6. KAPITEL

“Am Samstag gebe ich eine Abendgesellschaft”, gibt Krysia so beiläufig bekannt, als würde sie über das Wetter reden. Das feuchte weiße Betttuch entgleitet meinen Händen und fällt auf die Erde.

Wir arbeiten im Garten. Krysia rupft das Unkraut rund um die grünen Pflanzen aus, die eben zu blühen beginnen, während ich die Bettlaken aufhänge, die wir eine Stunde zuvor in einem großen Bottich gewaschen haben. Ein paar Meter entfernt wühlt Łukasz mit einem Stöckchen die Erde auf. Seit über einem Monat wohnen der Junge und ich nun schon bei Krysia. Ich merke ihr an, dass es manchmal zu viel für sie wird. Seit meiner Ankunft versuche ich, ihr so viel Hausarbeit wie möglich abzunehmen, aber das, was sie selbst erledigt, geht ihr dennoch an die Substanz. Ihre zierlichen Hände scheinen mit jedem Tag mehr Schwielen aufzuweisen, und ihre Arbeitskleidung ist von Flecken übersät. Doch trotz aller Opfer scheint es Krysia zu gefallen, dass sie uns um sich hat. Wir sind seit Marcins Tod ihre ersten echten Mitbewohner. Sie und ich, wir sind uns gegenseitig angenehme Gesellschaft. Mal unterhalten wir uns angeregt bei der Hausarbeit, dann wieder versinken wir in tiefes Schweigen. Immerhin gibt es für jeden von uns einiges, über das wir nachdenken können. Ich weiß, sie ist um Jakub genauso besorgt wie ich, zudem gilt ihre Sorge dem Kind und mir. Auf keinen Fall dürfen wir entdeckt werden, nicht auszudenken, was dann geschehen würde.

Die Anwesenheit des Jungen hält uns davon ab, zu tief in Wehklagen zu versinken. Łukasz ist ein hübscher Junge, ruhig und genügsam. In den Wochen, die er inzwischen bei uns ist, hat er allerdings noch kein Wort gesprochen. Auch haben wir bislang vergeblich alles versucht, um ihn zum Lachen zu bringen. Manchmal erfinde ich irgendwelche kindischen Spiele, und Krysia spielt am Abend auf dem Flügel beschwingte Melodien, während ich den Kleinen auf dem Arm halte und mich mit ihm im Takt der Musik drehe. Nichts davon hat bislang etwas bewirkt. Łukasz sieht uns geduldig dabei zu, als würde diese Ausgelassenheit unserer, aber nicht seiner Unterhaltung dienen, und als würde er uns mit seiner Beteiligung einen Gefallen tun. Wenn die Musik verstummt und die Spiele beendet sind, dann nimmt er seine zerlumpte blaue Decke, in der er hergebracht wurde, und zieht sich in eine Ecke zurück.

“Eine Abendgesellschaft?”, wiederhole ich und hebe das Bettlaken von der Erde auf.

“Ja, vor dem Krieg habe ich ziemlich oft solche Gesellschaften gegeben, und von Zeit zu Zeit mache ich das jetzt immer noch. Auch wenn ich nicht mehr so viel Spaß daran habe. Die Gästeliste” – sie verzieht den Mund – “sieht heutzutage etwas anders aus. Aber es ist wichtig, den Schein zu wahren.” Ich nicke verstehend. Vor dem Krieg standen auf dieser Gästeliste Künstler, Intellektuelle und andere wichtige Mitglieder der Gesellschaft. Die meisten Intellektuellen sind inzwischen fort, haben entweder das Land verlassen oder sind wegen ihrer Religion oder politischen Ansichten verhaftet worden. An ihre Stelle sind zweifellos Gäste von einem ganz anderen Schlag gerückt.

Sie wischt sich die Hände an ihrer Schürze ab und zählt die Gäste an ihren Fingern ab. “Der Stellvertretende Bürgermeister Baran.” Das Wort Bürgermeister spricht sie mit unverhohlener Ironie aus. Wladislaw Baran ist ein bekannter Kollaborateur, der so wie fast die gesamte derzeitige Stadtverwaltung von den Deutschen ins Amt berufen worden ist, um als deren Marionette zu fungieren. “Der neue Stellvertretende Stadtdirektor und seine Frau …”

“Nazis”, sage ich verächtlich und wende mich ab. Ich muss mich dem Wunsch widersetzen, auf der Stelle auszuspucken.

“Die Machthaber”, gibt sie mit ruhiger Stimme zurück. “Wir müssen mit ihnen gut stehen.”

“Vermutlich ja.” Mein Magen verkrampft sich bei der Vorstellung, mit diesen Leuten im gleichen Haus zu sein.

“Du bist vor einigen Wochen hergekommen. Es geht nicht, dass meine Nichte bei mir lebt und ich sie den wichtigsten Leuten der Stadt nicht vorstelle.”

“A-aber”, stammele ich. Mir war nicht klar, dass Krysia meine Anwesenheit bei dieser Gesellschaft erwartet. Ich dachte, ich würde mich für die Dauer des Abends im Obergeschoss versteckt halten oder bestenfalls in der Küche helfen.

“Deine Anwesenheit ist unverzichtbar.” An ihrem Tonfall erkenne ich, dass über dieses Thema nicht weiter diskutiert wird.

