19. KAPITEL

Ich starre die Gestapo-Offiziere an, ohne einen Ton herauszubringen. Panik überkommt mich. Haben sie Jakub gesehen? Einen so großen Vorsprung kann er noch nicht haben. Vielleicht sind sie deswegen hier. “G-guten Abend”, kann ich schließlich doch herausbringen, obwohl meine Kehle wie zugeschnürt ist.

“Erwarten Sie jemanden?”, fragt der ältere der beiden Männer.

Fieberhaft suche ich nach einer Antwort. “Ja, unseren Gärtner Ryszard, der noch etwas herbringen sollte”, antwortet Krysia hinter mir an meiner Stelle. Nun schiebt sie sich vor mich und streckt ihre Hand aus. “Ich bin Krysia Smok.”

Der ältere Offizier, ein schmaler, großer Mann mit Brille, schüttelt ihre Hand. “Leutnant Hoffmann, das hier ist Feldwebel Braun.” Er deutet auf den Jüngeren, der kleiner und von stämmiger Statur ist.

Krysia will auch Braun die Hand schütteln, doch der nickt nur knapp. “Möchten die Herren nicht eintreten?” Sie klingt so nett und höflich, als würde sie gute Freunde zum Tee einladen. Während ich die Tür hinter den beiden Männern schließe, werfe ich Krysia einen verständnislosen Blick zu. “Kommen Sie in den Salon”, sagt sie. “Da ist es viel wärmer.” Dann erst wird mir klar, dass sie die zwei Gestapo-Leute von der Straße haben will, damit sie Jakub nicht bemerken. Sie sollte eigentlich unter falschem Namen bei den Deutschen arbeiten, denn sie ist eine viel bessere Schauspielerin als ich.

Krysia führt uns alle in den Salon und wendet sich dann an mich: “Mach uns bitte einen Tee, meine Liebe.” Ich möchte sie nur ungern mit den Männern allein lassen, aber ihr Tonfall ist ruhig und bestimmend. In der Küche fülle ich Wasser in den Kessel, während ich fieberhaft nachdenke. Warum kommt die Gestapo jetzt her? Was wollen die Männer hier? Einige Minuten später trage ich das Tablett mit dem Tee in den Salon, muss aber meine Finger dazu zwingen, nicht zu zittern. Ich stelle das Tablett auf den niedrigen Tisch. Als ich den Tee einschenke, werfe ich den beiden Männern verstohlene Blicke zu. Leutnant Hoffmann steht am Kamin und betrachtet Marcins Foto auf dem Sims. Dabei denke ich daran, wie traurig ich war, dass wir nach meiner Ankunft Jakubs Fotos versteckt haben. Jetzt bin ich Krysia für ihre Weitsicht dankbar.

Rasch sehe ich mich um, ob es noch irgendeinen Hinweis darauf gibt, dass sich erst vor ein paar Minuten mein Mann hier aufgehalten hat, doch ich kann nichts entdecken. Feldwebel Braun tritt ans Fenster und schaut in den Wald hinaus. Ich werfe Krysia einen nervösen Blick zu. Kann es sein, dass er Jakub in der Dunkelheit davonlaufen sieht? “Meine Herren, bitte, trinken Sie doch einen Tee”, beharrt sie. Langsam und ein wenig widerstrebend kommen die Männer zu ihr und setzen sich uns gegenüber. “Sie müssen entschuldigen, dass wir das Alltagsgeschirr benutzen”, sagt sie und reicht jedem von ihnen eine Tasse. “Und auch, dass ich nicht angemessen gekleidet bin. Sie müssen wissen, wir sind es nicht gewöhnt, solch hohen Besuch ohne vorherige Ankündigung zu empfangen.” Sie betont ‘ohne Ankündigung’, um den Männern auf subtile Weise zu verstehen zu geben, dass sie eigentlich nicht willkommen sind.

