1. KAPITEL

Als wir den weitläufigen Marktplatz überqueren, auf dem sich Tauben rund um die abgestandenen Pfützen scharen, betrachte ich argwöhnisch den Himmel. Ich greife Łukasz’ Hand noch etwas fester, um den Jungen zur Eile anzutreiben. Ein erster Regentropfen verfängt sich in seinen blonden Locken. Gott sei Dank, dass es wenigstens blonde Locken sind. Ein schneidender Märzwind fegt über den Platz, und obwohl ich meinen abgetragenen Mantel enger um mich ziehen möchte, wage ich es nicht, den Jungen loszulassen.

Wir durchqueren den hohen zentralen Torbogen der ausladenden gelben Tuchhalle, die den Platz in zwei Hälften teilt. Bis zum Markt in Nowy Kleparz, am äußersten nördlichen Rand der Krakówer Innenstadt, sind es noch einige Häuserblocks weit, doch ich merke, wie Łukasz schon jetzt langsamer wird. In seinen kleinen Schuhen mit den dünnen Sohlen schlurft er bei jedem Schritt über das Kopfsteinpflaster. Ich überlege, ihn zu tragen, aber er ist jetzt drei Jahre alt, und jeden Tag wird er ein bisschen schwerer. Hätte ich gut gegessen, dann könnte ich ihn vielleicht auf den Arm nehmen, doch so weiß ich: Meine Kräften würden mich nach wenigen Metern verlassen. Wenn er doch bloß schneller gehen würde. “Szybko, kochany!” Schnell, mein Liebster! Ich flehe ihn im Flüsterton an. “Chod´z!” Er scheint etwas leichtfüßiger zu gehen, als wir uns einen Weg zwischen den Blumenhändlern hindurchbahnen, die im Schatten der Türme der Marienkirche ihre Ware anpreisen.

Augenblicke später erreichen wir die gegenüberliegende Seite des Platzes, und ich spüre unter meinen Füßen ein vertrautes Dröhnen. Ich bleibe stehen. Seit rund einem Jahr habe ich keine Straßenbahn mehr genutzt, und ich stelle mir vor, wie ich Łukasz in die Bahn hebe und mich dann auf einen Sitz sinken lasse, wie ich die Häuser und die Fußgänger vorbeiziehen sehe. Innerhalb von Minuten wären wir am Markt. Innerlich schüttele ich den Kopf. Die Tinte auf unseren neuen Papieren ist kaum getrocknet, und das völlige Erstaunen, das sich bei Łukasz’ allerersten Fahrt in einer Straßenbahn auf seinem Gesicht abzeichnen muss, würde bei den anderen Leuten nur Argwohn wecken. Ich kann unsere Sicherheit nicht dem Wunsch nach etwas Bequemlichkeit opfern, also gehen wir so schnell weiter, wie es möglich ist.

Zwar sage ich mir immer wieder, dass ich den Kopf gesenkt halten und jeglichen Blickkontakt mit den Menschen vermeiden sollte, die an diesem Morgen ihre Einkäufe erledigen. Doch ich kann nicht anders und muss alles in mich aufsaugen. Ein Jahr ist vergangen, seit ich zum letzten Mal die Innenstadt besucht habe. Ich atme tief durch. Die von den noch verbliebenen Schneeresten feuchte Luft ist erfüllt vom Aroma gerösteter Kastanien, die an einem Eckkiosk angeboten werden. Plötzlich beginnt der Trompeter im Kirchturm das Hejnalied zu spielen, eine kurze Melodie, die er zu jeder vollen Stunde über den Platz schickt, um an den Einfall der Tataren in Kraków vor vielen Jahrhunderten zu erinnern. Ich widersetze mich dem Wunsch, mich der Richtung zuzuwenden, aus der die Klänge kommen, die mich wie eine alte Freundin begrüßen.