Kaum hat sie die Abendgesellschaft angesprochen, beginnen auch schon die Vorbereitungen, die den Rest der Woche vollständig für sich beanspruchen. Krysia holt Elżbieta zurück, die Haushälterin mit den roten Wangen, die sie vor meiner Ankunft entlassen hatte. Elżbieta kommt zu uns, ohne einen Groll zu hegen. Vielmehr ist sie energiegeladen und bester Laune, und sofort macht sie sich daran, das Haus von oben bis unten auf Hochglanz zu bringen. Krysia und ich können uns nur schämen, wenn wir sehen, welche Hausarbeit wir mit Mühe und Not zustande gebracht haben.

Es ist offensichtlich, dass Krysia sich freut, Elżbieta wieder im Haus zu haben, und das betrifft nicht nur ihre Fähigkeiten als Köchin und Putzfrau. Elżbietas Freund Miroslaw hat ein besonderes Händchen dafür, Dinge zu organisieren, die es in keinem Geschäft mehr zu kaufen gibt – Delikatessen, die wir für den großen Abend benötigen. Innerhalb von nur zwei Tagen liefert er uns Räucherlachs, feinsten Käse und sogar eine Flasche besonders guten Wodka. “So etwas habe ich vor dem Krieg das letzte Mal gesehen!”, ruft Krysia erfreut aus, als sie die Ausbeute entgegennimmt. Ich hingegen bin einfach nur sprachlos. Um das Mahl abzurunden, plündern wir den Gemüsegarten, ziehen die Salatköpfe heraus, die bereits zu sprießen begonnen haben, und holen aus dem Keller die noch verbliebenen Winterkartoffeln und den Kohl. Zusätzlich kaufen wir unseren Nachbarn das Gemüse ab, das uns noch fehlt.

Am Morgen vor der Gesellschaft hilft Krysia Elżbieta, die Tischdecken zu bügeln und das Silber zu polieren, während ich mich um Brot und Gebäck kümmere. Beim Teigkneten muss ich daran denken, wie ich immer meinem Vater beim Backen geholfen habe. Als Kind empfand ich es jedes Mal als frustrierend, wie widerborstig der Teig war. So sehr ich auch versuchte, ihm eine Form zu geben – ob lang oder rund oder flach –, er widersetzte sich beharrlich all meinen Anstrengungen und kehrte in seine ursprüngliche nichtssagende Form zurück. Nur wenige von meinen missgestalteten Backwerken schafften es überhaupt ins Verkaufsregal, wo sie erst spät am Tag als Letztes einen Käufer fanden. Aber jetzt ist das Backen eine Herausforderung, die ich gern annehme. Ich stelle mir vor, wie ich neben meinem Vater stehe und arbeite, während er das Brot mit sanften, fast magischen Berührungen knetet und formt. Mit seinen dicken Fingern konnte er auch den widerspenstigsten Teig in kunstvollste Formen bringen: Challah-Zöpfe, Hamantaschen für das Purimfest oder Obwarzanki, die knusprigen Kringel, die jüdische und nicht-jüdische Polen gleichermaßen mögen.

“Hier”, sagt Krysia später am Nachmittag und gibt mir ein in braunes Papier gewickeltes Päckchen. Wir befinden uns in der Küche, nachdem wir soeben einen letzten Rundgang durchs Haus gemacht haben, um zu überprüfen, ob auch alles in Ordnung ist. Ich sehe sie verständnislos an, dann lege ich das Päckchen auf den Tisch und öffne es. Zum Vorschein kommt ein neues Kleid, ein hellblaues Kleid mit einem zarten Blumenmuster.

“Das ist wunderschön”, freue ich mich, als ich es hochhalte. Bislang musste ich mich mit Krysias alten Kleidern begnügen, bei denen jedes Mal Ärmel und Saum umgenäht werden müssen, damit sie mir passen. Von klein auf habe ich anderer Leute Kleidung aufgetragen, oder aber sie war in Heimarbeit entstanden. Das hier ist mein allererstes Kleid, das in einem Geschäft für mich gekauft wurde. “Danke.”

“Gern geschehen”, erwidert sie und winkt ab, als sei das nicht der Rede wert. “Und jetzt mach dich fertig.”

Einige Stunden später gehe ich die Treppe hinunter. Das Haus wirkt wie verwandelt. Überall stehen Kerzen, unter Elżbietas wachsamen Blicken köchelt das Essen in den Töpfen auf dem Herd. Aus dem Grammofon ertönt leise klassische Musik. Ich glaube, in der Melodie eine von Marcins Aufnahmen zu erkennen.

Um viertel vor sieben kommt Krysia aus dem zweiten Stock nach unten. Sie trägt einen bis zu den Knöcheln reichenden burgunderroten Rock und eine weiße Seidenbluse, ihr Haar hat sie zu einem Knoten zusammengesteckt, was genau wie die schlichte Perlenkette ihren schlanken Hals betont. Sie sieht erholt aus, als würde ihr der Krieg gar nicht zu schaffen machen. Die Sorgen und die harte Arbeit der letzten Monate sind ihr nicht mehr anzusehen. “Du schaust reizend aus”, sagt Krysia, ehe ich die Möglichkeit habe, ihr ein Kompliment zu machen. Sie zupft eine Fluse von meinem Kragen und tritt dann ein paar Schritte zurück, um mein Kleid zu bewundern.

“Danke”, entgegne ich und werde wieder rot. Mit einem heißen Stab habe ich meine Haare zu Locken gedreht, die jetzt wie ein Wasserfall ausgebreitet auf meinen Schultern liegen. Das Kleid ist das wundervollste, das ich je getragen habe. “Ich wünschte …”, setze ich an, halte jedoch gleich wieder inne. Ich hatte sagen wollen, dass ich wünschte, Jakub könnte mich so sehen. Aber ich will Krysias gute Laune nicht trüben.

