12. KAPITEL

Am Dienstag nach meinem Rendezvous mit dem Kommandanten begebe ich mich nach der Arbeit zum Marktplatz. Es ist August, und das Wetter ist so drückend und heiß, wie es in Kraków in jedem Sommer immer nur an ein paar Tagen der Fall ist. Das Kopfsteinpflaster scheint unter der brütenden Nachmittagssonne dahinzuschmelzen.

Nach einem Blick über die Schulter, um mögliche Verfolger auszumachen, überquere ich den Markt und gehe zu dem Café, in dem wir uns für gewöhnlich treffen. An einem der Tische sitzt Alek und erwartet mich bereits. Überrascht stelle ich fest, dass er allein ist. “Marek muss noch etwas erledigen”, sagt er, als ich mich zu ihm setze. Seine Erklärung erscheint mir sonderbar, denn ich habe selten einen der beiden Männer ohne den anderen gesehen. Insgeheim frage ich mich, ob es für sie jetzt gefährlicher geworden ist, zur selben Zeit am selben Ort zu sein.

“Und wie geht es dir?”, fragt er mich. Sein Gesicht wirkt dunkler, und um seine Nase herum schält sich die Haut, als habe er seit unserer letzten Begegnung sehr viel Zeit unter freiem Himmel verbracht.

Ich zögere. Zwar glaube ich, dass er nicht wirklich daran interessiert ist, wie es mir geht, aber die Antwort fällt mir dennoch schwer. Wie geht es mir als Emma, die sich um ihren Ehemann und ihre Eltern sorgt, von denen sie getrennt ist? Und wie geht es mir als Anna, die mit ihrer falschen Identität im Hauptquartier der Nazis für den Kommandanten arbeitet und versucht, die stetig stärker werdenden Gefühle für ihn zu ignorieren? Die Antwort dürfte so oder so “müde, traurig und unsicher” lauten. Aber als Jüdin geht es mir besser als den meisten anderen, und ich weiß, ich habe keinen Grund zur Klage. “Gut”, antworte ich schließlich.

Alek lächelt sanft, er lässt sich von meiner Erwiderung nicht täuschen. “Wie ich höre, geht es deiner Mutter besser.”

Ich nicke. Krysia sagte mir erst vor wenigen Tagen, dass das Fieber nachgelassen habe und Mutter schon wieder aufstehen kann. Was sie weder dir noch Marek zu verdanken hat, möchte ich Alek am liebsten an den Kopf werfen.

“Vielleicht werden wir in einigen Wochen oder Monaten in der Lage sein, ihr und deinem Vater zu helfen”, fährt er fort.

“Vielleicht”, wiederhole ich ohne Gefühlsregung. Früher hätten mich seine Worte mit Freude erfüllt, aber ich habe längst zu viel Angst, mir falsche Hoffnungen zu machen. Innerhalb weniger Wochen kann sich die Situation im Ghetto grundlegend ändern, und wer will schon sagen, was dann noch möglich sein wird und was nicht?

“Wie ist die Arbeit in der Burg?”

“Ganz gut. Übrigens bin ich froh, dass du mich herbestellt hast.” Ich berichte von der Reise des Kommandanten nach Berlin und von einigen seiner Besprechungen, die von Bedeutung sein könnten.

“Sonst noch etwas?”, fragt Alek, als ich fertig bin, doch ich schüttele den Kopf. “Danke für diese Informationen. Das meiste davon wussten wir bereits, trotzdem ist es hilfreich.”

“Gern geschehen.” Ich bin froh, dass ich endlich einmal etwas bieten kann, das wenigstens ein bisschen von Nutzen ist.

“Emma, ich kann nicht lange bleiben, darum muss ich sofort zur Sache kommen. Ich habe dich aus einem bestimmten Grund herkommen lassen. Es gibt da noch etwas anderes, was du für uns tun kannst.” Er hat es gewagt, in der Öffentlichkeit meinen wahren Namen zu benutzen. Dann muss es ein wirklich wichtiges Anliegen sein.

“Natürlich. Alles, was ihr wollt.” Ich habe keine Ahnung, warum ich das sage.