Als wir uns dem Ende der ulica Floriańska nähern, bleibt Łukasz abrupt stehen und umklammert fester meine Hand. Sein Gesicht, das blass ist von den vielen Monaten, die er in verschiedenen Wohnungen versteckt gehalten wurde, wird noch eine Spur fahler. “Was ist los?”, flüstere ich ihm zu, während ich mich neben ihn hocke, aber er reagiert nicht. Ich folge seinem Blick und erkenne, was er so gebannt betrachtet. Zehn Meter von uns entfernt, am Eingang zum mittelalterlichen Florianstor, stehen zwei deutsche Wachposten mit Maschinenpistolen. Łukasz zittert am ganzen Leib. “Ist schon gut, kochany. Es ist alles in Ordnung.” Ich lege meine Arme um seine Schultern, doch nichts kann ihn beruhigen. Seine Augen gehen hin und her, er bewegt den Mund, aber kein Ton kommt über seine Lippen. “Komm her.” Ich hebe ihn hoch, und er vergräbt das Gesicht an meinem Hals. Mein Blick wandert umher, da ich nach einer Seitenstraße Ausschau halte – jedoch vergeblich. Umkehren kann ich nicht, das würde nur Misstrauen wecken. Also hole ich tief Luft und gehe zielstrebig an den Wachposten vorbei, die von uns keinerlei Notiz nehmen. Ein paar Minuten später merke ich, dass der Junge wieder ruhig atmet, und ich setze ihn ab.

Schon bald haben wir den Markt von Nowy Kleparz erreicht. Mir fällt es schwer, meine Begeisterung darüber im Zaum zu halten, dass ich das Haus verlassen habe und wie ein ganz normaler Mensch spazieren und einkaufen gehe. Während wir uns durch die schmalen Gänge an den Ständen vorbei bewegen, höre ich, wie sich die Leute beklagen. Der Kohl ist blass und verwelkt, das Brot hart und trocken. Das wenige angebotene Fleisch ist von unbekannter Herkunft und verströmt bereits einen sonderbaren Geruch. Für die Menschen in den Städten und Dörfern, die die reiche und gute polnische Ernte aus der Zeit vor dem Krieg kennen, sind diese Lebensmittel ein Skandal. Ich dagegen fühle mich so sehr wie im Paradies, dass sich mein Magen verkrampft.

“Zwei Laibe”, sage ich zum Bäcker und halte den Kopf gesenkt, als ich ihm meine Lebensmittelmarken gebe. Ein merkwürdiger Ausdruck huscht über sein Gesicht, aber ich rede mir ein, dass ich mir das nur einbilde. Ich muss Ruhe bewahren. Ich weiß, für einen Fremden sehe ich aus wie eine beliebige Polin. Mein Haar hat einen hellen Farbton, ich spreche die Sprache akzentfrei, und ich trage ein bewusst unauffälliges Kleid. Krysia wählte absichtlich diesen Markt in einem Arbeiterviertel am nördlichen Stadtrand aus, wohl wissend, dass keiner meiner früheren Bekannten zum Einkaufen hierherkommen würde. Es ist von größter Wichtigkeit, dass niemand mich erkennt.

Ich schlendere von Stand zu Stand und gehe im Geiste durch, welche Besorgungen ich machen muss: Mehl, einige Eier, ein Hühnchen, falls es eines geben sollte. Noch nie habe ich Einkaufszettel geschrieben, was mir nun zugutekommt, da Papier so knapp geworden ist. Die Händler sind freundlich, jedoch zurückhaltend. Eineinhalb Jahre nach Kriegsausbruch sind die Lebensmittel knapp geworden, und für ein freundliches Lächeln gibt es kein Stück Käse extra. Auch die großen blauen Augen des Jungen können niemanden zu einer süßen Beigabe verleiten. Nach kurzer Zeit habe ich all unsere Lebensmittelmarken aufgebraucht, trotzdem ist mein Einkaufskorb noch halb leer. Wir machen uns auf den langen Heimweg.

Mir ist noch immer kalt von dem schneidenden Wind auf dem Marktplatz, als ich Łukasz durch Seitenstraßen zurück durch die Stadt führe. Wenige Minuten später biegen wir in die ulica Grodzka ein, eine breite, mit eleganten Geschäften und Häusern gesäumte Hauptstraße. Ich zögere, denn ich hatte gar nicht herkommen wollen. Mir ist, als würde eine zentnerschwere Last auf meine Brust drücken und mir die Luft zum Atmen nehmen. Ganz ruhig, sage ich zu mir. Du kannst das. Es ist eine Straße wie jede andere. Ein paar Meter weit gehe ich, dann bleibe ich wieder stehen. Ich befinde mich vor einem blassgelben Haus mit einer weißen Tür und mit Blumenkästen vor den Fenstern. Mein Blick wandert nach oben zum ersten Stockwerk. Ich fühle einen Kloß im Hals und kann nur mit Mühe schlucken. Denk nicht nach, ermahne ich mich, doch es ist zu spät. Dies hier war Jakubs Haus. Unser Haus.