Verständnisvoll lächelt sie mich an. “Er würde sagen, dass es dich noch schöner macht, als du ohnehin schon bist.”

Freudestrahlend schaue ich Krysia an, dann gehen wir gemeinsam ins Esszimmer.

“Solche Gesellschaften sind immer eine hektische Angelegenheit”, erklärt sie, während sie über den Tisch greift, um den Orchideenschmuck zurechtzurücken. “Ganz gleich, wie sorgfältig ich plane und wie gut ich mich auf alles vorbereite, es gibt immer wieder Dinge, die man nicht im Voraus erledigen kann. Und das macht die letzten Stunden vor dem großen Abend so chaotisch.”

Ich nicke, als hätte ich genügend Gesellschaften gegeben, um zu wissen, was sie meint. In Wahrheit habe ich nur ein paar in Jakubs Begleitung besucht, und die konnten mich in keiner Weise auf das vorbereiten, was nun vor mir liegt. Heute Abend gebe ich mein Debüt als Christin Anna Lipowski, die Waise aus Gdańsk. Seit meiner Flucht aus dem Ghetto habe ich kaum einmal mit jemandem gesprochen, der nicht zu diesem Haushalt gehört, und der Gedanke an meinen bevorstehenden Auftritt mit völlig neuer Identität bereitet mir Angst. Im Geiste bin ich meine angebliche Vergangenheit wieder und wieder durchgegangen. Krysia hat sich in den letzten Wochen viel Mühe mit mir gegeben, damit mein Verhalten zu meiner Rolle passt. Außerdem hat sie mir geholfen, an der Aussprache verschiedener Begriffe zu feilen, damit ich etwas von dem für das nordwestliche Polen typischen Akzent annehme. Daneben erhielt ich von ihr Nachhilfeunterricht in Katholizismus und weiß nun über Heilige und den Rosenkranz genauso viel wie jedes durchschnittliche polnische Mädchen. Dennoch bin ich nach wie vor besorgt, eine Geste, ein Blick oder irgendetwas anderes könnte mich als Jüdin entlarven.

Aber die Zeit reicht nicht, um mir noch länger Sorgen zu machen. Wenige Minuten nachdem wir das Esszimmer betreten haben, klingelt es an der Tür. “Bereit?”, fragt mich Krysia. Ich schlucke, dann nicke ich knapp. Die Gäste treffen einer nach dem anderen ein, alle mit typisch deutscher Pünktlichkeit. Elżbieta empfängt jeden an der Tür und nimmt Capes und Mäntel entgegen. Ich warte am Fuß der Treppe, neben mir Krysia, die mich den Gästen vorstellt, die ich dann in den Salon führe, wo ich ihnen etwas zu trinken anbiete. Łukasz wird kurz präsentiert und für sein blondes Haar und gutes Benehmen bewundert, dann wird er zu Bett gebracht.

Um zehn nach sieben sind fünf unserer sechs geladenen Gäste anwesend. Im Salon sitzen der Stellvertretende Bürgermeister Baran und seine Ehefrau, außerdem drei Deutsche: General Dietrich, ein ältlicher Witwer, dem im Großen Krieg hohe Auszeichnungen zuteilwurden und dessen Rolle in der Verwaltung nur mehr schmückenden Charakter hat, und Generalmajor Ludwig, ein fetter kahlköpfiger Kerl mit verkniffenen Augen, daneben seine Ehefrau Hilda.

Zehn Minuten verstreichen, schließlich sind es zwanzig, aber noch immer fehlt ein Gast. Niemand lässt eine Bemerkung zu seiner Verspätung fallen, und ich weiß, wir werden so lange mit dem Essen warten, bis er eingetroffen ist. Immerhin hat mir Krysia früher am Tag erklärt, dass Kommandant Richwalder an diesem Abend der wichtigste Gast sein wird.

“Wie gefällt Ihnen Kraków, Anna?”, will Frau Baran wissen, als wir dasitzen und warten.

“Ganz reizend, allerdings hatte ich noch nicht die Zeit, mir so viel von der Stadt anzusehen, wie ich gerne möchte”, entgegne ich. Mich amüsiert der Gedanke, eine Touristin in meiner Geburtsstadt zu sein.

“Sie und Łukasz müssen unbedingt in die Stadt kommen, dann führe ich Sie herum. Mich wundert, dass wir uns noch nicht in der Kirche begegnet sind”, redet sie weiter. Ich zögere, da ich nicht weiß, was ich antworten soll.

Krysia stellt sich hinter mich und greift gerade noch rechtzeitig ein. “Das liegt daran, dass wir noch gar nicht in der Kirche waren. Seit der Ankunft der beiden hier bei mir herrschte ein solcher Trubel, da bin nicht einmal ich selbst zum Kirchgang gekommen. Außerdem war Łukasz letzte Woche erkältet.” Ich blicke auf und versuche, mein Erstaunen zu überspielen. Seit der Junge hier ist, hat er noch nicht mal geniest. Es ist die erste glatte Lüge, die ich aus Krysias Mund höre.

“Vielleicht können wir uns ja an einem der nächsten Sonntage nach der Messe zum Tee treffen”, schlägt Frau Baran vor.

Ich lächle höflich und stelle fest, wie leicht es mir fällt, bei so belanglosen Themen den Schein zu wahren, einfach jemand anders zu sein. “Das wäre mir eine Freu…”, beginne ich, breche aber mitten im Satz ab und starre wie gebannt zur Tür.

