehe auf. In der Türöffnung bleibe ich stehen. Krysia hat das Strickzeug wieder an sich genommen und strickt in einem gleichmäßig hohen Tempo Masche um Masche. “Gute Nacht”, sagt sie zu mir, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen. Ich frage sie gar nicht erst, ob sie auch zu Bett gehen wird, weil ich weiß, dass sie meist bis spät in die Nacht aufbleibt und nur wenig schläft. Auch darin erinnert sie mich an Jakub, der manchmal die ganze Nacht nicht ins Bett ging. Morgens fand ich ihn dann schlafend über einem Buch oder einem Artikel vor, an dem er gearbeitet hatte. Aber wenigstens schlief er dann bis spät in den Vormittag hinein. Bei Krysia weiß ich, dass sie in aller Frühe schon wieder aufstehen wird, um die Hausarbeit zu erledigen und um uns auf den Tag vorzubereiten. Ich mache mir Sorgen, es könnte für sie auf Dauer zu anstrengend sein, sich um Łukasz und mich zu kümmern. Und durch den Kirchgang am nächsten Morgen und die Stelle bei Richwalder, die ich am Montag antreten werde, hat sie nur noch mehr um die Ohren.

In dieser Nacht schlafe ich sehr unruhig und träume, wie ich mich in der Dunkelheit auf einer mir fremden Straße aufhalte. Aus der Ferne höre ich Stimmen und Gelächter. Ich reibe mir die Augen und versuche, die Quelle dieser Geräusche auszumachen. Nach gut fünfzehn Metern treffe ich auf eine Gruppe junger Leute, die alle eine Art Uniform tragen. Im Gehen machen sie Scherze und erzählen sich etwas. Eine Stimme, ein vertrauter Bariton, hebt sich von den anderen ab. “Jakub!”, rufe ich und beginne zu rennen. Ich versuche ihn einzuholen, doch auf dem glatten, nassen Weg rutschen meine Füße weg. Schnell stehe ich auf und laufe weiter, dann endlich habe ich die Gruppe eingeholt. “Jakub”, wiederhole ich keuchend, aber er hört mich nicht, sondern unterhält sich weiter mit einer Frau, die ich nicht kenne. Ich kann ihn nicht verstehen. Verzweifelt strecke ich meine Hände nach ihm aus und versuche ihn zu berühren, doch ich werde von der vorrückenden Menge aus dem Weg geschoben und falle abermals zu Boden. Als ich den Kopf hebe, sind sie alle weg, und ich knie ganz allein auf dem kalten, harten Pflaster.

Vor Schreck wache ich auf. “Jakub?”, rufe ich. Ein paar Mal muss ich blinzeln, dann erkenne ich, dass ich nach wie vor in meinem Bett liege. Natürlich – es war ja auch nur ein Traum. Dennoch starre ich sekundenlang in die Dunkelheit, als wäre Jakub vielleicht doch bei mir gewesen. Er fehlt mir so sehr. Immer wieder jage ich ihm nach, aber nie hole ich ihn ein. Was, wenn er sich wirklich so sehr in seine Arbeit vertieft, dass ich längst in Vergessenheit geraten bin? Oder wenn er einer anderen Frau begegnet ist? Oder wenn … nein, ich kann nicht den schlimmsten aller Gedanken fortführen, ihm könnte etwas geschehen sein, sodass ich ihn nie wiedersehen werde. Ich drücke mein Gesicht ins Kissen, damit es meine Tränen aufnimmt.

Am nächsten Morgen klopft Krysia um sieben Uhr an meine Tür. Ich stehe auf und ziehe mich an. Als ich nach unten komme, sehe ich, dass sie Łukasz bereits gewaschen und gefüttert hat. Beim Anblick des Jungen zögere ich kurz. Ich hatte gehofft, ihm könnte der Kirchgang irgendwie erspart werden. Aber außer uns gibt es ja niemanden, der in dieser Zeit auf ihn aufpassen könnte. Ohne ein Wort zu sprechen, begeben wir uns zur Haltestelle für den Omnibus. Der Bus ist fast vollständig mit Bauern besetzt. Auch sie sind auf dem Weg zur Kirche, was ich an der Art, wie sie ihre Kleidung zu bügeln versucht haben, erkenne.

Während der holprigen Fahrt auf der kurvenreichen Straße starre ich aus dem Fenster und versuche so zu tun, als wären wir nur unterwegs, um ein paar Besorgungen zu machen. Doch ein Gedanke geht mir immer wieder durch den Kopf: Ich bin auf dem Weg zu einem christlichen Gottesdienst, gleich werde ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Kirche betreten. Als ich noch jünger war, kam ich oft an den Kirchen der Stadt vorbei, wenn die Menschen sich dort zur Messe versammelten. Ich schaute verstohlen durch die halb geöffneten Türen und sah immer nur Dunkelheit. Ich konnte mir nicht vorstellen, welche Geheimnisse sich hinter den imposanten Holztüren verbargen, sobald sie sich schlossen und nur noch leise Gesänge zu mir herausdrangen. Heute werde ich es erfahren. Im Geiste sehe ich meinen Vater, wie er mich enttäuscht anschaut, während meine Mutter ungläubig den Kopf schüttelt.