Ich begegnete Jakub, als ich als Angestellte in der Universitätsbibliothek arbeitete. Es war an einem Freitagnachmittag. Ich erinnere mich noch so genau daran, weil ich mich beeilte, den Katalog auf den neuesten Stand zu bringen, um zeitig zum Schabbes zu Hause zu sein. “Entschuldigen Sie”, hörte ich eine tiefe Stimme neben mir sagen. Verärgert über diese Unterbrechung sah ich von meiner Arbeit auf. Der Mann war von mittlerer Größe, hatte einen kurz geschnittenen Bart und trug eine kleine Jarmulke. Sein braunes Haar war mit rötlichen Sprenkeln durchsetzt. “Können Sie mir ein gutes Buch empfehlen?”

“Ein gutes Buch?” Das unergründliche Dunkel seiner Augen überraschte mich ebenso wie die beiläufige Art seiner Frage.

“Ja, ich würde über das Wochenende gern etwas Leichtes lesen, um mich von meinem Studium abzulenken. Vielleicht die Ilias …”

Unwillkürlich musste ich lachen. “Homer ist für Sie leichte Literatur?”

“Im Vergleich zu Texten über Physik ganz sicher.” Kleine Fältchen bildeten sich an seinen Augenwinkeln. Ich führte ihn in die Literaturabteilung, wo er sich für einen Band mit Shakespeare-Komödien entschied. Meine Hand berührte leicht seine, als ich ihm das Buch gab, und ein Schauer lief mir über den Rücken. Ich trug das Buch als ausgeliehen ein, doch der Mann hielt sich weiter in der Bibliothek auf. Er verriet mir, er heiße Jakub und sei zwanzig Jahre alt, also zwei Jahre älter als ich.

Von nun an besuchte er mich jeden Tag in der Bibliothek. Schnell erfuhr ich, dass Naturwissenschaften sein Hauptfach war, seine wahre Leidenschaft aber der Politik galt. Er war in verschiedenen Aktivistengruppen tätig und schrieb Artikel für studentische und lokale Zeitungen, die nicht nur der polnischen Regierung gegenüber kritisch waren, sondern auch der – wie er es nannte – “geplanten Vorherrschaft des Deutschen Reichs über seine Nachbarn”. Ich machte mir Sorgen, es könnte gefährlich sein, so offen seine Meinung kundzutun. Während die Juden in meinem Viertel auf den Stufen vor ihren Häusern, vor den Synagogen und in den Geschäften hitzig über die politische Lage und die Welt im Allgemeinen diskutierten, war ich so erzogen worden, mich im Umgang mit anderen Menschen eher bedeckt zu halten. Doch Jakub, Sohn des bekannten Soziologen Maximilian Bau, kannte solche Bedenken nicht. Wenn ich ihm zuhörte, wie er redete, ihn beobachtete, wie seine Augen voller Eifer brannten und wie er gestikulierte, dann vergaß ich, mich zu fürchten.

Mich erstaunte, dass ein Student aus einer so wohlhabenden und aufgeklärten Familie sich für mich interessierte – die Tochter eines armen orthodoxen Bäckers. Doch selbst wenn ihm die Unterschiede unserer Herkunft bewusst gewesen sein sollten, so schien er sich daran nicht zu stören. Wir begannen, jeden Sonntagnachmittag gemeinsam zu verbringen, zu reden und am Ufer der Wisła entlangzuspazieren. “Ich sollte mich besser auf den Heimweg machen”, sagte ich an einem Sonntag im April, als es bereits düster wurde. Jakub und ich waren dem Flusslauf dort gefolgt, wo er sich um die Wawelburg wand. Wir hatten uns so angeregt unterhalten, dass mir jegliches Zeitgefühl abhandengekommen war. “Meine Eltern werden sich fragen, wo ich bleibe.”

“Ja, ich sollte sie auch bald kennenlernen”, erwiderte er so beiläufig, dass ich mitten in der Bewegung innehielt. “So etwas macht man doch, wenn man die Eltern um Erlaubnis bitten will, mit ihrer Tochter auszugehen.” Ich war zu verblüfft, um zu antworten. Obwohl Jakub und ich in den letzten Monaten viel Zeit miteinander verbracht hatten und ich wusste, dass ihm meine Gesellschaft angenehm war, hätte ich nie gedacht, dass er diesen Schritt in Erwägung zog. Er beugte sich vor und legte seine Finger unter mein Kinn, sodass ich das Leder seiner Handschuhe auf meiner Haut spürte. Behutsam presste er zum ersten Mal seine Lippen auf meinen Mund. Wir verharrten in dieser Haltung, bis ich das Gefühl hatte, der Boden würde unter meinen Füßen weggezogen und ich müsse ohnmächtig werden.