“Kommandant Richwalder”, flüstert Frau Baran mir zu. Ich nicke nur, bringe jedoch kein Wort heraus. Es will mir nicht gelingen, den Blick von diesem beeindruckenden Mann abzuwenden, der soeben ins Zimmer gekommen ist. Er ist deutlich über eins achtzig groß, er steht kerzengerade da, und seine muskulöse Brust und die breiten Schultern scheinen jeden Moment seine Galauniform sprengen zu wollen. Sein ausgeprägter, kantiger Kiefer und die gerade Nase lassen sein Gesicht wie aus Granit gemeißelt aussehen. Er könnte der Held aus einem Kinofilm oder einem Roman sein. Nein, das ist kein Held, schelte ich mich sofort. Dieser Mann ist ein Nazi.

Krysia durchquert den Raum, um ihren Gast zu begrüßen. “Kommandant”, sagt sie und akzeptiert seine Wangenküsse ebenso wie den Strauß Blumen, den er ihr hinhält. “Es ist mir eine Ehre, Sie zu sehen”, Ihre Worte klingen so ehrlich, als würde sie es mit einem guten Freund zu tun haben.

“Es tut mir leid, dass ich Sie warten ließ, Krysia.” Seine Stimme ist tief und wohlklingend. Er dreht den Kopf zur Seite und sieht mir mit einem Mal direkt in die Augen. “Sie haben ein sehr schönes Zuhause.” Ich wende mich ab und merke, wie meine Wangen zu glühen beginnen.

“Danke”, erwidert Krysia. “Sie sind nicht zu spät, das Essen ist gerade erst fertig geworden.” Sie nimmt den Kommandanten am Arm, macht einen geschickten Bogen um die anderen Gäste, die aufgestanden sind, um ihn zu begrüßen, und führt ihn direkt zu mir. “Kommandant, darf ich Ihnen meine Nichte vorstellen? Anna Lipowski.”

Ich springe nervös von meinem Platz auf. Aus der Nähe betrachtet wirkt Kommandant Richwalder noch viel größer, mein Kopf reicht kaum bis an seine Schultern. Als seine große Hand meine umschließt, die ich ihm entgegengestreckt halte, scheint ein Stromschlag durch meinen Körper zu zucken, der mich schaudern lässt. Ich hoffe, er hat es nicht bemerkt. Mit einer fließenden Bewegung führt er meine Hand an seine vollen Lippen und berührt sie nur hauchzart. Zwar hält er den Kopf gesenkt, doch er lässt mich nicht aus den Augen. “Milo mi poznac.” Sein Polnisch ist etwas hölzern und von einem breiten deutschen Akzent geprägt, aber gar nicht mal so schlecht.

Meine Wangen beginnen wieder zu glühen. “Das Vergnügen ist ganz meinerseits”, erwidere ich auf Deutsch und kann den Blick nicht von ihm lösen.

Überrascht zieht der Kommandant die Brauen hoch. “Sie sprechen …?” Er führt seine Frage nicht zu Ende.

“Ja.” Mein Vater war in einem kleinen Dorf nahe der deutschen Grenze aufgewachsen und hatte mir, als ich ein kleines Mädchen war, die Sprache beigebracht. Angesichts der engen Verwandtschaft zum Jiddischen fiel es mir leicht, sie zu lernen. Als ich zu Krysia kam, schlug sie mir vor, meine Kenntnisse wieder aufzufrischen. Immerhin war es nur logisch, dass ein Mädchen aus Gdańsk wenigstens etwas Deutsch sprach.

“Herr Kommandant”, unterbricht uns Krysia. Allem Anschein nach widerstrebend nimmt dieser Mann den Blick von mir, um die anderen Gäste zu begrüßen. Dankbar dafür, dass ich nun allen vorgestellt wurde, verlasse ich das Zimmer und gehe in die Küche, um meine Fassung wiederzuerlangen. Was ist nur los mit mir? Ich schenke mir ein Glas Wasser ein und trinke einen kleinen Schluck. Dabei merke ich, wie meine Hände zittern. Es ist die ganze Situation, die dich nervös macht, sage ich mir, obwohl ich weiß, dass es mehr ist als das – schließlich hat keiner der anderen Gäste eine solche Reaktion bei mir ausgelöst. Aber keiner der anderen Gäste sieht auch nur annähernd so gut aus wie Kommandant Richwalder. Beim Gedanken an seinen Blick aus den stahlgrauen Augen zucke ich unwillkürlich zusammen und verschütte etwas von dem Wasser.

“Vorsicht”, sagt Elżbieta und versucht, mit einem trockenen Küchentuch die Wasserspritzer von meinem Kleid zu tupfen. Es reicht, ermahne ich mich. Reiß dich zusammen. Er ist ein Nazi! Außerdem bist du eine verheiratete Frau. Es gehört sich nicht, so auf andere Männer zu reagieren. Ich streiche mein Haar glatt und kehre zurück in den Salon.

Einen Moment darauf läutet Elżbieta eine kleine Glocke, und die Gäste erheben sich. Auf dem Weg ins Esszimmer versuche ich krampfhaft, mich an die Sitzordnung zu erinnern. Lass mich neben dem alten Generalmajor sitzen, bete ich inständig. Oder neben der ständig nörgelnden Frau Ludwig. Bloß nicht neben dem Kommandanten! Wenn ich den ganzen Abend neben ihm verbringen muss, dann werde ich kaum die Fassung wahren können.

