21. KAPITEL

Zum Mittagessen gibt es Chulent, eine dicke Suppe aus Rindfleisch, Kartoffeln und Bohnen, die ich als Kind jeden Sabbat mittags und abends von meiner Mutter serviert bekam. Natürlich wagen wir nicht, dieses Gericht bei seinem eigentlichen Namen zu nennen. Ich habe gehört, wie Krysia Łukasz erklärte, dass es einen Fleischeintopf zu essen gibt. Innerlich musste ich dabei zusammenzucken. Ausgerechnet der Sohn eines Rabbi wächst auf, ohne etwas über dieses jüdische Sabbat-Gericht zu erfahren. Seit über einem Jahr habe ich es selbst nicht mehr zu essen bekommen, doch jetzt, mitten im tiefsten Winter, ist es die eine Mahlzeit, nach der ich mich sehne.

Es ist Mitte Februar, fast zwei Monate sind seit dem Bombenattentat auf das Warszawa Café vergangen. “Eine große Heldentat”, habe ich einen Mann auf der Straße leise darüber sagen hören, eine Meinung, der ich auf das Schärfste widerspreche. Ein paar Nazis wurden getötet. Na und? Das war nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Und welcher Preis wurde für diese “Heldentat” bezahlt? Alek, das Rückgrat der Bewegung, ist tot. Ihn hat man in der Nacht nach dem Anschlag in seiner Wohnung erschossen. Mir kommen die Tränen, wenn ich an unsere letzte Begegnung denke, bei der er sich so fest entschlossen zeigte und keine Angst vor den vor ihm liegenden Gefahren hatte. Die Zeitungen haben ihn als Kriminellen dargestellt, der auf der Flucht erschossen wurde. Ich kenne die Wahrheit, die mit dieser Lüge nichts gemein hat.

Was Jakub angeht, haben Krysias Nachforschungen nur wenig mehr ergeben als das, was wir bereits wussten: Er wurde bei dem Anschlag verletzt und aus der Stadt gebracht. Einer von Krysias Kontakten vermutet, dass er sich in den Bergen auskuriert. Offenbar wurde er nicht von einer Kugel getroffen, sondern von Splittern der Explosion. Über die Schwere seiner Verletzungen weiß man noch immer nichts Genaues.

Nach dem Tod von Alek und der Festnahme einer Reihe weiterer Widerstandskämpfer – darunter auch Marek – ist die Bewegung mehr oder weniger führungslos, sodass es nahezu unmöglich ist, an Informationen zu kommen. Ich weiß nicht mal, was seit unserer Begegnung in der ulica Floriańska aus Marta geworden ist. Sicherlich würde sie sich melden oder mir Neuigkeiten über Jakubs Zustand zukommen lassen, wenn sie das könnte. Ich frage mich, ob sie ihn inzwischen wohl gesehen hat. Jakub. Sein Gesicht taucht vor meinem geistigen Auge auf. Ich denke inzwischen so gut wie immer an ihn. Manchmal kommen die schönen Erinnerungen hoch, Erinnerungen an unsere Wohnung in der ulica Grodzka, an unsere letzte gemeinsame Nacht, die wir dort verbrachten. Aber ich sehe auch andere Bilder: wie er in irgendeiner Hütte liegt, blutverschmiert, mit Schmerzen und ganz allein. So sehr ich mich auch anstrenge, ich kann diese Bilder nicht aus meinem Kopf verbannen. Sei stark, bete ich, und komm zu mir zurück.

Alles – das Ghetto, meine Anstellung bei den Deutschen und sogar die Affäre mit dem Kommandanten – alles habe ich ertragen können, weil ich wusste, dass Jakub irgendwo da draußen ist und wir wieder zusammenkommen werden. Ich weiß nicht, wie ich weitermachen soll, wenn er nicht überlebt.