Wenn ich jetzt an Jakubs Kuss denke, fühle ich Wärme in mir aufsteigen. Hör auf damit, ermahne ich mich, doch vergebens. Knapp ein Jahr ist es her, dass ich zum letzten Mal meinen Ehemann gesehen und ihn berührt habe. Mein ganzer Körper schmerzt vor Sehnsucht nach ihm.

Ein dumpf klickendes Geräusch reißt mich aus meinen Gedanken, und ich kehre ins Hier und Jetzt zurück. Noch immer stehe ich vor dem gelben Haus und schaue nach oben, da wird die Haustür geöffnet, und eine ältere, gut gekleidete Frau tritt heraus. Als sie mich und Łukasz bemerkt, stutzt sie. Ich sehe ihr an, dass sie überlegt, wer wir wohl sein mögen und warum wir vor ihrem Haus stehen. Dann wendet sie sich abweisend um, verschließt die Tür und steigt die Stufen hinab. Das hier ist jetzt ihr Zuhause. Es reicht, ermahne ich mich. Ich kann es mir nicht erlauben, irgendetwas zu tun, das Aufmerksamkeit auf mich lenkt. Ich schüttele den Kopf und versuche, mich von Jakubs Bild vor meinem geistigen Auge zu befreien.

“Komm, Łukasz”, sage ich laut und ziehe sanft am Arm des Jungen. Wir gehen weiter und durchqueren die Planty, jenen breiten Streifen Parklandschaft, der sich wie ein Ring um die Innenstadt zieht. An den Bäumen sind bereits die ersten Knospen zu sehen, doch sie werden sicherlich einem späten Frost zum Opfer fallen. Łukasz umklammert meine Hand fester, als er mit großen Augen die Eichhörnchen beobachtet, die durchs Gebüsch turnen, als sei der Frühling gekommen. Während wir weitergehen, kann ich förmlich fühlen, wie die Stadt hinter mir zurückfällt. Fünf Minuten später haben wir die Aleje Krasińskiego erreicht, den breiten Boulevard, den die Deutschen zusammen mit der Aleje Mickiewicza und der Aleje Słowackiego schlicht in den “Außenring” umbenannt haben. Zu meiner Linken verläuft die Straße nach Süden bis zum Fluss, wo sie in eine Brücke übergeht. Ich bleibe stehen und schaue dorthin. Auf der anderen Seite des Flusses, gut einen halben Kilometer weiter südlich, beginnt das Ghetto. Ich drehe mich in diese Richtung und denke an meine Eltern. Wenn wir bis zur Mauer gehen, kann ich sie womöglich sehen. Vielleicht kann ich ihnen sogar etwas von dem Essen zustecken, das ich soeben gekauft habe. Krysia würde das nichts ausmachen. Doch dann halte ich inne. Ich kann es nicht wagen – nicht am helllichten Tag und nicht mit einem Kind an der Hand. Ich schäme mich für meinen Magen, weil der nicht mehr vor Hunger knurrt, und für meine Freiheit, dafür, dass ich durch die Straßen meiner Stadt gehe, als gäbe es weder Besetzung noch Krieg.

Am späten Nachmittag kehren Łukasz und ich nach Chelm zurück, in jenes ländliche Viertel, das unser Zuhause geworden ist. Meine Arme tun mir weh, weil ich nicht nur die Einkäufe, sondern auf den letzten Metern auch den Jungen tragen muss. Als wir um jene Ecke biegen, an der sich die Hauptstraße gabelt, atme ich tief ein. Die Luft ist inzwischen noch kälter geworden, ihre Klarheit wird nur von einem stechenden Geruch gestört, weil ein Bauer in der Nähe abgestorbenes Gestrüpp verbrennt. Ich kann das Feuer sehen, das auf dem sanft ansteigenden Ackerland zu meiner Rechten schwelt. Dichter Rauch zieht über die Felder, die sich wie die Wellen einer sanften See bis zum Horizont erstrecken.