Am Rande der Planty verlassen wir den Bus. Łukasz geht zwischen uns, Krysia und ich halten ihn an der Hand. Wir überqueren den Platz, vor uns ragen die Türme der Marienkirche in den Himmel. Obwohl es in Kraków unzählige Kirchen gibt, wundert es mich nicht, dass Krysia die größte und beeindruckendste besucht. An der Tür zögere ich kurz. “Komm”, sagt Krysia, stellt sich zwischen mich und Łukasz und nimmt jeden von uns an die Hand. In der Kirche benötige ich einen Moment, bis ich mich an das dämmrige Licht gewöhnt habe. Die Luft ist hier anders, von den Steinmauern geht eine kühle Feuchtigkeit aus. Krysia bleibt stehen und lässt meine Hand los, um sich zu bekreuzigen. Mir entgeht nicht, wie sie mich aus dem Augenwinkel beobachtet und die Lippen schürzt. Hat sie etwa erwartet, ich würde ihrem Beispiel folgen? Innerlich schüttele ich den Kopf. Dazu bin ich nicht bereit.

Ich lasse mich von ihr durch den Mittelgang führen, dabei versuche ich, nicht das meterhohe goldene Kreuz anzusehen, das eine Kirchenwand schmückt. Die Leute, die zu beiden Seiten des Gangs auf Holzbänken sitzen, sehen zu uns herüber und tuscheln etwas. Ob sie mir etwa ansehen, dass ich keine von ihnen bin? Aber eigentlich weiß ich, dass sie nur neugierig sind. Klatsch und Tratsch machen in Kraków schnell die Runde, und viele werden längst gehört haben, dass Krysia Smoks verwaiste Nichte und deren kleiner Bruder bei ihr eingezogen sind. Krysia lässt nicht erkennen, ob sie die Blicke ebenfalls bemerkt hat. Immer wieder nickt sie Frauen und Männern zu beiden Seiten des Gangs zu und gibt manchen von ihnen die Hand. Dann führt sie uns auf halber Höhe zu einer leeren Bank, wo wir auf dem harten Holz Platz nehmen. Orgelmusik beginnt zu spielen. Ich sehe mich um und wundere mich, wie viele Menschen gekommen sind. Auch wenn mittlerweile zahlreiche Priester inhaftiert sind, so haben die Nazis es doch nicht geschafft, die Gläubigen vom Gottesdienst fernzuhalten.

Ein Priester tritt an den Altar und beginnt etwas auf Latein zu singen. Nach einigen Minuten knien sich alle Kirchgänger wie auf ein geheimes Zeichen hin zu Boden. Ich bleibe sitzen, da Juden das Hinknien verboten ist. Aber Krysia zieht mich am Ellbogen nach vorn, sodass mir nichts anderes übrig bleibt. Ich lege meinen Arm um Łukasz, damit auch er sich hinkniet. Als ich ihn ansehe, bemerke ich, wie er mit aufgerissenen Augen nach oben schaut.

Eine halbe Ewigkeit lang müssen wir in dieser Haltung verharren, doch schon nach kurzer Zeit schmerzen meine Knie, da sie eine solche Belastung nicht gewöhnt sind. Mir fällt auf, dass Krysia den Kopf gesenkt hält, was ich rasch übernehme. Der Priester trägt seinen Text in einem monotonen Singsang vor, von Zeit zu Zeit wiederholen die Gläubigen einige seiner Worte. Es ist nur eines von vielen geheimnisvollen Ritualen, mit denen ich nicht vertraut bin. Auf einmal bekreuzigen sich Krysia und die anderen. Widerstrebend bewege ich eine Hand auf eine nichtssagende Weise vor meinem Gesicht und hoffe, es fällt niemandem auf. Eine Bewegung am Rand meines Blickfelds erregt meine Aufmerksamkeit. Łukasz, der Sohn des Rabbiners, versucht allen Ernstes, die Gesten der anderen zu imitieren! Meine Nackenhaare sträuben sich bei diesem Anblick.

Wieder werfe ich einen Seitenblick in Krysias Richtung. Sie bewegt die Lippen lautlos, so als würde sie etwas auswendig lernen. Mir wird klar, dass sie betet … dass sie richtiggehend betet. Ich schaue mich verstohlen um und frage mich, ob meine Gebete hier wohl auch erhört werden. Es ist so lange her, seit ich das letzte Mal gebetet habe, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Ich erwäge, die Shema zu sprechen, das einfachste jüdische Gebet. Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Nach dieser Zeile höre ich bereits wieder auf, da es sich nicht richtig anfühlt, dieses Gebet hier zu sprechen. Ich versuche es noch einmal. Bitte, bete ich, weiß aber nicht weiter. Bitte, Gott. Und dann auf einmal sprudelt es förmlich aus mir heraus. Ich bete, dass meinen Eltern und Jakub nichts geschieht. Ich bete für Krysia, Łukasz und mich selbst. Ich bete, dass wir die Kraft haben, unsere Tarnung aufrechtzuerhalten, wenn ich für den Kommandanten arbeite. Und ich bitte um Vergebung, dass ich mich an diesem Ort hier befinde und niederknie.

Endlich dürfen wir uns wieder setzen. Ich nehme Łukasz auf meinen Schoß und drücke seine kalte Wange an meine, während der Priester in seinem monotonen Singsang fortfährt. Dann kommt er um den Altar herum, in den Händen hält er einen silbernen Kelch. Die Leute in der ersten Reihe stehen auf und gehen nach vorn. “Kommunion”, flüstert mir Krysia ganz leise zu. Ich nicke bestätigend. Davon habe ich schon mal gehört. Wenig später steht auch Krysia auf und fasst mich an der Schulter, damit ich ihr folge. Ich erhebe mich, doch meine Beine sind schwer wie Blei, so groß ist mein Widerwille, zum Altar zu gehen. Wir treten in den Mittelgang und stellen uns in die Reihe der Wartenden, die langsam nach vorn rückt. Łukasz ist bei uns, auch wenn er vermutlich für die Kommunion noch zu jung ist.