Aber kaum habe ich mein Stoßgebet zum Himmel geschickt, muss ich feststellen, dass ich zwischen Generalmajor Ludwig zu meiner Linken und dem Kommandanten zu meiner Rechten sitze. Ich versuche, Krysias Blick auf mich zu lenken, die am Kopfende des Tischs sitzt, und hoffe, dass sie mich aus dieser Zwickmühle befreit. Doch sie unterhält sich angeregt mit Bürgermeister Baran und nimmt von mir keinerlei Notiz. “Erlauben Sie”, sagt der Kommandant und zieht meinen Stuhl zurück. Sein Geruch nach Kiefernnadeln hüllt mich ein, als er sich über mich beugt.

Elżbieta serviert den ersten Gang, eine Pilzsuppe mit viel Einlage. Meine Hand zittert, als ich den silbernen Löffel hebe, sodass er gegen den Suppenteller schlägt. Verstohlen wirft Krysia einen Blick in meine Richtung, während ich hoffe, dass niemand sonst etwas bemerkt hat.

“Und?”, fragt Generalmajor Ludwig über mich hinweg den Kommandanten. “Was gibt es Neues aus Berlin?” Ich bin dankbar, dass er mich nicht in diese Unterhaltung einbezieht. So kann ich wenigstens eine Weile schweigen.

“Wir sind an allen Fronten erfolgreich”, erklärt der Kommandant ruhig. Innerlich verkrampfe ich mich angesichts der Nachricht, dass die Deutschen offenbar Fortschritte machen.

“Ja, das Gleiche hörte ich auch von General Hochberg”, kommentiert Ludwig. An der Art, wie er den Namen betont, erkenne ich, dass er den Kommandanten beeindrucken will. “Ich hörte von einem offiziellen Besuch aus Berlin?” Er lässt seinen Satz als Frage enden und sieht den Kommandanten erwartungsvoll an, ob der das Gerücht bestätigt oder dementiert.

Der Kommandant zögert und rührt in seiner Suppe. “Vielleicht”, antwortet er schließlich, ohne eine Miene zu verziehen. Als ich ihn mir genauer ansehe, fallen mir zwei Narben in seinem ansonsten makellosen Gesicht auf. Eine – eine tiefe, fahle Linie – verläuft rechts am Kopf vom Haaransatz bis zur Schläfe, die andere – länger, aber dafür etwas oberflächlicher – folgt dem Verlauf seines linken Kieferknochens. Ich überlege, wie er sich wohl diese Narben zugezogen hat. Vielleicht durch einen Unfall? Oder bei einer Schlägerei? Keine von beiden Erklärungen erscheint mir plausibel.

“Nun, Fräulein Anna”, sagt er plötzlich und dreht sich zu mir.

Mir wird bewusst, dass ich ihn angestarrt habe “J-ja, Herr Kommandant?”, stammele ich und spüre, wie meine Wangen wieder heiß werden.

“Erzählen Sie mir etwas über Ihre Zeit in Gdańsk.” Während Elżbieta die leeren Suppenteller in die Küche bringt, berichte ich ihm, was ich auswendig gelernt habe: Ich war Lehrerin an einer Schule und musste meine Stellung aufgeben und mit meinem kleinen Bruder hierher umziehen, als unsere Eltern bei einem Feuer umkamen. Ich schildere diese Dinge mit so viel Gefühl, dass sie sich sogar in meinen Ohren fast wie die Wahrheit anhören. Der Kommandant hört mir aufmerksam zu, er scheint wie gebannt jedes Wort in sich aufzusaugen. Vielleicht ist er nur ein guter Zuhörer, überlege ich, muss allerdings zugeben, dass er sich bislang keinem der Gäste so intensiv gewidmet hat wie mir. “Wie tragisch”, kommentiert er, nachdem ich zu Ende erzählt habe. Er nimmt seinen Blick nicht von mir, während ich nur nicken kann, da meine Stimme versagt. Einen Moment lang kommt es mir so vor, als wären alle anderen Gäste verschwunden und als gäbe es nur noch uns zwei. Schließlich halte ich es nicht länger aus und schaue zur Seite.

“Und Sie, Kommandant? Woher kommen Sie?”, frage ich rasch, um von mir abzulenken.

“Aus Norddeutschland, aus der Nähe von Hamburg. Meine Familie hat mit der Schifffahrt zu tun”, antwortet er beiläufig, sieht mich aber weiter unentwegt an. Das Rauschen in meinen Ohren ist so laut, dass ich ihn kaum verstehen kann. “Auch ich wurde in jungen Jahren zur Vollwaise”, fügt er hinzu, als würde unser scheinbar gleiches Schicksal uns zu Leidensgenossen machen. “Allerdings starben meine Eltern eines natürlichen Todes.”

“Und was genau machen Sie hier?”, frage ich und staune über meine eigene Kühnheit. Der Kommandant ist sichtlich irritiert und zögert. Offenbar ist er es nicht gewohnt, so direkt auf seine Funktion angesprochen zu werden. Schon gar nicht von jemandem wie mir.

“Der Kommandant untersteht direkt dem Generalgouverneur Frank”, wirft Ludwig ein. “Bei jedem Erlass des Gouverneurs sorgt Kommandant Richwalder dafür, dass wir alle ihn umsetzen.”

Der Kommandant scheint das nicht gern zu hören. “Nein, wirklich, Generalmajor, Sie übertreiben ein wenig. Ich bin nur jemand, der seine Pflicht erfüllt.” Er schaut weg, und ich bemerke, dass sein Haar an den Schläfen leicht grau meliert ist.