Wir biegen nach links ein in die Straße, die im unteren Teil von Bauernhöfen gesäumt wird und sich im weiteren Verlauf durch die bewaldeten Hügel von Las Wolski schlängelt. Nach gut fünfzig Metern erreichen wir Krysias Haus, ein zweigeschossiges Landhaus aus dunklem Holz, umgeben von Kiefern. Eine Rauchwolke steigt aus dem Kamin auf, als wolle sie uns begrüßen. Ich setze den Jungen ab, der vorausläuft. Krysia hört seine Schritte, kommt hinter dem Haus hervor und nähert sich dem Tor. Mit ihrem hochgesteckten silbergrauen Haar sieht sie aus wie jemand, der für einen Opernbesuch bereit ist, doch ihre Hände stecken in Gartenhandschuhen aus sprödem Leder, nicht in Seiden- oder Spitzenhandschuhen. Schmutz bedeckt den Saum ihres Arbeitskleids, das schöner ist als alles, was ich wohl je mein Eigen nennen werde. Als sie Łukasz sieht, zeichnet sich auf Krysias faltenlosem Gesicht ein Lächeln ab. Sie vergisst für einen Moment ihre formvollendete Haltung, bückt sich und hebt den Jungen hoch.

“Ist alles gut gegangen?”, fragt sie, während ich näher komme. Sie lässt Łukasz auf ihrer Hüfte wippen und betrachtet sein Gesicht. Mich sieht sie nicht an. Es macht mir nichts aus, dass ihre ganze Aufmerksamkeit dem Kind gilt. Seit der Zeit, da er bei uns ist, hat er noch nicht gelächelt und keinen Ton gesprochen, was für uns beide beständiger Grund zur Sorge ist.

“Mehr oder weniger.”

“Wieso?” Sie dreht den Kopf zu mir. “Was ist passiert?”

Ich zögere, da ich in Gegenwart des Jungen nicht darüber reden möchte. “Wir sahen ein paar … Deutsche.” Ich sehe zu Łukasz. “Es hat uns sehr mitgenommen, aber sie schienen uns gar nicht zu bemerken.”

“Gut. Hast du auf dem Markt alles bekommen?”

Ich schüttele den Kopf. “Nur ein paar Sachen”, sage ich und hebe den Korb leicht an. “Aber nicht so viel, wie ich gehofft habe.”

“Das ist nicht schlimm, wir kommen schon über die Runden. Ich war gerade damit beschäftigt, den Garten umzugraben, damit wir nächsten Monat aussäen können.” Wortlos folge ich Krysia ins Haus und wundere mich einmal mehr über ihre Anmut und Kraft. In der Art, wie sie vor mir hergeht, wie jede ihrer wohl kontrollierten Bewegungen von Entschlossenheit zeugt, liegt eine Unbeirrbarkeit, die mich an meinen Mann erinnert.

Krysia nimmt mir den Korb aus der Hand und packt meine Einkäufe aus. Ich schlendere unterdessen in den Salon. Seit zwei Wochen lebe ich nun hier, und trotzdem erstarre ich immer wieder in Ehrfurcht, wenn ich die ausladenden Möbel und die wundervollen Kunstwerke sehe, die jede Wand schmücken. Am Flügel vorbei gehe ich zum Kamin. Auf dem Sims stehen drei gerahmte Fotos. Eines zeigt Marcin, Krysias verstorbenen Ehemann, wie er im Frack dasitzt, vor sich sein Cello. Auf einem anderen ist Jakub als Kind zu sehen, wie er an einem See spielt. Das dritte Foto nehme ich in die Hand, es zeigt Jakub und mich am Tag unserer Hochzeit. Wir stehen auf den Stufen vor dem Haus der Familie Bau in der ulica Grodzka, Jakub in einem dunklen Anzug, ich in dem bis zu den Knöcheln reichenden Hochzeitskleid aus weißem Leinen, in dem vor mir meine Mutter und meine Großmutter geheiratet haben. Obwohl wir in die Kamera blicken sollen, haben wir einander den Kopf zugewandt, mein Mund ist leicht geöffnet, da ich über einen Witz lachen muss, den mein Mann mir in dem Moment zuflüstert.

Ursprünglich wollten wir mit der Heirat noch ein Jahr warten, bis Jakub seinen Abschluss hatte. Doch 1938 marschierten deutsche Truppen ins Sudetenland ein, und kein Land in Westeuropa unternahm etwas dagegen. Hitler stand an der Grenze zu Polen, jederzeit zum Angriff bereit. Wir hatten davon gehört, wie grausam die Nazis im Deutschen Reich in Deutschland und in Österreich die Juden behandelten. Wer vermochte schon zu sagen, was aus unserem Leben würde, sollten die Deutschen in Polen einfallen? Darum entschieden wir, es sei besser, sofort zu heiraten und sich gemeinsam einer ungewissen Zukunft zu stellen.