Als wir an der Reihe sind, geht Krysia vor. Ich beobachte, wie sie sich hinkniet und den Mund öffnet, damit der Priester ihr eine dünne Waffel auf die Zunge legt. Dann steht sie auf, dreht sich zu mir um und nimmt Łukasz an die Hand. Nun trete ich vor und knie mich hin. “Der Leib Christi”, sagt der Priester, während er die Waffel auf meine Zunge legt. Ich schließe den Mund, weil sie so schrecklich trocken ist, gleichzeitig warte ich darauf, dass mich der Blitz trifft und ich tot umfalle.

Schließlich ist der Gottesdienst zu Ende, und wir verlassen die Kirche. Ich kämpfe gegen den Wunsch an, nach draußen zu stürmen, doch Krysia will mich an der Tür den anderen Besuchern vorstellen und tauscht höfliche Belanglosigkeiten aus. Dann endlich kehren wir ans Tageslicht zurück.

“Das war doch gar nicht so schlimm, nicht wahr?”, fragt mich Krysia, als die Kirche weit hinter uns liegt. Ich schüttele den Kopf, erwidere aber nichts. Es gibt Dinge, die sie allen noch so guten Absichten zum Trotz nicht verstehen wird. Ich fühle mich durch diese Erfahrung verletzt, und mir wird übel bei dem Gedanken, dass wir wieder hingehen müssen.

Als wir zurück in Krysias Haus sind, muss ich an den nächsten Tag denken. In weniger als vierundzwanzig Stunden werde ich meine Arbeit für den Kommandanten aufgenommen haben. Ich widme mich ganz bewusst den verschiedensten Tätigkeiten im Haushalt, koche eine Rote-Beete-Suppe für Łukasz’ Mittagessen und lege die Kleidung heraus, die er morgen tragen soll. “Das kann ich doch auch erledigen”, wendet Krysia ein.

Ich schüttele den Kopf. “Ich kann jetzt keine Pause machen”, erwidere ich, während ich eines der frisch gewaschenen Hemden des Jungen mittlerweile zum vierten Mal neu falte. “Ich bekomme heute Nacht sowieso kein Auge zu.”

Erst um kurz vor Mitternacht gehe ich ins Bett, wälze mich aber dennoch immer wieder von einer Seite auf die andere. Die Gedanken, gegen die ich sonst so hartnäckig ankämpfe, damit sie mir nicht den Schlaf rauben – Überlegungen etwa, wie es meinen Eltern im Ghetto geht –, stellen jetzt eine willkommene Abwechslung dar. Sie helfen mir, nicht an das zu denken, was mich am Morgen erwartet. Wie konnte sich mein Leben innerhalb eines Jahres nur so radikal ändern? Jakub würde mich sicher nicht mehr wiedererkennen. Ich stelle mir vor, wie ich ihm einen Brief schreibe. Wo sollte ich anfangen? O ja, mein Geliebter, schreibe ich im Geist. Deine Frau ist jetzt eine Christin. Und habe ich eigentlich schon erwähnt, dass ich einen Bruder habe? Und dass ich ab morgen für die Nazis arbeiten werde? In der Dunkelheit muss ich laut auflachen.

Aber ich weiß auch, dass die Situation in Wahrheit todernst ist. Indem ich tagaus, tagein ins Nazi-Quartier gehe, begebe ich mich vorsätzlich in die Höhle des Löwen. Nicht nur meine eigene Sicherheit steht auf dem Spiel, wenn man hinter meine wahre Identität kommt, sondern auch alle anderen sind dann in Gefahr: meine Eltern, Łukasz und sogar Krysia. Krysia. Ich sehe wieder ihren Gesichtsausdruck vor mir, wie sie mich drängt, das Angebot des Kommandanten anzunehmen. Ich weiß, wie besorgt sie mich seitdem ansieht. Ihr sind die Risiken ebenfalls bewusst, und sie muss sehr zwingende Gründe haben, mich trotzdem diese Stelle antreten zu lassen. Irgendwann werden meine Lider schwer und ich döse ein.

Ich meine, ich hätte nur für Minuten geschlafen, als mich der Hahnenschrei vom Nachbargrundstück weckt. Daran, wie das Licht zwischen den Ahornbäumen hindurchscheint, kann ich erkennen, dass es ungefähr fünf Uhr sein muss. Einen Moment lang liege ich nur da und lausche dem Hufgetrappel auf der staubigen Straße. Die Pferde ziehen die Wagen der Bauern hügelabwärts, damit Obst und Gemüse zu den Märkten gelangen. Mein Blick ist starr zur Decke gerichtet, während ich unschlüssig daliege. Wenn ich erst einmal einen Fuß auf den Boden vor meinem Bett gestellt habe, setze ich damit etwas in Gang, das ich nicht wieder stoppen kann. Vielleicht bleibt die Zeit ja stehen, wenn ich einfach liegen bleibe. Es ist ein altvertrautes Spiel aus meiner Kindheit, das immer dann zum Einsatz kam, wenn ich irgendetwas nicht machen wollte. Es hat damals nicht funktioniert, und jetzt wird es nicht anders sein. Außerdem tue ich mir keinen Gefallen, wenn ich gleich am ersten Tag zu spät zur Arbeit erscheine. Also atme ich einmal tief durch und stehe auf.