Der Anschlag hat noch andere Konsequenzen nach sich gezogen. Der über Kraków verhängte Ausnahmezustand bleibt weiterhin bestehen. Die Gestapo wacht an jeder Ecke, und immer wieder werden unbescholtene Bürger angehalten und verhört. Außerdem herrscht zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang eine strikte Ausgangssperre. Es sind aber nicht die Polen, denen meine größte Sorge gilt. Unter dem Zorn der Nazis mussten zweifellos die Juden im Ghetto am stärksten leiden. Ich muss an meine Eltern denken, während ich das Chulent rühre. Fürchterliche Geschichten sind mir zu Ohren gekommen, die man sich auf der Straße ebenso erzählt wie hinter vorgehaltener Hand in den Fluren der Burg. So sollen Juden willkürlich zu Gruppen zusammengetrieben und an eine Mauer gestellt worden sein, um sie zu erschießen.

Von Malgorzata hörte ich dieses Gerücht ebenfalls. Ihr war nichts von ihrer sonst so typischen Arroganz und Gehässigkeit anzumerken, und zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass sie vielleicht auch jemanden im Ghetto kennt, dessen Existenz sie so wie ich verschweigt. Ich hätte sie zu gern gefragt, woher sie diese Dinge weiß. War es eines von diesen Gerüchten unter Sekretärinnen, die sich im Hauptquartier herumsprechen und dabei immer größere Dimensionen annehmen? Oder hat sie ein offizielles Telegramm zu sehen bekommen, das den Vorfall im Detail wiedergibt? Ersteres trifft meiner Meinung nach eher zu, denn so gewissenhaft die Deutschen auch sind, ihre Grausamkeiten halten sie nur selten schriftlich fest. Es kommt mir so vor, als sei ihnen längst klar, dass sie eines Tages für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden.

Ich hatte Krysia wegen des Gerüchts fragen wollen, ließ es letztendlich aber sein. Die jüngsten Ereignisse haben ihr schon genug zugesetzt, da will ich sie nicht mit noch mehr Sorgen behelligen. Außerdem kann ich ihre Reaktion ohnehin vorhersagen: Sie würde mir erklären, die Berichte seien maßlos übertrieben, und selbst wenn sie der Wahrheit entsprächen, würden bei so vielen Menschen im Ghetto ganz sicher nicht meine Eltern zu denjenigen gehören, die man erschossen hat. Solche Worte können mir nicht mehr viel Trost spenden.

Ist den Mitgliedern des Widerstands denn nicht der Gedanke gekommen, dass die Nazis einen solchen Anschlag nicht tatenlos hinnehmen werden? Wieder komme ich zu dem Schluss, dass es ihnen egal gewesen sein muss.

Ich schiebe den Topf von der Kochstelle, dann fülle ich den Inhalt in eine Terrine um. Zwar trauere ich um Alek und bin voller Sorge um meinen Ehemann, doch vor allem verspüre ich ungeheuren Zorn, wenn ich darüber nachdenke, wie dumm und kurzsichtig diese “Heldentat” gewesen ist.

Trotz allem sind wir gezwungen, wie gewohnt weiterzumachen. Nur weil ich das Gefühl habe, meine eigene Welt sei stehen geblieben, geht das Leben um mich herum dennoch weiter. Jeden Morgen stehe ich auf, fahre in die Stadt und begebe mich in mein Büro, als sei alles in bester Ordnung. Manchmal meint Malgorzata oder eine andere Sekretärin zwar, ich sei schweigsamer als früher. Aber davon abgesehen gelingt es mir recht gut, den Schein zu wahren.

Als ich die schwere Terrine hochhebe, verlassen mich für einen Moment meine Kräfte. Mir wird heiß, dann wieder eiskalt. Schweiß tritt mir auf die Stirn, mir wird übel. Die Terrine mit Chulent rutscht mir aus den Händen und fällt auf den Fußboden, wo das Porzellan in tausend Stücke zerbricht. Die dickflüssige Suppe verteilt sich auf dem Boden.