Jakub machte mir an einem schwülwarmen Sonntagnachmittag einen Heiratsantrag, als wir wieder einmal am Fluss spazieren gingen. “Emma …” Er blieb stehen, drehte sich zu mir und kniete vor mir nieder. Sein Antrag kam für mich nicht völlig überraschend, denn am Morgen zuvor war Jakub mit meinem Vater in die Synagoge gegangen. An der nachdenklichen Art, mit der Vater mich nach seiner Rückkehr aus der Synagoge ansah, erkannte ich, dass sie nicht über Politik oder Religion, sondern über die gemeinsame Zukunft von Jakub und mir gesprochen hatten. Dennoch kamen mir die Tränen. “Wir leben in einer Zeit der Ungewissheit”, begann Jakub, und ich musste mir ein Lachen verkneifen. Nur ein Mann wie er konnte aus einem Heiratsantrag eine politische Rede machen. “Aber ich weiß, egal was uns erwartet, ich möchte meinem Schicksal gemeinsam mit dir begegnen. Würdest du mir die Ehre erweisen und meine Frau werden?”

“Ja”, hauchte ich, als er den silbernen Ring mit einem eingefassten winzigen Diamanten über meinen linken Ringfinger schob. Er stand auf und küsste mich, länger und leidenschaftlicher als je zuvor.

Wenige Wochen später heirateten wir unter einem Baldachin im eleganten Salon der Baus, nur unsere engsten Familienangehörigen waren anwesend. Nach der Zeremonie brachten wir meine wenigen Habseligkeiten in das freie Zimmer im Haus von Jakubs Eltern. Professor Bau und seine Frau brachen kurz darauf für ein Ferienjahr nach Genf auf, sodass Jakub und ich das Haus ganz für uns allein hatten. Ich war in einer winzigen Dreizimmerwohnung aufgewachsen, und es war für mich ungewohnt, in solchem Luxus zu leben. Die hohen Decken und die polierten Holzböden schienen eher zu einem Museum zu passen. Anfangs fühlte ich mich fehl am Platz, so wie ein Dauergast in einem riesigen Haus, doch ich lernte recht schnell, dieses großzügige Heim zu lieben, in dem es Musik, Kunst und Bücher gab. Nachts lagen Jakub und ich wach und erzählten uns von unseren Träumen. Wir konnten es kaum abwarten, im Jahr nach seinem Abschluss vielleicht in der Lage zu sein, uns ein eigenes Haus zu kaufen.

An einem Freitagnachmittag, drei Wochen nach unserer Hochzeit, beschloss ich, ins jüdische Viertel Kazimierz zu gehen und aus der Bäckerei meiner Eltern etwas Challah-Brot für das Abendessen zu holen. Als ich das Geschäft erreichte, drängten sich darin bereits die Kunden, die wegen des Schabbes in Eile waren. Ich stellte mich zu meinem Vater hinter die Theke, um ihm zu helfen. Eben hatte ich einer Kundin das Wechselgeld gegeben, da riss ein kleiner Junge die Ladentür auf. “Die Deutschen greifen an!”, rief er aufgeregt.

Ich erstarrte mitten in meiner Bewegung. Im Laden herrschte sofort Totenstille. Mein Vater holte rasch das Radio aus dem Hinterzimmer und schaltete es ein, die Kunden drängten sich um den Apparat, um die Nachrichten zu hören. Die Deutschen hatten die Westerplatte nahe Gdańsk angegriffen. Polen und das Deutsche Reich befanden sich im Krieg. Einige Frauen im Geschäft fingen leise an zu weinen. Der Radiosprecher verstummte, stattdessen wurde die polnische Nationalhymne gespielt. Ein paar Leute um mich herum stimmten inbrünstig mit ein. “Die polnische Armee wird uns verteidigen”, hörte ich Pan Klopowitz, einen Veteran aus dem Großen Krieg, sagen. Aber ich kannte die wahren Verhältnisse und wusste genau, wie es um uns bestellt war. Die polnische Armee bestand zum größten Teil aus Kavallerie und Fußsoldaten, die den Panzern und den Maschinengewehren der deutschen Wehrmacht nichts entgegenzusetzen hatten. Ich sah zu meinem Vater hinüber, unsere Blicke trafen sich. Mit einer Hand umfasste er seinen Gebetsschal, mit der anderen klammerte er sich so krampfhaft an der Theke fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Offenbar rechnete auch er mit dem Schlimmsten.