Leise wasche ich mich und ziehe mich an. In der Hoffnung, weder Krysia noch Łukasz aufzuwecken, schleiche ich auf Zehenspitzen nach unten, damit meine Schuhsohlen auf der Treppe nicht quietschen. Doch Krysia sitzt bereits am Küchentisch und liest bei einem Glas Tee die Zeitung. Ich frage mich, ob sie die letzte Nacht überhaupt geschlafen hat. “Guten Morgen, Anna”, begrüßt sie mich mit einem aufmunternden Lächeln. Sie steht auf und sieht mich von oben bis unten an. Ich habe aus ihren abgelegten Kleidungsstücken eine weiße Bluse und einen grauen Rock ausgewählt. Die viel zu weite Bluse wird an der Taille von einem Gürtel zusammengehalten, der Rock – der knielang sein sollte – reicht mir bis fast zu den Knöcheln. “Du siehst sehr professionell aus”, kommentiert sie und bedeutet mir, mich zu setzen. Sie schiebt mir einen Teller mit noch dampfenden Eierkuchen zu. “Und nun iss.”

Ich schüttele den Kopf, da der Geruch mir Übelkeit bereitet. “Ich bin zu nervös.” Noch während ich das sage, dreht sich mir der Magen um, mir wird unwohl. “Außerdem sollte ich mich besser auf den Weg machen. Ich möchte nicht zu spät kommen.”

Krysia gibt mir ein kleines Essenspaket und einen leichten Wollumhang. “Versuch dich zu beruhigen. Wenn du nervös bist, wirst du nur umso mehr Fehler machen. Bewahre die Ruhe, beobachte, was du beobachten kannst … und vertraue niemandem.” Sie klopft mir auf die Schulter. “Du schaffst das schon. Łukasz und ich werden hier auf dich warten, wenn du nachher zurückkommst.”

Es ist noch nicht ganz sieben Uhr, als ich das Haus verlasse und die Straße entlanggehe. Die Menschen in Chelm sind Frühaufsteher, an praktisch jedem Wohnhaus und Bauernhof ist jemand zu sehen. Einige kümmern sich um den Garten, andere um das Vieh, wieder andere fegen die Straße vor ihrem Grundstück. Als ich vorübergehe, blicken die Leute hoch, da meine Anwesenheit in Krysias Haus nach wie vor die Neugier der Nachbarn weckt. Ich nicke und versuche, mit einem Lächeln zu grüßen, als sei es völlig normal, dass ich um diese Uhrzeit auf den Beinen bin. Am Ende der Straße bleibe ich kurz stehen und atmete tief durch. Seit ich zu Krysia gekommen bin, liebe ich die frühen Morgenstunden. Über den Feldern liegt eine dünne Nebelschicht, die sich wie ein Vogelschwarm erheben wird, wenn die Sonne höher steigt. In der Luft hängt der Geruch von nassem Gras. Während ich den Anblick genieße, merke ich, wie es mir leichter ums Herz wird. Für Sekunden kann ich meine Nervosität fast vergessen.

An der Haltestelle für den Omnibus warte ich, ohne mit der älteren Frau neben mir zu reden, die eine Auswahl an Gartenkräutern in ihrem ramponierten Korb mit sich führt. Der Bus kommt, ich steige nach der Frau ein und gebe dem Fahrer eine der Marken, die ich von Krysia bekommen habe. Der Bus holpert über die uneben geteerte Straße und hält etwa alle fünf Minuten an, um weitere Fahrgäste einsteigen zu lassen. Die Bäume reichen so weit in die Straße hinein, dass Äste und Zweige über das Fahrzeugdach krachen. Als alle Sitzplätze besetzt sind und immer noch Menschen zusteigen, überlasse ich meinen Platz einem alten Mann, der mich zahnlos anlächelt.

Endlich steige ich aus, und nach einem kurzen Marsch bin ich am Fuß der Wawelburg angekommen. Beim Anblick der gewaltigen Festung muss ich nach Luft schnappen. Ich habe die Burg nicht mehr gesehen, seit ich ins Ghetto zu meinen Eltern ging. Nun wirken die Kuppeln und Türme prachtvoller, als ich sie in Erinnerung hatte. Über die Jahrhunderte hinweg, in denen Kraków die Hauptstadt Polens gewesen ist, hatten die Könige hier ihren Sitz. Viele Mitglieder des Königshauses sind in der Kathedrale der Burg beigesetzt worden. Den Status der Hauptstadt hat inzwischen Warszawa inne, und die Wawelburg war nur noch ein Museum, das an vergangene Zeiten erinnerte – bis die Deutschen sie zum Sitz des Generalgouvernements erklärten. Reiß dich zusammen, ermahne ich mich, doch meine Beine zittern und drohen mir wegzuknicken, während ich den langen Weg zum Eingang der Burg zurücklege.

“Anna Lipowski”, bringe ich heraus, als ich vor einem Wachposten stehen bleibe. Der Mann sieht mich nicht an, sondern sucht meinen Namen auf einer Liste, dann holt er einen zweiten Wachmann her, der mich durch einen großen Torbogen ins Innere der Bug führt. Wir bewegen uns durch ein schwindelerregendes Labyrinth aus Gängen und Marmortreppen. Der modrige Geruch erinnert mich an jene Zeit, als ich noch Kind war und die Burg auf einem Schulausflug besuchte. Die Gänge wirken nun steril, da man die Porträts der polnischen Könige entfernt und stattdessen eine schier endlose Reihe roter Hakenkreuzfahnen aufgehängt hat. Fast jeder, dem wir begegnen, trägt eine Uniform und grüßt mit einem knappen, kernigen “Heil Hitler”. Ich nicke, sehe mich aber außerstande, diesen Gruß zu erwidern. Mein Begleiter, der mein Schweigen womöglich als Nervosität auslegt, antwortet jedes Mal laut genug, sodass es für uns beide reicht.