“Entschuldigen Sie, wenn wir ungelegen kommen”, erklärt Hoffmann und hört sich wie ein Schuljunge an, den man soeben zurechtgewiesen hat. “Es ist nur so, dass wir …”

“Unsinn!”, poltert Braun in einem Tonfall, der mich an Generalmajor Ludwig erinnert. “Die Gestapo macht nicht erst Termine, gute Frau.”

“Ja, natürlich”, erwidert Krysia ruhig. Sie spricht auffallend langsam, um Zeit zu gewinnen. “Unser Haus steht Ihnen immer offen. Was führt Sie her? Wie können wir Ihnen behilflich sein?”

“Wir haben Berichte erhalten, dass sich hier in der Gegend Flüchtlinge aufhalten sollen”, antwortet Hoffmann. Mir ist klar, dass er die Widerstandskämpfer meint, aber natürlich werden die Deutschen sie nicht als solche bezeichnen. “Sie sollen im Wald bei den Hügeln ihren Treffpunkt haben.”

“In Las Wolski?”, fragt Krysia so überrascht, dass sie sogar mich fast überzeugen kann.

Er nickt. “Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen?”

“Nein”, erklärt sie nachdrücklich. “Allerdings gehen wir um diese Jahreszeit auch nicht im Wald spazieren.”

“Natürlich”, gibt Braun zurück, dessen Tonfall eine Spur Sarkasmus aufweist. Er sieht Krysia direkt in die Augen. “Haben Sie in letzter Zeit etwas von Ihrem Neffen gehört?”

Die Frage kommt so plötzlich, dass ich vor Schreck unwillkürlich nach Luft schnappen muss. Einen Moment lang herrscht Stille im Zimmer, und ich kann nur hoffen, dass die beiden meine Reaktion nicht bemerkt haben. “Ich habe mehrere Neffen, mein Herr”, erwidert Krysia. Ihre Stimme zittert ein wenig. “Von welchem reden Sie?”

“Von dem Neffen Ihres Ehemanns, und da haben Sie nur einen: Jakub Bau.” Mir gefriert das Blut in den Adern. Sie wissen von Jakub.

“Ach, Sie meinen Marcins Neffen Jakub.” Sie betont den Namen meines Mannes, als hätte sie ihn seit Jahren nicht mehr gehört.

“Ja”, bestätigt Braun mit zunehmender Ungeduld.

“Hat er etwas angestellt?”, fragt sie.

Braun zögert. Ich glaube, Krysias forsche Frage hat ihn überrascht. Endlich sagt er: “Er war schon vor dem Krieg ein Unruhestifter und verbreitete Lügen über das Reich. Seit geraumer Zeit wurde er nicht mehr gesehen, aber wir würden uns gern mit ihm unterhalten.”

“Solange ich denken kann, hat sich der Junge immer gern in die Nesseln gesetzt”, meint sie und versucht, unbeschwert zu klingen.

“Wir reden hier nicht von ‘Nesseln’“, erwidert Braun ungehalten. “Wir reden von Hochverrat.”

“Ja, selbstverständlich.” Nun setzt Krysia eine ernste Miene auf, als sei ihr soeben die Tragweite dieser Worte bewusst geworden. “Ich verstehe, was Sie meinen. Aber ich habe Jakub schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Selbst vor dem Krieg sind wir uns in der Stadt nur ein paar Mal über den Weg gelaufen.” Ich bin erstaunt, mit welcher Gelassenheit sie diese Lügen auftischt. “Mit dieser Seite der Familie habe ich seit Marcins Tod nur noch wenig zu tun, müssen Sie wissen.” Ihr Tonfall hat etwas Beiläufiges. “Und seitdem ich nach hier draußen gezogen bin, bekomme ich ohnehin nicht mehr viel Besuch.” Diese letzte Bemerkung richtet sie an Hoffmann.

“Das überrascht mich, Verehrteste”, erwidert der ältere Mann rasch. “Sie sind eine beispielhafte Gastgeberin. Und Sie haben ein schönes Haus.”