“Geh jetzt”, forderte er mich auf, nachdem auch der letzte Kunde mit einem Laib Brot das Geschäft verlassen hatte. Ich kehrte nicht in die Bibliothek zurück, sondern eilte nach Hause. Jakub wartete bereits auf mich, als ich in die Wohnung kam. Sein Gesicht war totenbleich, als er mich in seine Arme schloss.

Nur zwei Wochen nach Beginn des Einmarsches hatten die Deutschen die polnische Armee überrannt. Von einem Tag auf den anderen fuhren Panzer durch Kraków, und Männer mit verbissenen Mienen marschierten in Uniform durch die Straßen. Die Menschen mussten nicht erst dazu aufgefordert werden, sondern machten ihnen auch so unverzüglich Platz.

Bald darauf kündigte man mir meine Stelle an der Universität, und wenige Wochen später erfuhr Jakub vom Leiter seiner Fakultät, dass Juden der Besuch von Hochschulen nicht länger gestattet war. Die Welt, wie wir sie kannten, löste sich in Nichts auf.

Ich hatte gehofft, Jakub würde nach seinem Verweis von der Universität mehr Zeit zu Hause verbringen, doch seine politischen Treffen fanden im Laufe des folgenden Jahres in immer kürzeren Abständen statt. Nun waren daraus Geheimtreffen geworden, die man in Wohnungen überall in der Stadt abhielt. Auch wenn er es nicht aussprach, wurde mir klar, dass diese Zusammenkünfte irgendetwas mit dem Widerstand gegen die Nazis zu tun hatten. Ich wollte ihn bitten und anflehen, damit aufzuhören, da ich entsetzliche Angst hatte, man könne ihn verhaften oder ihm Schlimmeres antun. Allerdings wusste ich, dass meine Sorgen nicht ausreichten, um ihn von seinem politischen Eifer abzubringen.

An einem Dienstagabend Ende März nickte ich ein, während ich auf Jakubs Heimkehr wartete. Irgendwann später wurde ich wieder wach, ein Blick zur Uhr auf dem Nachttisch ließ mich erkennen, dass es bereits nach Mitternacht war. Er hätte längst zu Hause sein sollen. Hastig verließ ich das Bett und lauschte, doch von meinen eigenen Schritten abgesehen war alles ruhig. Meine Gedanken überschlugen sich. Wie eine Verrückte lief ich immer wieder durchs Haus, im Abstand von wenigen Minuten eilte ich zum Fenster und suchte jedes Mal aufs Neue die Straße nach meinem Mann ab.

Irgendwann gegen halb zwei in der Nacht hörte ich plötzlich ein Geräusch aus der Küche. Jakub war über die Hintertreppe hereingekommen. Frisur und Bart waren auf eine für ihn ganz untypische Weise zerzaust. Ein dünner Film aus winzigen Schweißperlen bedeckte seine Oberlippe. Zitternd schlang ich meine Arme um ihn. Jakub nahm wortlos meine Hand und führte mich ins Schlafzimmer. Ich versuchte, nichts zu sagen, als er mich auf die Matratze drückte und sich mit einer nie gekannten Verzweiflung auf mich legte.

“Emma, ich muss fortgehen”, erklärte er mir später in der Nacht, als wir wach im Bett lagen und dem Poltern der Straßenbahnwagen lauschten. Meine vom Liebesakt schweißnasse Haut war im kühlen Dunkel des Schlafzimmers fast getrocknet, und ich verspürte ein leichtes Frösteln.

Mein Magen verkrampfte sich. “Wegen deiner Arbeit?”

“Ja.”

Ich wusste, er meinte damit nicht seine frühere Stelle an der Universität. “Wann?”, fragte ich mit zittriger Stimme.

“Schon bald … ich glaube, in wenigen Tagen.” Etwas in seinem Tonfall verriet mir, dass er mir nicht alles erzählte, was er wusste. Er drehte sich auf die Seite, sodass er mit seiner Brust an meinen Rücken gepresst dalag und seine Beine zwischen meine schmiegen konnte. “Ich werde Geld für den Fall hierlassen, dass du etwas benötigst.”

In der Dunkelheit winkte ich ab. “Das möchte ich nicht.” Tränen stiegen mir in die Augen. Bitte bleib, wollte ich zu ihm sagen. Ich wäre bereit gewesen, ihn anzubetteln, hätte ich mir sicher sein können, dass es etwas nützte.

“Emma …” Er hielt inne. “Du solltest besser zu deinen Eltern zurückgehen.”

“Das werde ich machen.” Wenn du fort bist, fügte ich in Gedanken hinzu.