Als ich das Gefühl habe, dass wir jeden Korridor und jede Treppe in der Burg bewältigt haben und es nicht mehr weitergehen kann, bleibt der Wachmann vor einer immens großen Eichentür stehen, an der ein Schild mit Kommandant Richwalders Namen darauf montiert ist. Der Mann klopft zweimal kräftig an, dann öffnet er die Tür, ohne auf eine Aufforderung zu warten, und gibt mir ein Zeichen, damit ich eintrete. Hinter der Tür befindet sich eine Art Empfangszimmer, ein fensterloser und viel zu warmer Raum. Eine korpulente Frau mit breiter Nase und öliger Haut sitzt an einem Schreibtisch in der Mitte des Zimmers. Sie ist über ihren Tisch gebeugt, ihr Lockenkopf wippt hin und her, da sie eifrig Kästchen auf einem Blatt Papier ausfüllt. Wenn sie hier ist, was soll ich dann noch tun? Hoffnung keimt in mir auf. Vielleicht kann ich gleich wieder nach Hause gehen. Aber noch während ich das denke, weiß ich, das ist völlig unmöglich. Kommandant Richwalder ist nicht der Typ, dem ein solcher Fehler unterläuft.

Verlegen stehe ich minutenlang an der Tür, aber die Frau sieht nicht auf. Hilflos drehe ich mich um, doch der Wachmann ist längst gegangen und hat mich hier allein zurückgelassen.

“Entschuldigung …”, sage ich schließlich auf Deutsch, um auf mich aufmerksam zu machen.

“Ja?” Die Frau hebt den Kopf und sieht mich an. Die Art, wie sie allein dieses eine Wort ausspricht, lässt mich erkennen, dass sie keine Deutsche ist.

“Ich bin Anna Lipowski”, rede ich auf Polnisch weiter, doch die Frau macht nicht den Eindruck, mit meinem Namen etwas anfangen zu können. “Kommandant Richwalder hat mich angewiesen, mich heute Morgen hier zu melden und …”

“Oh, ja.” Nun steht sie doch noch auf und mustert mich von Kopf bis Fuß. “Sie sind die neue Assistentin des Kommandanten.” Dabei betont sie meine Berufsbezeichnung mit einem unergründlichen Anflug von Spott, der mir Unbehagen bereitet. Sie gibt mir ein Zeichen, ich solle ihr durch die andere Tür in den nächsten Raum folgen. “Das ist das Vorzimmer”, erklärt sie.

Ich sehe mich um und stelle fest, dass der Raum zwar kleiner als das Empfangszimmer, dafür schöner eingerichtet ist. Durch zwei Fenster weht eine angenehm kühle Brise herein. “Hier werden Sie arbeiten. Das Büro des Kommandanten befindet sich hinter der Tür dort.” Mit einer Kopfbewegung deutet sie auf eine Tür an der gegenüberliegenden Wand. “Der Kommandant musste heute Morgen zu einem Treffen, er entschuldigt sich, dass er Sie nicht persönlich willkommen heißen kann.” Nur schwer kann ich mir vorstellen, dass sich der Kommandant jemals für irgendetwas entschuldigt.

Die Frau redet weiter, als würde sie eine Ansprache halten. “Wir genießen das Privileg, in der Kanzlei des Generalgouverneurs zu arbeiten. Nur die ranghöchsten Vertreter und ihre Mitarbeiter sind in der Burg untergebracht. Der Rest des Generalgouvernements befindet sich in den Verwaltungsgebäuden am Außenring, am anderen Ende der Stadt.”

Ich nicke, während ich mich mit der Idee anzufreunden versuche, es sei ein Privileg, für die Deutschen zu arbeiten.

“Der Kommandant untersteht direkt dem Gouverneur. Ihre Aufgaben wird er Ihnen genauer erklären, wenn er zurückkehrt. Für den Anfang können Sie sich um seinen Terminkalender kümmern und seine Korrespondenz bearbeiten.” Das Wort Korrespondenz betont sie dabei, als ginge es um die nationale Sicherheit. “Ich bin Malgorzata Turnau”, erklärt sie abschließend. “Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann, lassen Sie es mich bitte wissen.”

“Danke.” Mir wird klar, dass der Posten dieser Frau meinem untergeordnet ist. Ihren leisen Spott, als sie meine Berufsbezeichnung aussprach, kann ich jetzt auch deuten: Eifersucht. Vermutlich hatte sie gehofft, auf diesen Posten aufrücken zu können. Aber jedes Mitleid, das diese Überlegung in mir weckt, erhält sofort einen Dämpfer, wenn ich an die Ehrfurcht in ihren Worten und an den inbrünstigen Ausdruck in ihren Augen denke. Ganz offensichtlich gehört sie zu jenen Polen, die sich schnell auf die Seite der Deutschen gestellt haben. Es gibt keinen Zweifel, dass sie alles tun würde, um die Gunst des Kommandanten für sich zu gewinnen. Als Krysia sagte, ich solle niemandem trauen, da dachte sie wohl auch an Menschen wie Malgorzata. Ich weiß, diese Frau wird jeden meiner Schritte beobachten.

Malgorzata geht zum Schreibtisch hinüber, der auf der linken Seite des Zimmers gleich unter einem der Fenster steht. “Das ist die Eingangspost des Kommandanten.” Sie nimmt ein Klemmbrett und reicht es mir. “Sie öffnen jeden Umschlag und erfassen den Eingang nach Absender, Datum und Betreff.” Dann zeigt sie mir, nach welchen Kriterien die Briefe gestapelt werden sollen: ein Stapel für die Post, die der Kommandant zu sehen bekommen muss; ein Stapel, der mit einem Formschreiben beantwortet werden kann; ein dritter und letzter Stapel für die Briefe, die an andere Offiziere weiterzuleiten sind. “Und öffnen Sie nichts, das den Vermerk Vertraulich trägt”, sagt sie abschließend, dann verlässt sie das Zimmer und wirft die Tür hinter sich zu.