Er hebt seine Hand. “Höre mich erst an. Emma, durch unsere Quellen haben wir Grund zu der Annahme, dass die Nazis eine große Sache planen, die die Juden im Ghetto betrifft. Wir haben versucht, mehr darüber in Erfahrung zu bringen, was genau passieren soll, aber wir kommen nicht weiter. Wenn wir wissen, was kommen wird, ist es uns vielleicht möglich, es zu verhindern oder zumindest um ein paar Tage hinauszuzögern. Wir benötigen dringend Informationen.”

Ich muss erschrocken schlucken. Wenn ihre besten Quellen nichts zutage fördern, wie kann ich dann behilflich sein?

“Wenn da wirklich etwas vorbereitet wird”, fährt er fort, “dann müssen bereits erste Schritte unternommen worden sein. Richwalder wird davon wissen.”

“Aber er …” Ich will sagen, dass der Kommandant sich nicht an Maßnahmen gegen die Juden beteiligt, doch im selben Moment wird mir meine eigene Naivität bewusst, und ich verstumme.

“Ich weiß, der ehrbare Kommandant macht sich für gewöhnlich nicht selbst die Hände schmutzig”, gibt Alek verbittert zurück. “Aber wenn etwas Großes bevorsteht, dann muss es auch über seinen Schreibtisch laufen. Du bist unsere einzige Hoffnung, herauszufinden, was da kommt.”

“Was soll ich machen?”

“Ist dir in Richwalders Büro irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?”

Ich schüttele den Kopf. “Gar nichts. Dabei habe ich auf fast alles Zugriff. Das Einzige, was ich nicht zu sehen bekomme, sind vertrauliche Mitteilungen, doch davon gab es in der letzten Zeit nicht allzu viele.”

Alek streicht sich über seinen Kinnbart. “Dann ist es so, wie ich vermute. Er wird Unterlagen zu Hause aufbewahren.”

“Er arbeitet von zu Hause aus”, bestätige ich. Alek sieht mich an, als wundere er sich, woher ich das weiß. “Manchmal lässt er sich von mir eine Aktentasche mit Unterlagen zusammenstellen, die er dann mit nach Hause nimmt”, füge ich rasch hinzu, um ihn nicht auf falsche Gedanken zu bringen.

Er schweigt einige Sekunden lang. “Emma, es gibt da etwas, das du für uns tun könntest.”

Etwas anderes, möchte ich ihn korrigieren. Ich tue bereits etwas für sie. “Ja?”

“Ich kann mich kaum überwinden, es auszusprechen …”

“Ich werde tun, was ich kann, um zu helfen.” Noch während ich diese mutigen Worte ausspreche, überkommt mich schreckliche Furcht.

“Ich weiß. Aber das ist anders als alles, was du bislang gemacht hast.” Er sieht mir in die Augen. “Du musst einen Weg finden, in das Arbeitszimmer in seiner Wohnung zu gelangen.”

Ein Schauder läuft mir über den Rücken.

“Hör mir genau zu.” So ernst habe ich Alek noch nie erlebt. “Hier geht es nicht darum, mal eben in ein Büro zu gehen und ein paar Passierscheine zu stehlen.”

Mal eben? Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich das erste Mal in Kirchs Büro eingedrungen bin. Ich frage mich, ob Alek überhaupt eine Vorstellung davon hat, wie schwierig das war.

“Du musst in sein Arbeitszimmer gelangen”, redet er weiter, “und dich dort umsehen. Wir wissen nicht genau, wonach du suchen musst. Korrespondenz, Eingaben, Anweisungen oder Ähnliches. Irgendetwas, das die Pläne für das Ghetto angeht. Das wird nicht einfach sein”, warnt er. “Richwalder ist für seine Verschlossenheit bekannt, und das sind sicher keine Dokumente, die er auf dem Schreibtisch herumliegen lässt. Ich rede hier von Schubladen, Aktenschränken und so weiter. Du musst extrem vorsichtig sein.”

Er weiß so gut wie ich, was mir und vielen anderen widerfahren wird, wenn man mich erwischt. “Ich … kann das machen”, sage ich zögernd. “Er vertraut mir.”

“Ja, das wissen wir”, gibt Alek zurück. “Darum wenden wir uns an dich.”

Mir wird bewusst, dass ich in der Wawelburg vielleicht nicht die einzige Spionin des Widerstands bin. Es könnte noch jemand dort sein, der seinerseits die Aufgabe hat, mich zu beobachten. Innerlich muss ich lachen.