“Aber keineswegs”, beharrt Ludwig, dessen fettes Gesicht von zu viel Wodka gerötet ist. “Sie sind zu bescheiden, mein Herr.” Er sieht mich an. “Kommandant Richwalder wurde im Großen Krieg für seine Tapferkeit zur See ausgezeichnet.” Ich nicke und beginne zu rechnen. Wenn er bereits im Großen Krieg gedient hat, muss er über vierzig Jahre alt sein, stelle ich überrascht fest. Ich hatte ihn für jünger gehalten. “Er wurde schwer verwundet, aber er diente dem Reich auf herausragende Weise.”

Als ich den Kommandanten abermals ansehe, wird mir bewusst, dass seine Narben wahrscheinlich daher stammen. Mit den Fingerspitzen berührt er seine Schläfe und sieht mir in die Augen, so als könnte er meine Gedanken lesen. “Würden Sie mir bitte die Kartoffeln reichen?”, sage ich plötzlich und zwinge ihn so, seinen Blick von mir zu nehmen.

Doch Ludwig hat den Kommandanten noch nicht genug gelobt. “In jüngster Zeit hat er sich einen Namen gemacht, indem er maßgeblich am Aufbau von Sachsenhausen beteiligt war”, fährt er fort. Sachsenhausen sagt mir nichts, doch Ludwig lässt den Namen so fallen, als sei seine Bedeutung offenkundig. Daher wage ich nicht, ihn näher danach zu fragen.

Während wir essen, versuche ich meine Konzentration zu wahren, doch mein Kopf wird vom Alkohol immer schwerer. Es scheint, dass der Kommandant sofort nachschenkt, sobald ich einen kleinen Schluck getrunken habe. “Ihr Deutsch ist fast fehlerfrei”, bemerkt er, als wir das Hauptgericht beenden.

Ich zögere mit einer Erwiderung. Deutsch zu sprechen fällt mir mittlerweile fast so leicht wie Jiddisch, sodass ich beinahe vergessen habe, in welcher Sprache wir uns unterhalten. “Nun ja, in Gdańsk gibt es ja viele Deutsche”, bringe ich schließlich heraus.

“Sie meinen in Danzig!”, mischt sich Ludwig lautstark ein. Seine Bemerkung lässt die anderen Gäste mitten in ihren Unterhaltungen verstummen, alle sehen zu uns.

“Es tut mir leid”, entschuldige ich mich rasch. Mein Gesicht läuft rot an. “Es ist nur so … Gdańsk ist der Name, mit dem ich großgeworden bin.”

Für Ludwig ist das offenbar keine zufriedenstellende Antwort. “Nun, Fräulein”, redet er herablassend weiter. “Dann wird es dringend Zeit, dass Sie sich umgewöhnen.”

“Wissen Sie, Generalmajor, im Rahmen eines solch angenehmen Abends wollen wir besser nicht über Politik sprechen.” Der Kommandant sagt das leise, aber mit Nachdruck. So zurechtgewiesen wendet Ludwig seine aufdringliche Aufmerksamkeit Frau Baran zu, die links von ihm sitzt. Ich werfe dem Kommandanten ein dankbares Lächeln zu. “Es ist eine schöne Stadt, ganz egal welchen Namen man ihr gibt”, meint er in einem sanfteren Tonfall, als ich ihn bislang an ihm gehört habe.

“Da kann ich Ihnen nur zustimmen.” Erleichtert bewege ich die rechte Hand über meinen Teller, um nach dem Wasserglas zu greifen. Der Kommandant greift im gleichen Moment nach seinem Glas, und unsere Handrücken berühren sich kurz. Rasch weiche ich zurück, mein Gesicht läuft rot an, während er ebenfalls innehält. Sekundenlang spricht keiner von uns ein Wort, doch mir kommt es vor, als würde sich der Augenblick über viele Minuten ausdehnen.

“Ich liebe deutsche Schriftsteller”, weiche ich schließlich auf ein Thema aus, zu dem ich immer etwas beizutragen weiß.

Er stellt sein Wasserglas wieder auf den Tisch. “Tatsächlich?”

Elżbieta kommt zu uns und stellt sich links von mir hin, um meinen leeren Teller abzuräumen. Dadurch muss ich mich etwas nach rechts beugen und bin nur noch wenige Zentimeter vom Kommandanten entfernt. Abermals steigt mir sein Geruch in die Nase. “Ja”, antworte ich, nachdem Elżbieta gegangen ist und ich mich wieder gerade hinsetzen kann. “Schiller muss man einfach in seiner Muttersprache lesen.” Ich tupfe mit der Serviette meinen Mund ab. “Man wird ihm nicht gerecht, wenn man ihn in der Übersetzung liest.”

Der Kommandant nickt bedächtig, und zum ersten Mal an diesem Abend lächelt er. “Da muss ich Ihnen zustimmen.” Er schenkt uns beiden Wodka ein und hebt sein Glas, ich tue es ihm nach. “Auf die deutsche Literatur”, erklärt er und stößt mit mir an. Ich zögere, noch mehr zu trinken, da mein Verstand bereits ein wenig benebelt ist. Er jedoch leert sein Glas in einem Zug, und unter seinem wachsamen Blick bleibt mir keine andere Wahl, als einen großen Schluck zu nehmen.

“Sollen wir in den Salon gehen?”, schlägt Krysia vor, nachdem Elżbieta die Dessertteller abgeräumt hat. Im Salon serviert sie uns allen eine Tasse Tee. Ich lehne mich gegen den Türrahmen und halte die warme Tasse mit beiden Händen umschlossen. Da der Wodka und das sättigende Essen mich zu müde gemacht haben, um mich mit einem der Gäste zu unterhalten, entkomme ich in die Küche. “Kann ich behilflich sein?”, frage ich Elżbieta, die die Teller abwäscht, doch sie schüttelt nur den Kopf.