Krysia legt den Kopf leicht schräg und streicht sich die Haare aus dem Gesicht. “Das ist sehr nett von Ihnen, Herr Leutnant.” Jetzt wird mir klar, dass sie mit dem Mann schäkert, um Zeit zu gewinnen. Bei Hoffmann scheint dieser Trick zu wirken.

Den jüngeren Mann dagegen kümmert das nicht. “Mir ist eine kleine Gartenlaube hinter dem Haus aufgefallen”, wirft er ein. “Was ist da drin?”

Krysia dreht sich zu ihm um. “Nichts”, antwortet sie sofort. “Sie stand eigentlich schon immer leer.”

Braun mustert aufmerksam ihr Gesicht. “Dann wird es Ihnen sicher nichts ausmachen, wenn wir einen Blick hineinwerfen, oder?”

Sie zögert. Aus dem Augenwinkel bemerke ich einen winzigen Anflug von Panik. Ich weiß, vor welchem Dilemma sie steht. Ist Jakub weggelaufen? Oder versteckt er sich womöglich dort? “Es ist ein ziemlich altes Schloss, und ich glaube nicht, dass ich einen Schlüssel habe.”

“Wenn das Schloss wirklich so alt ist, wie Sie sagen, sollte man es leicht aufbrechen können”, meint Braun. Es ist offensichtlich, dass er keine Ruhe geben wird.

Mir entgeht nicht der dünne Film aus Schweißperlen, der sich auf Krysias Oberlippe bildet. “Na gut”, lenkt sie schließlich ein. “Ich möchte mich nur schnell umziehen, dann begleite ich Sie.”

Krysia verlässt den Salon und geht langsam die Treppe hinauf, um noch mehr Zeit zu schinden. Ich sitze reglos da und verspüre panische Angst, wenn ich an die Fragen denke, die sie mir stellen könnten. Doch mit mir reden sie nicht, stattdessen gehen sie im Zimmer umher und sehen sich Fotos und andere Dinge an. Braun stellt sich an den Flügel und berührt die Tasten auf eine ungelenke Manier, die mir verrät, dass er dieses Instrument noch nie gespielt hat. Ich sitze hilflos da, während sie sich durch unser Leben wühlen.

Einen Moment lang überlege ich, ob ich ihnen sagen sollte, dass ich für den Kommandanten arbeite. Vielleicht würde die Erwähnung eines so hochrangigen Offiziers die zwei davon überzeugen, uns besser in Ruhe zu lassen. Doch wenn sie sich von ihm meine Geschichte bestätigen lassen wollen, werden sie ihm womöglich erklären, warum sie hergekommen sind. Das könnte auf meine Verbindung zu Jakub aufmerksam machen. Genau das kann ich aber nicht riskieren.

Ein paar Minuten später kehrt Krysia in Mantel und Schal gehüllt zurück. Als sie an mir vorbeigeht, nehme ich einen leichten Hauch von Jakubs Geruch wahr, der ihr immer noch anhaftet. Lauf so schnell du kannst, Jakub, flehe ich inständig. “Bereit?”, fragt Krysia die beiden Offiziere so freundlich, als würden wir zu einem Picknick aufbrechen. Sie öffnet die Haustür. Bevor wir uns nach draußen begeben können, kommt uns ein dritter Uniformierter entgegen.

“Sie sollten doch im Wagen bleiben”, herrscht Braun ihn an.

“Schon gut”, mischt sich Hoffmann ein. “Was ist denn los, Klopp?”

“Funkmeldung vom Hauptquartier, Herr Leutnant. Eine dringende Angelegenheit erfordert unsere sofortige Anwesenheit.”

Braun zögert und sieht in Richtung Gartenlaube. “Nur einen Moment noch …”

“Es tut mir leid, aber wir sollen sofort zurückkommen.”