Plötzlich wird mir das Ganze zu viel. “Ich muss jetzt gehen”, erkläre ich und stehe auf.

Alek greift nach meiner Hand. “Ich weiß, das wird nicht leicht für dich.”

Nicht leicht? Nicht leicht ist gar kein Ausdruck für das, was mich erwartet. “Ist schon gut”, gebe ich zurück, obwohl meine Worte kaum weiter von der Wahrheit entfernt sein könnten. Ich sehe Alek an, wie er da vor mir sitzt. “Nur noch eine Frage. Weiß Jakub davon?”

Er schüttelt den Kopf. “Er weiß nur, dass du für den Kommandanten arbeitest. Das sorgt ihn schon genug.”

“Gut. Dann versprich mir, dass du ihm gegenüber nichts von dieser Sache erwähnst.”

“Das schwöre ich dir. Dein Mann wird das nie erfahren.”

Beim Blick in Aleks ernst dreinblickenden Augen erkenne ich, dass ich ihm glauben kann.

“Danke.” Ich ziehe meine Hand zurück und wende mich ab.

“Emma, noch eine letzte Sache.” Ich drehe mich wieder zu ihm um. “Es kommt auf jede Sekunde an. Wenn du etwas findest, das von Bedeutung sein könnte, dann warte nicht bis zum darauffolgenden Dienstag. Sag Krysia, sie soll Kontakt mit uns aufnehmen, dann finden wir schon einen Weg, uns zu treffen.”

“Ich verstehe.” Wieder wende ich mich zum Gehen und spüre, wie Alek mir nachschaut.

Ich habe den Marktplatz noch nicht ganz überquert, da ruft auf einmal eine laute Frauenstimme hinter mir her: “Anna!” Ich erstarre vor Schreck. Langsam drehe ich mich um und stelle fest, dass diese schrille, nasale Stimme zu Malgorzata gehört.

“Hallo”, grüße ich sie und bemühe mich, sie anzulächeln. In der Hoffnung, irgendwelche Fragen im Keim zu ersticken, deute ich auf ihre Tasche. “Waren Sie noch einkaufen?”

Doch Malgorzata lässt sich nicht beirren. “Wer war denn das?”, fragt sie. An der Richtung, in die sie mit dem Kopf deutet, wird klar, dass sie mich mit Alek gesehen hat.

“Ich weiß nicht, was Sie mein…”, weiche ich aus.

“Mir müssen Sie nichts vormachen, Anna”, fällt sie mir ins Wort. “Ich sah Sie mit dem gut aussehenden jungen Mann beim Tee.”

“Ach, ihn meinen Sie.” Ich winke beiläufig ab.

“Keine Angst.” Sie zwinkert mir zu und redet in einem verschwörerischen Tonfall weiter. “Ich werde dem Kommandanten nichts verraten.” Dabei weiß ich, sie wird genau das tun, sollte ich ihr dazu einen Anlass bieten.

“Das ist Stefan”, antworte ich gelassen. “Er ist ein Freund meiner Tante Krysia.”

“Oh.” An der Art, wie ihre Stimme tonlos wird, kann ich erkennen, dass sie meine Erklärung für bare Münze nimmt und nun enttäuscht ist, weil es nicht mehr zu berichten gibt.

“Tja, ich habe noch einen weiten Weg bis nach Hause”, sage ich. “Ich muss dann jetzt los. Dobry wieczór, Malgorzata.”

“Dobry wieczór, Anna.”

Da ich weiß, dass sie mir nachschauen wird, versuche ich den Platz in einem normalen Tempo zu überqueren. Ich biege um die Ecke in die ulica Anna ein, wo ich stehen bleibe, da ich das Gefühl habe, dass mir gleich schlecht wird. Malgorzata hat mich mit Alek gesehen. Ein Glück, dass sie dumm genug ist, meine Ausrede zu glauben. Aber es hätte auch jemand anders sein können, nicht Malgorzata. Zum Beispiel einer der Offiziere der Wawelburg, überlege ich, während ich gegen die Hauswand gelehnt dastehe. Oder sogar der Kommandant selbst. Wir sind mit diesen Treffen viel zu nachlässig geworden. Meine Identität und alle Pläne wären im Handumdrehen enttarnt, und das darf auf keinen Fall passieren. Nicht jetzt, wo so viel auf dem Spiel steht.