Als ich allein bin, wage ich es auszuatmen. Ich setze mich an den Schreibtisch, auf dem ich neben den Briefen auch eine Auswahl an Büromaterial entdecke, das ich auf dem Tisch und in den Schubladen verstaue. Nachdem das erledigt ist, sehe ich mich an meinem neuen Arbeitsplatz um. Das Vorzimmer ist ungefähr drei mal fünf Meter groß, dem Schreibtisch gegenüber stehen ein Sofa und ein niedriges Tischchen. Die Fenster sind so hoch, dass man fast nicht hinausschauen kann. Aber wenn ich mich lang mache und auf die Zehenspitzen stelle, kann ich ein kleines Stück vom Fluss sehen.

Ich lege den Stapel Eingangspost vor mich auf den Tisch und beginne, die Umschläge zu öffnen. Mit Blick auf das, was Krysia mir gesagt hat, versuche ich so viel wie möglich von dem zu lesen, was man dem Kommandanten schreibt. Allerdings ist die Post für ihn auffallend banal und besteht in erster Linie aus Einladungen zu den verschiedensten Anlässen und sehr sachlichen, offiziellen Berichten voller militärischer Begriffe, mit denen ich nichts anfangen kann. Nachdem ich etwa ein Drittel des Stapels durchgesehen habe, stoße ich auf einen versiegelten Umschlag, auf dem mit roter Tinte das Wort Vertraulich geschrieben steht. Ich halte den Brief gegen das Licht, es erweist sich jedoch als unmöglich, durch das dicke Papier hindurchzusehen. Ich betrachte das Siegel genauer und überlege, ob es sich wohl wieder verschließen lässt, wenn es erst einmal geöffnet wurde. Mit dem Fingernagel versuche ich, es zu lösen.

In diesem Augenblick geht die Tür auf, und der Kommandant betritt das Vorzimmer. Den Umhang trägt er über die Schultern gelegt. Mir stockt der Atem. Dieser Mann ist noch beeindruckender, als ich ihn in Erinnerung hatte. Ein kleinerer Mann, ebenfalls in Uniform, folgt ihm. Er trägt zwei schwarze Lederaktentaschen. Sofort stehe ich auf. “Anna”, sagt der Kommandant lächelnd und stellt sich an den Schreibtisch. Er nimmt meine rechte Hand, und fast rechne ich damit, dass er mir so wie bei Krysia einen Handkuss gibt, doch dann schüttelt er sie nur. “Willkommen.” Er deutet auf den Uniformierten neben sich. “Das ist Oberst Diedrichsen, mein Adjutant.”

Diedrichsen stellt die Aktentaschen ab und sieht mich ernst an. “Was machen Sie denn damit?”, will er wissen.

Ich erstarre vor Schreck. Mir ist entfallen, dass ich den Briefumschlag mit dem halb geöffneten Siegel immer noch in der Hand halte. “M-Malgorzata sagte mir, ich solle die Post öffnen”, bringe ich heraus.

“Hat sie Ihnen nicht gesagt, dass vertrauliche Briefe nicht geöffnet werden?”, fährt er mich an. Ich zucke mit den Schultern und schüttele leicht den Kopf, dabei bete ich, dass er sie nicht fragen wird.

“Ich bin mir sicher, dass es nur ein Missverständnis war”, wirft der Kommandant ein.

“Dies” – Oberst Diedrichsen reißt mir den Umschlag aus der Hand – “ist der Grund, warum ich lieber Personal aus Berlin herholen wollte.”

“Danke, Oberst, das wäre dann alles”, geht der Kommandant über die Bemerkung hinweg.

Diedrichsen hebt den rechten Arm. “Heil Hitler”, sagt er, nimmt seine Aktentasche und macht auf dem Absatz kehrt. Nachdem er gegangen ist, wendet sich der Kommandant wieder mir zu, geht zur nächsten Tür und gibt mir mit einer Geste zu verstehen, dass ich eintreten soll. Mit zitternden Händen nehme ich meinen Notizblock und folge ihm.

Sein Büro ist mit nichts zu vergleichen, was ich je gesehen habe. Es ist unglaublich groß, größer noch als eine ganze Etage in Krysias Haus. Ich habe das Gefühl, drei Zimmer in einem zu sehen. Gleich hinter der Tür stehen ein Sofa und gut ein halbes Dutzend Sessel wie in einem Wohnzimmer um einen flachen Tisch herum. Am anderen Ende des Raums beansprucht ein Konferenztisch einigen Platz für sich, an ihm zähle ich mindestens vierzehn Stühle. Zwischen diesen Bereichen steht ein gigantisch großer Mahagonischreibtisch, auf einer Ecke ist ein einzelner Bilderrahmen aufgestellt. Diesem Schreibtisch gegenüber entdecke ich eine hoch aufragende Standuhr. Die dicken roten Samtvorhänge an der Wand hinter dem Schreibtisch sind aufgezogen, sie werden mit goldfarbenen Kordeln zurückgehalten, sodass die Fensterfront einen atemberaubenden Blick auf den Fluss gewährt.

Der Kommandant deutet auf das Sofa. “Setzen Sie sich doch bitte”, fordert er mich auf und geht selbst zum Schreibtisch. Ich nehme Platz und warte ab, während er einen Stoß Papiere durchsucht. Im nächsten Moment sieht er auf. “Ich nehme an, Malgorzata hat Ihnen Ihre grundlegenden Aufgaben erklärt, nämlich Korrespondenz und Terminplanung.” Ich nicke. “Wenn mehr nicht nötig wäre, könnte das jeder andere erledigen, sogar Malgorzata. Anna”, fügt er dann meinen Namen an und kommt auf mich zu. Während er sich nähert, läuft mir ein Schauer über den Rücken.