“O nein!” Entsetzt presse ich die Hände auf meinen Mund. Die Terrine war eines von Krysias Lieblingsstücken, ein Hochzeitsgeschenk, das all die Jahre überstanden hat.

Krysia, die mit Łukasz am Tisch sitzt und auf das Essen wartet, steht sofort auf und kommt zu mir, um sich um mich zu kümmern.

“Es tut mir so leid”, sage ich und beginne zu weinen.

“Ist schon gut”, erwidert sie sanft.

“Nein, das ist es nicht”, schluchze ich kopfschüttelnd. Die zerbrochene Terrine scheint der Tropfen zu sein, der das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht hat. Plötzlich muss ich an den Morgen denken, an dem ich von Aleks Tod erfuhr. Ich hatte mich zwingen müssen, das Telegramm zu den anderen zurückzulegen und weiterzuarbeiten, ohne auf diese Nachricht zu reagieren. Nicht einmal am Abend hatte ich geweint, als ich Krysia davon berichtete. Jetzt auf einmal stürzen Trauer, Sorge und Hilflosigkeit der letzten Wochen auf mich ein. Ich weine um Alek, der die Bewegung so tapfer angeführt und meine Verbindung zu Jakub wiederhergestellt hat. Ich weine um den verletzten Ehemann, bei dem ich nicht sein kann, um meine Eltern und auch um die namenlosen Fremden, die man im Ghetto erschossen hat. Ich weine um Margot und ihren Vater, um mich, Krysia und Łukasz – einfach um jeden von uns.

Krysia nimmt mich in die Arme. “Na, komm”, murmelt sie und wiegt mich sanft, ganz so wie sie es sonst mit Łukasz macht, wenn er sich das Knie aufgeschrammt hat. Ich lege meinen Kopf an ihre Schulter und lasse mich in ihre Arme sinken.

“Es tut mir leid”, wiederhole ich unter Tränen. Ich merke, wie der Stoff ihres Kleides meine Tränen aufsaugt, aber es ist mir gleichgültig. “Es ist einfach so, dass …”

“Ich weiß”, sagt sie besänftigend. “Ich weiß, ich weiß …” Plötzlich stutzt sie und hört auf, mich zu wiegen.

Durch die Tränen hindurch sehe ich sie an. “Was ist los?”

Sie legt eine Hand auf meinen Bauch, die andere an meine Wange. “Emma, bist du … schwanger?”

Ich weiche zurück und straffe die Schultern, mit dem Ärmel wische ich mir über die Augen. “Schwanger?”, wiederhole ich das Wort, als stamme es aus einer mir fremden Sprache. Plötzlich sehe ich Łukasz’ Mutter vor mir, wie sie tot auf dem Boden liegt, einen leblosen Arm schützend über ihren Bauch gelegt. Schwangerschaft bedeutete Leben, aber in diese düstere Welt darf kein neues Leben gebracht werden. “Nein …”

“Ganz bestimmt nicht?”, hakt sie nach, doch ich schüttele den Kopf. Schwanger werden verheiratete Frauen, die ein normales Leben führen. Frauen, die das Glück haben, sich jeden Abend zu ihrem Ehemann ins Bett zu legen. Margot war schwanger gewesen. “Du bist nämlich in der letzten Zeit nicht so ganz du selbst. Du hast dunkle Ringe unter den Augen, außerdem habe ich gehört, dass du dich morgens übergibst …” Was Krysia dann weiter sagt, bekomme ich nicht mehr mit, da meine Ohren zu summen beginnen. Mir wird bewusst, dass ich über Wochen hinweg versucht habe, diese Sache zu ignorieren. Seit drei Monaten bekomme ich nicht mehr meine Tage. Ich habe mir einzureden versucht, meine Periode sei durch die Belastung völlig aus dem Rhythmus geraten. Aber es gibt noch andere Anzeichen – Übelkeit und Schwindel, dazu ein Bauch, der beständig runder wird, obwohl wir stets nur bescheidene Portionen zu essen haben.