Nach dem Gespräch mit Alek will ich eigentlich sofort nach Hause fahren, doch mit einem Mal merke ich, dass ich vom Stadtzentrum in südliche Richtung zum Fluss laufe. Der Weg entlang des Ufers ist an diesem warmen Abend im August von Spaziergängern bevölkert, die das Wetter genießen wollen: junge Paare, die hier flanieren, so wie Jakub und ich es früher machten; Kinder, die vor ihren Müttern herlaufen und Vögel jagen. An all diesen Menschen gehe ich vorüber, nehme sie jedoch kaum wahr, da ich in Gedanken mit dem befasst bin, worum Alek mich gebeten hat. Ich soll in das private Arbeitszimmer des Kommandanten eindringen und herausfinden, welches Schicksal für die Juden geplant ist. Das ist nicht so leicht wie der Diebstahl von ein paar Passierscheinen aus einem Büro in der Burg. Ich muss mich in seiner Wohnung aufhalten und mich mit dem Arbeitszimmer und dem Schreibtisch vertraut machen – und herausfinden, welche Unterlagen er dort verwahrt. Hier kann Alek mir keinen Schlüssel oder eine Zahlenkombination geben, damit ich in die Wohnung gelange, wenn der Kommandant nicht zu Hause ist. Ein Einbruch kommt ebenfalls nicht infrage. Nein, er muss sogar wissen, dass ich mich dort aufhalte. Ich brauche einen Vorwand, um in seinem Zuhause Zeit zu verbringen. Dieser Punkt stellt noch das kleinste Problem dar, denn ich weiß, der Kommandant ist von meiner Gesellschaft angetan. Er würde mich auf der Stelle zu sich einladen, wenn ich einen Hinweis darauf geben würde, eine solche Einladung annehmen zu wollen. Vielleicht könnte ich bei ihm zu Abend essen. Wir würden etwas trinken, und wenn er dann eingeschlafen ist …

Abrupt bleibe ich stehen. In der Wohnung des Kommandanten übernachten, vielleicht sogar mit diesem Mann schlafen … ist das wirklich das, was Alek von mir erwartet? Kein Wunder, dass er nervös war. Er will, dass ich mit einem anderen Mann intim werde und meinen Ehemann betrüge! Plötzlich bleibt mir die Luft weg. Ich kann Jakub nicht untreu werden, das ist völlig undenkbar.

Jakub. Vor meinem geistigen Auge sehe ich sein liebevolles Gesicht. Er wird es nie erfahren, hat Alek mir versprochen. Da war mir noch nicht die Tragweite seines Anliegens bewusst, aber jetzt hat mich die Erkenntnis wie ein Schlag in den Magen getroffen. Ich soll meinen Mann betrügen, ihn belügen. Wenn es dazu kommen sollte, würde dieses Geheimnis für immer zwischen uns stehen. Und wenn er es irgendwann herausfindet … mir schaudert bei dem Gedanken.

“Nein!”, sage ich laut. Einige Spaziergänger, die um mich einen Bogen machen müssen, weil ich im Weg stehe, werfen mir verwunderte Blicke zu. “Nein”, wiederhole ich im Flüsterton. Ich gehe bis zu einer Bank am Flussufer und denke angestrengt nach. Was würde Jakub tun, wäre er in meiner Situation? Er glaubt an die Sache der Bewegung. Vielleicht glaubt er sogar noch stärker an die Sache als an uns. Sonst wäre er jetzt hier bei mir, nicht aber irgendwo untergetaucht, um für den Widerstand zu arbeiten. Und ich wäre gar nicht erst mit diesem Dilemma konfrontiert.

Es reicht, denke ich. Es führt zu nichts, dem nachzutrauern, was hätte sein können. Dies hier ist nicht Jakubs Entscheidung. Er hatte mich ja überhaupt nicht in die Widerstandsbewegung hineinziehen wollen. Doch dafür ist es jetzt zu spät. Es geht hier nicht um Jakub, auch nicht um ihn und mich, sondern nur um mich. Ich bin auf mich allein gestellt, und ich treffe die Entscheidung. Oder besser gesagt: Ich habe sie längst getroffen. Plötzlich bedauere ich, so schnell eingewilligt zu haben. Alek hatte mich vor die Wahl gestellt, und ich hätte ablehnen können. Aber etwas an seiner Miene und an seinem Tonfall war anders als sonst gewesen. Eine Art stumme Verzweiflung. Offenbar habe ich als Einzige überhaupt eine Chance, nahe genug an den Mann heranzukommen, um zu tun, was getan werden muss.