Hoffmann wendet sich an Krysia. “Wie es scheint, bleibt die Tür Ihrer Gartenlaube vorerst verschont. Trotzdem danke ich Ihnen für Ihre Kooperation.” Die Männer gehen fort und verschwinden in der Nacht.

Krysia schließt hinter ihnen die Tür. Draußen wird der Automotor gestartet, schnell entfernt sich das Geräusch. “Das war knapp.” Erleichtert atme ich aus.

Sie antwortet nicht, sondern sinkt auf die unterste Treppenstufe und hält sich die Brust. Ihr Gesicht ist ganz blass. “Krysia, was ist?”, frage ich und knie mich neben sie. “Geht es dir nicht gut?”

“Doch, doch”, bringt sie heraus, aber ihre Stimme ist kaum mehr ein Flüstern. Normalerweise strotzt sie nur so vor Kraft, doch der Besuch der Gestapo war offenbar zu viel.

“Komm, lass uns erst einmal beruhigen.” Ich lege einen Arm um sie und helfe ihr auf. Gemeinsam begeben wir uns in die Küche, wo ich sie zu einem Stuhl begleite. Plötzlich höre ich Łukasz von oben weinen. “Warte hier”, sage ich zu Krysia.

Łukasz steht in seinem Kinderbett, sein Gesicht ist rot und tränenüberströmt. Ich hebe ihn hoch und drücke ihn an mich. “Braver Junge”, flüstere ich und bin dankbar dafür, dass er nicht schon früher geweint hat.

Ich nehme ihn mit zu Krysia, die sich nicht von der Stelle gerührt hat. “Hier.” Ich setze ihr Łukasz auf den Schoß, sie drückt ihn fest an sich und wiegt ihn sanft hin und her. “Ich mache uns Tee.”

Krysia schüttelt den Kopf. “Keinen Tee”, lehnt sie ab. “Wodka.” Ich erinnere mich an die Flasche, die mir ganz hinten im Küchenschrank aufgefallen war. Ich hole sie hervor und schenke zwei Gläser ein, danach gieße ich für Łukasz etwas Milch in eine Tasse und setze mich zu den beiden an den Tisch. Als Krysia nach ihrem Glas greift, windet sich Łukasz aus ihrem Arm und nimmt mir die Milch ab.

“Geht es wieder etwas besser?”, frage ich Krysia und mustere ihr Gesicht. Ihre Wangen haben meiner Meinung nach ein wenig Farbe angenommen.

“Ja. Tut mir leid, was da passiert ist”, erwidert sie. “Manchmal bekomme ich solche … solche Beklemmungen, wenn die Situation sehr angespannt ist.”

Bei ihren Worten bekomme ich es mit der Angst zu tun. “Krysia, das könnte dein Herz sein. Du musst einen Arzt aufsuchen.”

Sie schüttelt den Kopf. “Was sollte ein Arzt für mich tun können? Nein, das geht schon wieder.”

Ich möchte widersprechen, doch ich weiß, das würde zu nichts führen. “Na, wenigstens sind wir die Gestapo los.”

“Jedenfalls für den Moment”, sagt sie angespannt. “Mein Gefühl verrät mir, dass sie wiederkommen werden.”

Ich muss schlucken. Daran will ich jetzt nicht denken. “Warst du besorgt, Jakub könnte sich in der Laube versteckt halten?”

“Nein, überhaupt nicht. Ich wusste, Jakub hat längst das Weite gesucht. Aber da sind einige Dinge … na ja, sagen wir, da sind Dinge, die die Bewegung sofort an sich nehmen muss. In der Laube darf sich nichts mehr befinden, wenn die Gestapo zurückkehrt.”

“Du scheinst davon überzeugt, dass das geschieht.”

“Auf jeden Fall. Ich glaube, ich hatte diesen Hoffmann ganz gut abgelenkt …”

“O ja”, unterbreche ich sie. “Du hast sehr überzeugend mit ihm geschäkert.”