Jetzt, da Krysia es ausspricht, weiß ich, es ist wahr. Ich nicke nur, da ich kein Wort herausbringen kann.

Meine Bestätigung scheint sie nicht zu überraschen. “Wie lange?”

“Vermutet habe ich es erst seit ein paar Tagen”, behaupte ich prompt, da Krysia nicht glauben soll, ich hätte ihr etwas verschwiegen. “Bis jetzt war ich mir nicht einmal sicher.”

“Nein, ich meine, wie lange du schon schwanger bist.”

Ich zucke mit den Schultern. “Ich weiß nicht …”

“Ein Arzt könnte es uns sagen, wenn es noch einen vertrauenswürdigen in der Stadt gäbe”, beklagt sich Krysia. “Wann war deine letzte Periode?”

Ich werde rot, weil ich es nicht gewöhnt bin, über solche Dinge zu reden. “Etwa vor drei Monaten.” Ich sehe, wie sie zurückrechnet und festzustellen versucht, ob der Zeitpunkt mit dem einzigen Besuch meines Mannes zusammenfällt. Ich weiß, es ist nicht der Fall. “Ob es Jakubs Kind ist, weiß ich nicht”, füge ich leise hinzu.

Sie wirft mir einen stechenden Blick zu. “Danach habe ich nicht gefragt.”

“O Gott …” Erst allmählich wird mir bewusst, was das bedeutet. Ich bin schwanger, und der Kommandant ist der Vater des Kindes. Wieder wollen meine Knie nachgeben.

Als Krysia das bemerkt, hilft sie mir zu einem Stuhl. “Atme tief durch”, weist sie mich an und stellt mir ein Glas Wasser hin. “Trink das.”

Ich setze mich und trinke in kleinen Schlucken, da ich immer wieder schluchzen muss. “Es tut mir so leid.”

“Das musst du nicht sagen, es ist nicht deine Schuld.” Krysia geht zum Schrank und holt Besen und Kehrblech heraus. Nicht meine Schuld?, überlege ich, während ich ihr zusehe, wie sie die Bescherung aufräumt, die ich angerichtet habe. Ich komme mir so dumm vor. Ich hätte es besser wissen sollen. Aber woher? Ich weiß so wenig über das Kinderkriegen. Meine Mutter hat mit mir über solche Dinge nicht geredet, auch nicht unmittelbar vor meiner Heirat mit Jakub. Eine Frau versucht nicht, eine Schwangerschaft zu vermeiden – zumindest spricht sie nicht darüber. Es ist ihre Pflicht, so viele Kinder zur Welt zu bringen, wie Gott es von ihr erwartet. Ich habe die Mädchen in meiner Nachbarschaft tuscheln hören, dass es zu bestimmten Zeiten im Monat weniger wahrscheinlich ist, schwanger zu werden. Aber ich habe nicht so genau verstanden, was sie damit meinten, und ich wagte erst recht nicht, sie zu fragen. Ich hätte daran denken sollen, als diese Affäre mit dem Kommandanten ihren Anfang nahm. Vielleicht hätte mir Krysia helfen können, vorsichtiger zu sein, doch es ist ja alles so schnell gegangen. Außerdem bin ich die ganze Zeit nur darauf fixiert gewesen, für Alek Informationen zu beschaffen. Und nun ist es zu spät.

Krysia hat es geschafft, etwas von dem Chulent zu retten, und stellt drei Schälchen auf den Tisch. Einmal mehr wird mir bewusst, wie kostbar jeder Happen Essen ist. Selbst bei einer Katastrophe muss man praktisch denken. Sie nimmt einen Löffel voll Chulent und bläst, bis das Essen genügend abgekühlt ist, damit sie Łukasz damit füttern kann. Abwechselnd nimmt sie selbst einen Löffel, dann wieder gibt sie dem Jungen etwas, bis er satt ist. Ich sitze da und kaue das Fleisch, während ich versuche, nicht nachzudenken.