Aber dieser Mann ist kein beliebiger Mann, sondern der Kommandant. Ein Nazi. Wieder sehe ich vor meinem geistigen Auge, wie diese Männer Łukasz’ schwangere Mutter erschießen. Ich sehe Łukasz, wie er neben ihr steht, während sie auf dem Pflaster in ihrem eigenen Blut liegt und stirbt. Die Nazis haben sie umgebracht, und sie haben so viele andere umgebracht. Und der Kommandant ist einer von ihnen. Ausgerechnet ihm soll ich Zärtlichkeit vorgaukeln? Mir wird übel, wenn ich mir das nur vorstelle.

Noch während mir diese fürchterlichen Gedanken durch den Kopf gehen, überlege ich gleichzeitig, wie leicht es sein wird, dem Kommandanten näher zu kommen. Seit seiner Rückkehr aus Berlin lässt sich nicht mehr leugnen, wie sehr er sich zu mir hingezogen fühlt. Manchmal überlege ich, ob es mehr ist als rein körperliche Anziehung. Vielleicht empfindet er tatsächlich etwas für mich, auch wenn ich nichts weiter bin als eine – zumindest in seinen Augen – simple Polin.

Bislang habe ich ihn auf Abstand gehalten. Der Kommandant ist ein höflicher Mann, und ich weiß, er wird keine Annäherungsversuche unternehmen, wenn ich nicht damit einverstanden bin. Es wird natürlich seine Zeit dauern, um ihn glauben zu machen, seine Gefühle würden erwidert, aber mit der richtigen Strategie …

Halt!, ruft eine Stimme in meinem Kopf. Das ist doch Wahnsinn! Schlagartig wird mir klar, was ich da eigentlich vorhabe. Nein, das kann ich nicht machen! Ich beuge mich vor, bis ich im Wasser mein Spiegelbild sehe. Wer bist du?, frage ich, aber es kommt keine Antwort. Stattdessen reagiert das Spiegelbild mit einer Gegenfrage: Was ist wichtiger? Meine Familie, denke ich sofort. Mein Ehemann und meine Familie. Die Antwort ist unverändert die gleiche.

Vom gegenüberliegenden Ufer ertönt plötzlich eine Sirene und reißt mich aus meinen Gedanken. Ich sehe auf und erkenne, dass sich ein Stück hinter den am Fluss gelegenen Häuserblocks das Ghetto befindet. Meine Eltern. Mit jedem weiteren Tag im Ghetto wird ihre Lage hoffnungsloser, die Chancen auf ein Entkommen schwinden zusehends. Mit jedem Tag werden sie ein wenig schwächer, und die Gefahr wächst, dass sie deportiert werden oder ihnen noch Schlimmeres widerfährt. Jeden Tag sterben Menschen wie meine Eltern, jeden Tag werden Menschen wie sie von den Deutschen erschossen. Darum hat mich Alek um diesen Gefallen gebeten. Er braucht die Informationen, damit die Bewegung versuchen kann, meine Eltern und alle anderen Juden aus dem Ghetto zu holen. Damit wir diese Mörder daran hindern, weiter zu töten. Ich kann das, ich kann helfen.

Auch wenn ich entschlossener bin als noch vor wenigen Minuten, bleiben doch die Zweifel. Wie soll ich den Kommandanten davon überzeugen, dass ich ihn mag? Werde ich in der Lage sein, mit einem Mann wie ihm intim zu werden? Vielleicht muss es ja gar nicht dazu kommen, sage ich mir. Vielleicht stoße ich ja schnell genug auf die gesuchten Informationen, um diesen letzten Schritt nicht gehen zu müssen. Es ist eine Lüge, an die ich unbedingt glauben möchte. Aber ob es so weit kommt oder nicht, ist jetzt nicht von Bedeutung. Mein Entschluss steht fest. Wenn es eine Chance gibt, dass ich durch mein Handeln meiner Familie helfen kann, dann muss ich es versuchen. Jakub wird es nie erfahren. Vielleicht, so überlege ich, entdecke ich sogar etwas, was uns beide schneller wieder zusammenbringt. Trotzig hebe ich mein Kinn an und mache mich auf den Heimweg.