Lächelnd erwidert sie: “Ich dachte bereits, ich wäre ein wenig eingerostet, doch vermutlich gehört das zu den Dingen, die man nie verlernt. Jedenfalls habe ich Hoffmann ablenken können, aber Braun war nach wie vor misstrauisch. Er ist hartnäckig wie ein Hund, der sich in seine Beute verbissen hat.” Ich nicke zustimmend, da ich diese Sorte kenne. “Wenigstens ist Łukasz lange genug ruhig geblieben.” Als der Junge seinen Namen hört, sieht er zu uns und lacht. “Beim nächsten Mal läuft es vielleicht nicht so gut.”

Ich lasse mich auf meinem Stuhl zurücksinken, als mir bewusst wird, wie knapp wir einer Katastrophe entkommen sind. Die Gestapo war auf der Suche nach Jakub. Ein paar Minuten früher, und wir würden jetzt alle im Gefängnis sitzen. Ruhig bleiben, sage ich mir. Jetzt musst du für Krysia stark sein. Ich nippe an meinem Wodka und versuche, nicht das Gesicht zu verziehen. “Ich hatte überlegt, ob ich ihnen gegenüber erwähnen soll, dass ich für den Kommandanten arbeite.”

“Es ist gut, dass du das nicht getan hast”, erklärt sie. “Wir sollten den Kommandanten nicht auch noch auf eine mögliche Verbindung zwischen dir und Jakub aufmerksam machen, selbst wenn es nur darum geht, dass ihr beide mit mir verwandt seid.”

“Das dachte ich mir auch.”

Sie schweigt und trinkt einen großen Schluck Wodka. “Ich bin mir nicht sicher, was wir mit dem Jungen machen sollen.”

“Mit ihm machen?”, wiederhole ich erschrocken. “Wie meinst du das?”

“Wenn die Gestapo zurückkehrt und Łukasz sieht, wird man uns Fragen stellen.”

“Aber er ist heute Abend doch ruhig geblieben …”

“Anna, so einfach ist das nicht. Glaubst du, es war ein Zufall, dass die Gestapo herkommt und nach Jakub fragt, nachdem der nur Minuten zuvor das Haus verlassen hat? Nein”, beantwortet sie ihre Frage selbst.

Ich halte den Atem an. “Ein Spitzel?”

“Ja. Vielleicht einer meiner Nachbarn, der ihn hier eintreffen sah. Vielleicht auch ein Verräter in der Bewegung. Ich mache mir darüber Sorgen, seit wir wissen, dass Informationen nach außen dringen. Da könnte irgendwo jemand sein, der weiß oder zumindest vermutet, dass ihr beide nicht diejenigen seid, für die ihr euch ausgebt. Womöglich ist es zu unsicher, wenn Łukasz noch länger bei uns bleibt.”

“Nein!”, rufe ich erschrocken und nehme den Jungen in meine Arme. “Er hat sich gerade erst an uns gewöhnt, wir können ihn jetzt nicht fortschicken!”

“Unter Umständen bleibt uns gar keine andere Wahl, Anna. Am wichtigsten ist, dass er in Sicherheit ist und überlebt.”

Ich stehe auf und halte Łukasz weiter fest. “Aber …”

“Ich weiß, du hast ihn sehr lieb gewonnen. Mir geht es nicht anders. Aber er ist weder dein noch mein Kind. Er wird vielleicht nicht für immer bei uns bleiben. Das ist dir doch klar, oder?”

Ich antworte nicht, sondern vergrabe mein Gesicht in Łukasz’ Locken.

“Wohin sollte er denn gehen?”, frage ich schließlich.

Krysia hält kurz inne, dann räumt sie ein: “Das weiß ich nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es einen Platz gibt, an dem er momentan sicherer wäre als bei uns. Ich werde vorläufig gegenüber der Bewegung noch nichts sagen. Aber du musst akzeptieren, dass es dazu kommen kann.”