Als Krysia aufgegessen hat, wendet sie sich an mich. “Weißt du, Emma, ich war auch einmal schwanger. In Paris. Noch vor Marcin.” Erstaunt sehe ich sie an, ihr Geständnis kommt völlig überraschend. Ich wusste nicht, dass sie jemals schwanger gewesen ist, und schon gar nicht wäre mir der Gedanke gekommen, sie könnte außer Marcin noch einen anderen Geliebten gehabt haben. Ich muss daran denken, wie sie mir in den letzten Monaten immer wieder Mut zusprach, wenn ich von meiner Affäre mit dem Kommandanten erzählte, wie sie meine Schuldgefühle zu lindern versuchte, wenn ich nicht wusste, was meine Empfindungen zu bedeuten hatten.

“Wer war es?”, frage ich. Obwohl ich ihn nur von Fotos her kenne, kann ich mir Krysia nur schwer mit einem anderen Mann als Marcin vorstellen.

“Sein Name war Claude”, antwortet sie lächelnd. “Er war Schriftsteller … na ja, zumindest wollte er einer sein. Er wohnte in einem winzigen Zimmer über einem Café. Sein Vermieter ließ ihn dort spülen und den Boden wischen, weil er die Miete nicht bezahlen konnte.” Sie hält inne und betrachtet ihre Finger. Ich bemerke eine dünne Blutspur auf ihrem blassen Handrücken. Beim Aufräumen hat sie sich an einer Scherbe geschnitten. “Ich hätte nie gedacht, dass es dazu kommen würde. Ich war jung, sorglos und verliebt. Wir waren beide verliebt, jedenfalls dachte ich das. Ich war bereit, meine Familie zu verlassen, um mit Claude zusammenzuleben. Doch er sagte, das sei unmöglich, da er keine Familie ernähren könne. Außerdem würde ein Kind ihn einschränken.” Ich sehe die Trauer in ihren Augen, als sie daran zurückdenkt. “Ich hätte das Kind behalten und allein aufgezogen, der Skandal wäre mir gleich gewesen. Doch meine Eltern wollten davon nichts wissen. Die neunzehnjährige, unverheiratete Tochter des Diplomaten bekommt kein Kind. Sie drohten mir, jegliche Zahlungen einzustellen. Ich hätte ohne einen Franc in der Tasche dagesessen.”

“Oh, Krysia”, sage ich.

Sie blickt starr vor sich hin. “Ich hätte mich entscheiden können, mein Kind zu bekommen und mich allein durchzuschlagen. Irgendwie wäre mir das schon gelungen. Aber ich war jung, und ich hatte Angst. Also tat ich, was man von mir verlangte. Ich fragte meine Eltern, ob ich nicht eine Weile verreisen und das Kind anderswo bekommen könne, um es dann zur Adoption freizugeben. Doch sie weigerten sich und sagten, der Skandal wäre zu groß.” Sie steht auf und hält die verletzte Hand in eine Schüssel kaltes Wasser. “Ich ließ meine Eltern entscheiden, und dafür habe ich mein Leben lang bezahlt.” Krysia trocknet ihre Hände an einem frischen Küchentuch ab. Schließlich wendet sie sich wieder mir zu. “Verstehst du, was ich dir sagen will?” Ich nicke. Was immer sie getan hat, hatte offenbar zur Folge, dass sie keine Kinder mehr bekommen konnte. “Gut, denn ein Kind ist ein Segen.” Wie auf ein Stichwort hin kommt Łukasz zu ihr gekrabbelt und zieht an ihrem Rock.