Als ich benommen in die Seifenlauge starre, wird mir klar, ich bin betrunken. So habe ich mich noch nie gefühlt. Der einzige Alkohol, den ich bislang zu mir nahm, war der koschere Wein am Schabbes und an den Feiertagen, der so süß ist, dass man nicht mehr als ein paar Schlucke hinunterkriegen kann. Ein-, zweimal habe ich etwas Wodka probiert, wenn ich mit Jakub zu Abend gegessen habe. Das hatte mir ein wohliges, warmes Gefühl bereitet, aber das hier ist anders. Meine Zunge fühlt sich dick und trocken an, kalter Schweiß steht mir auf der Stirn, und der Boden scheint sich unter mir zu drehen. “Elżbieta”, sage ich unsicher.

Sie dreht sich zu mir um und sieht mein blasses Gesicht. “Hier.” Jetzt bringt sie mir ein Glas Wasser, das ich dankbar austrinke und ihr zurückgebe. Ich lasse mich auf einen Stuhl sinken und atme tief durch. Ausgerechnet den heutigen Abend muss ich mir aussuchen, um zu viel zu trinken!

Elżbieta stößt mich an der Schulter an. Als ich den Kopf hebe, deutet sie mit einem Nicken auf die Tür zum Salon. “Anna”, höre ich Krysia rufen. An ihrem Tonfall erkenne ich, dass sie mich gerade eben nicht zum ersten Mal gerufen hat. Ich stehe auf und kehre in den Salon zurück.

“Ja?” Dank des Wassers und der kurzen Erholungspause fühlt sich mein Kopf schon etwas leichter an.

“Komm mit.” Krysia winkt mich zu dem großen Sofa, auf dem sie und der Kommandant sitzen, und bedeutet mir, zwischen ihnen Platz zu nehmen. “Setz dich.” Voller Unbehagen setze ich mich nieder, nur wenige Zentimeter vom Kommandanten entfernt. Ich vermeide es, ihn anzusehen. “Anna”, wiederholt Krysia mühelos meinen Decknamen. “Der Kommandant möchte dir etwas vorschlagen.” Im Salon macht sich gebannte Stille breit, während sie erwartungsvoll in seine Richtung schaut. Mir stockt unwillkürlich der Atem. Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, worüber sie sich unterhalten haben, bin ich mir jetzt schon sicher, es wird mir nicht gefallen.

“Anna, ich bin auf der Suche nach einer Sekretärin, oder besser gesagt: einer Assistentin. Ich brauche jemanden, der einen Teil der täglich anfallenden Verwaltungsarbeit erledigt”, sagt der Kommandant. “Ihre Tante meint, es könnte Sie interessieren.”

Sofort verkrampft sich mein Magen.

“Das ist ein schmeichelhaftes Angebot”, höre ich Krysia sagen. Hinter ihren Worten verbirgt sich eine Botschaft, die ich aber nicht entziffern kann.

“Ich soll das machen?”, frage ich, um etwas Zeit zu schinden, in der ich mir meine Antwort überlegen kann.

“Ja”, bestätigt er. Ich spüre, dass alle im Salon mich ansehen.

“Aber das kann ich nicht!”, wende ich ein und werde lauter. Als ich die überraschten Blicke der anderen Gäste bemerke, senke ich meine Stimme. “Ich meine, ich bin doch Lehrerin. Für einen solchen Posten bin ich ganz sicher nicht geeignet.” Ich bin mir im Unklaren darüber, was unvorstellbarer ist: im Quartier der Nazis zu arbeiten oder jeden Tag in der Nähe dieses beängstigenden Mannes zu sein.

Der Kommandant lässt sich von meiner Antwort nicht abschrecken. “Ihr Deutsch ist ausgezeichnet. Und von Krysia weiß ich, Sie beherrschen Schreibmaschine. Davon abgesehen erfordert diese Stelle nur gutes Urteilsvermögen und freundliche Umgangsformen.”

“Aber das geht nicht. Ich muss mich um Łukasz kümmern, und Krysia benötigt meine Hilfe …”, protestiere ich und sehe zu ihr, damit sie mir Rückhalt gibt.

“Wir schaffen das schon”, widerspricht sie eilig und lächelt mir aufmunternd zu.

“Nun …” Ich zögere eine Antwort hinaus, da ich nach anderen Argumenten suche.

“Das ist ja lächerlich!”, poltert Ludwig plötzlich ungefragt los. “Eine solche Ehre lehnt man nicht ab!”

Der Kommandant wirft dem fetten Mann einen wütenden Blick zu. “Ich werde niemanden zu etwas zwingen.” Dann wendet er sich mit sanfter Stimme wieder an mich: “Es liegt ganz bei Ihnen. Sie können es mich später wissen lassen.”

Ich schlucke bestürzt. Offenbar will Krysia, dass ich dieses unmögliche Angebot annehme, auch wenn ich nicht weiß, wieso. “Nein, das ist nicht nötig.” Ich zwinge mich zu einem Lächeln und erkläre: “Es wäre mir eine Ehre, für Sie zu arbeiten.”

Krysia steht auf. “Dann wäre das ja geklärt. Ich glaube, ich hatte Frau Baran versprochen, noch etwas zu spielen, bevor der Abend vorüber ist.” Sie geht hinüber zum Flügel und nimmt Platz. Ganz diplomatisch spielt sie zuerst Wagner, dann Chopin. Ihr Talent versetzt mich in Erstaunen, wenn ich sehe, mit welcher Fingerfertigkeit und Anmut sie klassische Stücke vollständig aus dem Gedächtnis spielt.