“Ist Ihnen kalt?”, fragt er, da er offenbar mein Frösteln bemerkt hat.

“N-nein, Herr Kommandant”, stammele ich und verfluche meine Nervosität. Ich muss mir mehr Mühe geben, sie mir nicht anmerken zu lassen.

“Ah, gut.” Er setzt sich in den Sessel mir gegenüber. Als er sich zu mir vorbeugt, bemerke ich plötzlich an seinem Revers einen Anstecker mit Hakenkreuz. Trug er den beim letzten Mal auch schon? Es war mir nicht aufgefallen. Allerdings habe ich zu dem Zeitpunkt auch noch nicht gewusst, was Sachsenhausen ist. “Anna”, fährt er fort. “Ich bin direkt dem Generalgouverneur unterstellt. Ludwig hatte gar nicht so unrecht mit dem, was er auf der Abendgesellschaft sagte: Es ist tatsächlich meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass jeder Befehl des Gouverneurs ausgeführt wird. Absolut jeder Befehl.” Er hebt dabei die Augenbrauen an, als wolle er so seine Worte unterstreichen. “Viele Männer würden diesen Posten nur allzu gern innehaben.” Er steht auf und geht vor mir unruhig auf und ab. “Das Generalgouvernement ist voller falscher Schlangen, die zwar beteuern, nur dem Reich zu dienen, mir aber am liebsten ein Messer in den Rücken jagen würden, während sie mir noch die Hand schütteln.” Er senkt seine Stimme ein wenig. “Daher benötige ich eine Assistentin, die verschwiegen, intelligent und vor allem loyal ist. Sie sind nicht nur meine Assistentin, sondern Sie halten für mich auch Augen und Ohren offen.” Er hält inne und bleibt abermals vor mir stehen, um mir tief in die Augen zu sehen. “Verstehen Sie das?”

“J-ja, Herr Kommandant”, bringe ich über die Lippen, gleichzeitig wundere ich mich darüber, dass er mich für loyal hält.

“Gut. Ich habe Sie nicht nur ausgewählt, weil Sie außergewöhnlich klug sind und Deutsch sprechen, sondern weil ich fühle, daß ich Ihnen vertrauen kann.”

“Danke, Herr Kommandant.” Er vertraut mir. Fast wird mir übel.

Wieder geht er vor mir auf und ab. “Jeden Morgen werden wir uns zusammensetzen und meinen Terminplan durchsehen. Sie bekommen dann die Aufgaben übertragen, die Sie bitte noch am gleichen Tag erledigen. Für den Augenblick genügt es, wenn Sie sich einen Überblick über die bisherige Korrespondenz verschaffen. Ich hatte seit über einem Monat keine Assistentin mehr, und ich wollte nicht, dass jemand anders diese Arbeiten erledigt.” Mir kommt die Frage in den Sinn, was wohl mit meiner Vorgängerin geschehen sein mag. “Wie Sie von Oberst Diedrichsen gehört haben, werden Sie keine Post öffnen, die als vertraulich gekennzeichnet ist. Klar?” Wieder nicke ich. “Gut. Sie haben die höchste Stufe der Zugangsberechtigung, die eine Polin bekommen kann. Trotzdem gibt es ein paar Dinge, die auch für Sie tabu sind.” Innerlich bin ich entmutigt. Gerade vertrauliche Briefe enthalten doch die für uns so wichtigen Informationen.

“Ich werde Oberst Diedrichsen bitten, heute Vormittag noch einmal herzukommen. Von ihm bekommen Sie alles, was Sie brauchen, und er kann Ihnen während meiner Abwesenheit auch alles Notwendige erklären.” Der Kommandant geht zurück zum Schreibtisch, und nach ein paar Sekunden wird mir klar, dass das Gespräch beendet ist. Ich stehe auf und will gehen, da ruft er mir “Anna” nach. An der Tür stehend sehe ich zu ihm. Er blickt mich eindringlich und völlig ernst an. “Meine Tür steht Ihnen immer offen.”

“Vielen Dank, Herr Kommandant.” Ich ziehe mich ins Vorzimmer zurück und sinke zitternd auf meinen Stuhl.

Nach dem Gespräch mit dem Kommandanten geht mein erster Arbeitstag schnell vorüber. Die Zeit bis Mittag verbringe ich damit, die Eingangspost zu öffnen, dann kommt Oberst Diedrichsen und macht mit mir einen Rundgang durch die anderen Büros, um mich dem Personal vorzustellen. An der Art, wie die Mitarbeiter mich mustern, erkenne ich, dass meine Einstellung als Assistentin des Kommandanten großes Interesse geweckt hat. Schließlich bringt mich der Oberst noch in die Sicherheitsabteilung, wo ich meinen Dienstausweis erhalte. Auf dem Rückweg zum Büro des Kommandanten gehen wir an einer anderen massiven Eichentür vorbei, auf der ein Messingsiegel prangt.

“Das Büro des Gouverneurs”, sagt Diedrichsen mit ernster Miene und geht weiter. Seine Stimme klingt fast ehrfürchtig.

Den Nachmittag verbringe ich damit, die Aktenschränke neu zu sortieren. Die Akten sind völlig durcheinander abgelegt worden, was es fast unmöglich erscheinen lässt, dass meine Vorgängerin erst vor einem Monat gegangen ist. Die Bibliothekarin in mir bekommt die Oberhand, und ich beginne zu ordnen: erst geografisch, sodass es einen Stapel für Kraków und je einen Stapel für die umliegenden Regionen gibt. Zwei Stunden später habe ich Ordnung geschaffen, bislang aber kein Dokument entdecken können, das wirklich wichtige Informationen enthält. Mir drängt sich die Frage auf, ob der Kommandant noch über andere Kanäle Mitteilungen erhält.