“Aber was, wenn es das Kind des Kommandanten ist?”, frage ich. “Ich meine, was würde Jakub …” Ich bringe es nicht fertig, die Frage auszusprechen.

Krysia, die das Küchentuch um ihre Hand gewickelt hat, bückt sich und hebt leise stöhnend Łukasz hoch, dann lässt sie sich auf einen Stuhl sinken. Der Junge ist längst zu schwer geworden, als dass sie ihn noch tragen kann. “Dein Kind hat eine jüdische Mutter. Es wird also ein jüdisches Kind sein. Und es wird Jakubs Kind sein.” Sie zieht die Augenbrauen hoch, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. “Daran gibt es nichts zu rütteln.” Damit weiß ich, dass das Geheimnis unter uns bleiben wird.

“Jakubs Kind”, wiederhole ich zögerlich. Will Jakub überhaupt Kinder haben? Es gab Zeiten vor dem Krieg, da war ich mir dessen nicht sicher. Einmal vor unserer Heirat sprachen wir über Politik. Damals war er sich nicht sicher, ob er ein Kind in einer Welt aufwachsen lassen will, in der es so viele Probleme und so große politische Ungerechtigkeiten gibt. Seine Worte hatte ich wie eine Ohrfeige empfunden. Ich wollte immer eine eigene Familie haben. Allerdings reagierte ich nicht darauf und widersprach ihm auch nicht. Ich sagte mir, er wird seine Meinung schon ändern, wenn wir erst einmal verheiratet sind und er sein Studentenleben gegen eine ordentliche Arbeit eingetauscht hat. Doch dazu kam es nie, weil der Krieg ausbrach und er sich politisch mehr als je zuvor engagierte. Wir sprachen das Thema nie wieder an, und so frage ich mich, wie er wohl jetzt darüber denkt. Hat der Krieg ihn in seiner Einstellung bestärkt, in diesen Zeiten keine Kinder in die Welt zu setzen? Vielleicht wird er unglücklich über meine Schwangerschaft sein, selbst wenn er das Kind für sein leibliches hält. Dann erinnere ich mich an den Tag, als er mich besuchte. Ich sehe ihn vor mir, wie er sich hinkniet, um mit Łukasz zu reden. Vielleicht wird er ja erkennen, wie wichtig es ist, den jüdischen Glauben durch unsere Kinder an die Nachwelt weiterzugeben.

Diese Dinge spreche ich Krysia gegenüber nicht an. Bestimmt nimmt sie an, dass Jakub Kinder will und dass er ein guter Vater sein wird. “Du musst davon ausgehen, dass es sein Kind ist”, fügt sie noch hinzu, da sie mein Schweigen offenbar meinen Zweifeln an der Vaterschaft zuschreibt. “Notfalls kannst du immer noch behaupten, das Kind sei zu früh zur Welt gekommen.”

Ich sehe sie rätselnd an. “Wie meinst du das?”

“Auf diese Weise passen die Termine zusammen. Frauen, die noch vor ihrer Hochzeit schwanger werden, haben seit jeher diese Ausrede benutzt.”

“Oh”, mache ich überrascht. Mir wird klar, von wie vielen Dingen ich gar keine Ahnung habe.

Sie verzieht den Mund zu einem flüchtigen Lächeln. “Welche Ironie, dass ausgerechnet ein Nazi dazu beigetragen haben könnte, einem weiteren jüdischen Kind zum Leben zu verhelfen.”

“Wenn der Kommandant es herausfindet …”, beginne ich erschrocken, breche aber mitten im Satz ab.

Krysia wird schnell wieder ernst. “Richwalder darf nichts von dem Kind erfahren. Wir müssen dich irgendwie aus der Stadt bringen, bevor es offensichtlich wird. Ich werde versuchen, mich mit den verbliebenen Mitgliedern des Widerstands in Verbindung zu setzen.” Innerlich zucke ich zusammen. Man wird sicherlich mir die Schuld an dieser misslichen Lage geben und sich darüber beklagen, dass der Widerstand sich in einer so schwierigen Zeit mit meinen Problemen befassen muss. Und wenn Marta davon erfährt … ihr traue ich zu, dass sie vermutet, dass der Kommandant der Vater ist.