“Ich dachte mir schon, dass so etwas geschehen könnte”, sagt Krysia wenige Stunden später, nachdem die Gäste gegangen sind. Wir stehen in der Küche und trocknen die Teetassen ab. Schürzen schützen unsere Partykleider vor Spritzwasser. Sie redet so leise, dass Elżbieta im Zimmer nebenan nichts davon mitbekommt. “Mir ist zu Ohren gekommen, dass der Kommandant eine Assistentin sucht, und als er den Salon betrat, war mir vom ersten Moment an klar, wie sympathisch du ihm bist.”

Ich halte inne, um eine Locke zurückzustreichen, die mir ins Gesicht gefallen ist. “Krysia, wenn du so etwas schon geahnt hast, warum hast du mich dann neben ihn gesetzt?”

Krysia sieht erstaunt auf. “Aber das habe ich gar nicht. Ich weiß ganz genau, dass ich Elżbieta ausdrücklich angewiesen habe, den Kommandanten neben mich zu setzen. Meine Hoffnung war, er könnte nach einigen Gläsern Wodka etwas Nützliches ausplaudern.” Sie stellt die Suppenschüssel in den Schrank und geht zur Tür. “Elżbieta?”, ruft sie. Die junge Frau kommt aus dem Esszimmer herein, in der Hand hält sie einen Besen.

“Elżbieta, was habe ich über die Sitzordnung gesagt?”

Sie schüttelt den Kopf. “Nun, Sie sagten, Sie wollten zwischen dem Kommandanten und Generalmajor Ludwig sitzen. Ich war überrascht, dass Sie Ihre Meinung offenbar geändert haben.”

“Danke, Elżbieta.” Die Frau geht verwirrt ins Esszimmer zurück, Krysia dreht sich zu mir um und hat die Stirn in Falten gelegt. “Ich weiß wirklich nicht, was da passiert ist.”

“Vielleicht war es ein Versehen”, überlege ich und schrubbe weiter den Kochtopf sauber. Bestimmt hat der Kommandant es darauf angelegt, neben mir zu sitzen. Mir dreht sich der Magen um.

“Vielleicht, ja … Jedenfalls kann ich nicht behaupten, dass es zwangsläufig eine schlechte Sache ist, wenn du für den Kommandanten arbeitest.”

“Wie kannst du so etwas sagen?”, flüstere ich erschrocken. “Das wird alles in Gefahr bringen: meine Identität, unsere Situation …”

“Anna”, unterbricht sie mich. Wir haben uns darauf geeinigt, dass sie mich auch dann mit diesem Namen anspricht, wenn wir allein sind. Auf diese Weise soll er uns in Fleisch und Blut übergehen. “Das ist die perfekte Tarnung. Niemand wird vermuten, dass sich eine Jüdin ausgerechnet im Hauptquartier der Nazis aufhält. Außerdem ist der Kommandant momentan einer der wichtigsten Männer in Kraków.” Sie macht eine kurze Pause. “Nach einer Weile könntest du so vertraut mit ihm sein, dass es uns bei unserer Arbeit hilft.”

“Aber du kannst doch nicht wirklich wollen, dass ich für die Nazis arbeite!” Unwillkürlich werde ich lauter, woraufhin sie rasch einen Finger auf ihre Lippen legt und mit einer Kopfbewegung in Richtung Esszimmer deutet. “Entschuldige”, sage ich tonlos und schäme mich für meine lautstarke Entrüstung. In diesem Augenblick wird mir die Gefährlichkeit unserer Situation bewusst. Wie schlimm kann diese Maskerade noch werden, wenn man jetzt schon von mir erwartet, mich Tag für Tag den wachsamen Blicken von Kommandant Richwalder auszusetzen? Übelkeit überkommt mich.

Später in dieser Nacht liege ich wach in meinem Bett und starre die Deckenbalken an. In der Ferne bellen Hunde. Schon wieder hat sich mein Leben von Grund auf geändert, und am Ende des Tages wird abermals nichts mehr so sein wie noch bei Sonnenaufgang. Eines Morgens wachte ich in Jakubs Haus auf, und als ich abends zu Bett ging, war ich eine Gefangene im Ghetto. Dann wechselte ich meine Identität von der verfolgten Jüdin zu einer Christin in Krysias Haus, und nun werde ich für die Nazis arbeiten. Mir läuft ein Schauder über den Rücken, und ich ziehe die Decke enger um mich, obwohl wir bereits Frühling haben und es nun wirklich nicht mehr kalt ist.

Im Geiste kehre ich zu dem Moment zurück, da der Abend offiziell vorüber war. Kommandant Richwalder war als Letzter gegangen. Ich sehe ihn wieder in seinem langen Militärmantel im Türrahmen stehen. Er trägt Handschuhe und hält meine Hand fest, dann hebt er sie noch einmal an seine Lippen. “Ich werde mich in den nächsten Tagen bei Ihnen melden, sobald der Papierkram erledigt ist.”

Meine Hand zittert, als ich sie zurückziehe. “Vi-vielen Dank, Herr Kommandant.”

“Nein, Fräulein Anna, ich habe zu danken.” Mit diesen Worten wendet er sich ab und geht fort. Jetzt schaudert mir erneut, wenn ich nur an diesen Augenblick denke. Wie er mich angeschaut hat, das erinnert mich an eine Spinne, die eine in ihrem Netz gefangene Fliege begutachtet. In der Ferne bellen noch immer die Hunde.