“Da ist noch etwas …” Seine Wärme wich von mir, als er sich wegdrehte, um etwas aus dem Nachttisch zu holen. Das Papier mit dem erhabenen Wachssiegel, das er dann vor mich hinlegte, fühlte sich glatt und neu an. “Verbrenn es bitte.” Es war unsere Kittubah, unser hebräischer Trauschein. Im Strudel der Ereignisse war keine Zeit geblieben, unsere Ehe offiziell bei den Behörden eintragen zu lassen.

Ich schob das Papier zu ihm zurück. “Niemals.”

“Du musst deinen Ring ablegen und so tun, als hätten wir niemals geheiratet. Sag deiner Familie, sie soll mit niemandem darüber reden”, fuhr er fort. “Du schwebst in Gefahr, wenn ich weg bin und jemand erfährt, dass du meine Frau bist.”

“In Gefahr? Jakub, ich bin eine Jüdin in einem von den Nazis besetzten Land. Könnte ich in einer größeren Gefahr als dieser schweben?”

“Tu es einfach”, beharrte er.

“Also gut”, log ich, nahm ihm das Dokument aus der Hand und schob es unter die Matratze. Niemals würde ich die eine Sache verbrennen, die mich für alle Zeit mit ihm verband.

Ich lag noch immer wach, als Jakub längst eingeschlafen war, was ich an seinem ruhigen, gleichmäßigen Atmen erkannte. Vorsichtig strich ich an der Stelle über seine Haare, an der sie den Kragen berührten, vergrub meine Nase in der Mulde und atmete tief den vertrauten Geruch ein. Mit einem Finger zeichnete ich die Konturen seiner Hand nach und versuchte, mir die Form einzuprägen. Plötzlich bewegte er sich und gab leise Stöhnlaute von sich, als kämpfe er im Schlaf bereits gegen den Feind. Schließlich wurden meine Augenlider immer schwerer, und es kostete mich ungeheure Kraft, gegen die Müdigkeit anzukämpfen. Doch ich würde noch genug Zeit zum Schlafen haben …

Irgendwann verlor ich den Kampf gegen meine Erschöpfung. Erst Stunden später wurde ich vom Geräusch der Straßenfeger geweckt, die die Fußwege kehrten. Vielleicht war es auch das rhythmische Hufgetrappel der Pferde, die die Wagen der Lieferanten über das Kopfsteinpflaster zogen. Draußen war es noch dunkel. Als ich mit einer Hand über die andere Hälfte des Bettes strich, war sie leer, aber das Laken fühlte sich noch warm an, und in der Luft lag der wundervolle Geruch meines Ehemanns. Ich musste nicht erst die Augen öffnen; ich wusste auch so, dass sein Rucksack und einige andere seiner Habseligkeiten nicht mehr da waren.

Jakub hatte mich verlassen.

“… hungrig?”, durchdringt Krysias Stimme meine Erinnerungen. Mir wird bewusst, dass sie den Salon betreten hat und mit mir redet, doch ich habe kein Wort mitbekommen. Widerstrebend drehe ich mich zu ihr um, als wäre ich aus einem schönen Traum gerissen worden. Sie hält mir einen Teller mit Brot und Käse hin.

“Nein, danke.” Ich schüttele den Kopf, mit meinen Gedanken noch halb in der Vergangenheit.

Krysia stellt den Teller auf dem Wohnzimmertisch ab und kommt zu mir. “Das ist ein schönes Motiv”, sagt sie und zeigt dabei auf das Foto von meiner Hochzeit. Ich antworte nicht, worauf sie die Aufnahme in die Hand nimmt, die Jakub als Kind zeigt. “Wir sollten sie weglegen, damit niemand sie sehen kann.”

“Wer sollte sie denn sehen?”, frage ich. “Hier gibt es doch nur uns drei.” Krysia hatte das Dienstmädchen und den Gärtner entlassen, bevor Łukasz und ich herkamen. Und in den drei Wochen, die wir nun bei ihr leben, hat niemand sonst das Haus betreten.

“Man kann nie wissen”, erwidert sie. Ihre Stimme klingt eigenartig. “Besser, wir gehen kein Risiko ein.” Sie streckt ihre Hand aus und ich zögere, da ich nicht eines der letzten Dinge aufgeben möchte, das mich an meinen Mann erinnert. Aber mir wird klar, dass sie recht hat. Uns bleibt einfach keine andere Wahl. Seufzend reiche ich Krysia das Hochzeitsfoto und sehe ihr wie benommen nach, als sie es aus dem Zimmer bringt.