Für den Rest des Tages bekomme ich den Kommandanten nicht mehr zu sehen. Um fünf Uhr packe ich meine Sachen zusammen und gehe. Als ich im Bus sitze, lehne ich meinen pochenden Kopf gegen die Fensterscheibe. Ich fühle mich erschöpft, was weniger auf die Arbeit an sich als vielmehr auf meine Nerven zurückzuführen ist. Aber ich habe meinen ersten Tag im Hauptquartier der Nazis lebend überstanden.

Kaum habe ich Krysias Haus betreten und meine Sachen abgelegt, da kommt Łukasz auf mich zugestürmt und klammert sich an meinem Bein fest. “Er hat dich den ganzen Tag über vermisst”, lässt mich Krysia wissen, nachdem ich den Jungen auf den Arm genommen habe. “Wir waren im Park, und ich habe versucht, mit ihm zu spielen, aber er hielt immer nur Ausschau nach dir.”

Wir gehen in den Salon, ich setze mich hin und halte Łukasz ein Stück weit weg von mir, um ihm die blonden Locken aus dem Gesicht zu streichen. Seine Augen bewegen sich hektisch hin und her, und sein Griff um meinen Arm wird fester, als fürchte er, ich könnte ihn wieder verlassen. Der arme Kleine hat in seinem jungen Leben schon zu oft erfahren müssen, dass jemand aus dem Haus ging und nicht wiederkam. “Schhht”, mache ich besänftigend, drücke ihn wieder an mich und wiege ihn sanft hin und her. “Manchmal muss ich den Tag über weggehen, kochany, aber am Abend werde ich immer zu dir zurückkommen. Immer.” Er lockert seinen Griff nicht, sondern vergräbt den Kopf an meiner Schulter, gibt jedoch nach wie vor keinen Ton von sich.

“Wie war es?”, fragt Krysia einige Stunden später, als wir gegessen haben und mit unseren Teegläsern ins Arbeitszimmer umziehen. Beim Abendessen hatte sich Łukasz unverändert an meinem Hals festgeklammert, und erst als er in meinen Armen fest eingeschlafen war, konnte ich ihn ins Bett legen.

“Nicht allzu schlecht”, antworte ich zurückhaltend. Wie sollte ich ihr die Wahrheit sagen, dass es entsetzlich und auf eine sonderbare Art gleichzeitig aufregend war? Ich hasse es, von Nazis umgeben zu sein, trotzdem hat es mich begeistert, in einem so großen Büro in der Wawelburg zu arbeiten. Und dann ist da auch noch Kommandant Richwalder. Die Luft kommt mir wie elektrisiert vor, wenn er sich in meiner Nähe aufhält. Aber auch er ist ein Nazi, und etwas anderes als Hass und Abscheu für einen solchen Mann zu empfinden … beim bloßen Gedanken daran möchte ich mich in Grund und Boden schämen. Nach einer verlegenen Pause greife ich nach meiner Tasche und zeige Krysia den Dienstausweis, den mir Oberst Diedrichsen ausstellen ließ.

“Ja.” Sie hält den Ausweis ins Licht und betrachtet ihn mit Kennerblick. “Das ist tatsächlich die höchste Zugangsberechtigung, die ein Pole bei den Deutschen bekommen kann. Unsere Freunde in Gdańsk haben ganze Arbeit geleistet, um deine dortige Vergangenheit zu belegen. Mit diesem Pass kommst du überallhin.”

“Es gibt trotzdem Dinge, die ich nicht zu sehen bekomme”, erwidere ich. “Vertrauliche Dokumente sind tabu. Und das meiste andere, was ich zu Gesicht kriege, ist routinemäßige Korrespondenz.”

“Keine Eile, meine Liebe. Du musst Geduld haben. Wenn der Kommandant dich erst einmal besser kennt, wirst du sein Vertrauen gewinnen. Dann wird er dich in Dinge einweihen, die er dir sonst nicht sagen würde.” Sie gibt mir den Ausweis zurück. “Ich werde das sofort Alek wissen lassen.”

“Alek?” Ich stecke den Ausweis zurück in meine Tasche und sehe Krysia verwundert an. Ist er denn noch im Ghetto? Wie kann Krysia mit ihm Kontakt aufnehmen? Und steht sie vielleicht auch mit Jakub in Verbindung? Ich zögere, weil ich nicht zu viele Fragen stellen möchte. Wenn sie Neuigkeiten von Jakub hätte, würde sie es mich ganz bestimmt wissen lassen.

“Ja, ich habe ihm schon die Nachricht von deiner höchst erfreulichen Anstellung in der Wawelburg zukommen lassen. Er glaubt, du könntest uns dort sehr von Nutzen sein.” Sie trinkt einen Schluck Tee und sieht aus dem Fenster, durch das man die Sonne beobachten kann, wie sie hinter Las Wolski versinkt. Nach einer kurzen Pause fährt sie fort: “Natürlich nicht sofort. In den ersten Wochen werden die Deutschen ein wachsames Auge auf dich haben. Genauso wie ihre polnischen Spitzel.” Bei diesen Worten verzieht sie verächtlich den Mund.

“Ich weiß. Ich glaube, eine von denen habe ich bereits kennengelernt.” Als ich von Malgorzata berichte, sehe ich im Geiste wieder die Frau mit den gehässigen Gesichtszügen vor mir.

Krysia tätschelt meine Hand. “Keine Sorge. Mach du erst einmal deine Arbeit, damit der Kommandant dich ins Vertrauen nimmt”, betont sie abermals. “In der Zwischenzeit werde ich bei Alek erfragen, was genau ihm eigentlich vorschwebt.”