“Zum Glück sieht man es dir noch nicht an”, redet Krysia weiter. “Aber das wird nicht mehr lange so bleiben. Wir müssen dir Kleidung besorgen, die lockerer sitzt, damit niemand etwas bemerkt. Selbst wenn ich einen Kontakt zur Bewegung herstellen kann, können Wochen vergehen, bis man einen Fluchtplan für dich ausgearbeitet hat. Kannst du bis dahin weiter so tun, als seist du an Richwalder interessiert?” Ich nicke. “Gut. Es wird nicht nur darum gehen, dich aus der Stadt zu bringen. Du musst irgendwohin, wo Richwalder dich nicht finden kann, wenn ihm erst einmal klar geworden ist, dass du geflohen bist.” Mir schaudert, da ich mir vorstelle, wie ich mich im Wald verstecke, während die Deutschen ausschwärmen und mich wie ein Tier jagen.

“Was ist mit Jakub?”, will ich wissen.

“Gute Frage. Wir müssen herausfinden, wo er sich aufhält und wann er wieder genügend bei Kräften ist, um aufzubrechen. Dann könnt ihr zwei euch gemeinsam auf den Weg machen. Am besten zu Frühlingsbeginn, wenn der Schnee taut. Ich bin mir sicher, ihr werdet den Weg durch die Berge nehmen müssen.”

“Und Łukasz?” Als der Junge seinen Namen hört, sieht er zu mir hoch.

Krysia beißt sich auf die Lippe. Ich sehe ihr an, dass sie an unseren Streit denkt, indem es darum ging, Łukasz von hier wegzubringen. “Ich weiß es nicht. Lass mich erst einmal versuchen, an Informationen zu gelangen, dann sehen wir weiter.”

“Meine Eltern …?”

Auch diesmal schweigt sie zunächst. Ich weiß, ich bombardiere sie mit Fragen, auf die sie keine Antworten weiß, aber ich kann einfach nicht anders. “Ich fürchte, jetzt ist es völlig unmöglich geworden, sie noch aus dem Ghetto zu holen”, erwidert sie mit sanfter Stimme.

Mir wird klar, was ihre Worte zu bedeuten haben. “Ich verstehe”, gebe ich zurück. “Aber bevor ich fortgehe, muss ich wissen, wie es ihnen geht.”

Krysia legt die Stirn in Falten. Sie wird kein Versprechen geben, das sie nicht halten kann. In den Wochen nach dem Attentat ist es noch viel schwieriger geworden, an Informationen über das Ghetto zu kommen. “Ich werde versuchen, es für dich herauszufinden.” Sie erhebt sich von ihrem Platz.

“Danke”, sage ich und fasse ihre Hand. “Für alles.”

“Ich räume hier auf”, meint sie, während sie meine Schulter tätschelt. “Ruh du dich ein bisschen aus und mach dir nicht zu viele Sorgen.”

Ich gehe bis zum Fuß der Treppe, wo ich stehen bleibe und mich zu Krysia umdrehe. Sie nimmt einen Teller in die Hand, aber ihr Blick ist starr auf die Wand gerichtet. Vermutlich ist sie in Gedanken wieder bei ihrem Kind. Es muss schmerzhaft gewesen sein, all die Jahre die Wahrheit vor Marcin zu verschweigen. Werde ich eines Tages so sein wie Krysia? Allein mit meinen Geheimnissen, während ich meine Entscheidungen bereue, die ich traf, weil ich überleben wollte? Der Gedanke ist fast unerträglich. Übelkeit überkommt mich in diesem Moment, und ich laufe schnell die Treppe hinauf.