“Vielleicht kann ich …” Ich wollte soeben vorschlagen, mit dem Kommandanten zu reden und ihn zu bitten, uns die Gestapo vom Hals zu halten, doch ich spreche es nicht aus.

“Komm.” Sie stellt ihr Wodkaglas weg und steht ein wenig wacklig auf. Ich merke ihr an, dass sie sich vom Auftauchen der Gestapo noch nicht erholt hat. Sie streckt die Arme aus. “Ich bringe ihn ins Bett.”

“Nein.” Ich wende mich von ihr ab, weil ich Łukasz nicht hergeben will. In dem Moment tritt Krysia auf die Milchtasse, die der Junge auf dem Boden hat stehen lassen. Die Tasse zerbricht, und ich sehe mit an, wie Krysia nach hinten kippt und mit einem lauten Aufschrei auf dem harten Holzboden landet.

Sofort eile ich zu ihr, immer noch den Jungen auf dem Arm. “Krysia, ist alles in Ordnung?”

Sie antwortet nicht, und ich merke, wie aufgewühlt sie ist. “Mir geht es gut”, sagt sie schließlich gereizt. Ich halte meine Hand hin, um ihr aufzuhelfen, aber sie ignoriert sie und steht bedächtig und ohne meine Hilfe auf.

“Es tut mir leid”, entschuldige ich mich verlegen. Krysia ist unsere Beschützerin, und ich behandele sie wie einen Feind.

“Das macht dieser Krieg”, sagt sie und nimmt mir Łukasz nun doch aus den Armen. “Niemand ist mehr er selbst.”

Plötzlich erinnere ich mich an mein Gespräch mit Jakub und an mein Gefühl, dass er hergekommen ist, weil etwas Schreckliches geschehen wird. Etwas, das ihn daran hindern könnte, je wieder zu mir zurückzukommen. Mein Magen verkrampft sich. “Ich muss mich mit Alek treffen.” Mich überrascht, wie kalt und energisch meine Stimme klingt.

Krysia sieht mich erstaunt an. “Möglicherweise wird das nicht machbar sein.”

“Ich weiß, es gibt Mittel und Wege”, gebe ich beharrlich zurück. “Notfalls ziehe ich los und mache mich allein auf die Suche nach ihm.”

“Also gut”, lenkt sie daraufhin ein. “Ich werde versuchen, ihm eine Mitteilung zukommen zu lassen, dass er sich nächsten Dienstag mit dir treffen muss.”

Ich will schon auf einem früheren Termin bestehen, doch ich weiß, dass es selbst für Krysia Grenzen des Machbaren gibt. “Danke”, sage ich. “Aber nur Alek. Ich muss ihn persönlich sprechen.”

“Anna, ich weiß, du bist besorgt”, erwidert Krysia. “Aber du kannst die Bewegung nicht aufhalten. Sie wird das tun, was erforderlich ist.”

Ich äußere mich nicht dazu. Krysia ist wie Marta, beide begegnen den Anführern des Widerstands mit sehr viel Ehrfurcht. Noch vor einem Jahr hätte ich es nicht anders gemacht, doch in den letzten Monaten habe ich zu viel gesehen. Ein Angriff auf die Deutschen wäre selbstmörderisch. Ich muss versuchen, sie davon abzuhalten.

An den folgenden Tagen vergeht die Zeit im Schneckentempo. Am Dienstagnachmittag nach Feierabend beeile ich mich, zum Marktplatz zu kommen und das Café zu erreichen, in dem ich mich auch früher mit Alek und den anderen getroffen hatte. Als ich eintrete, sehe ich, dass es so gut wie menschenleer ist. An einem Tisch in einer Ecke des Lokals sitzt ein Pärchen und raucht Zigaretten. Von Alek ist nichts zu sehen, und ich überlege, ob ich nur zu früh bin oder ob er mich versetzen wird. Ich versuche, Ruhe zu bewahren, und nehme an einem der vielen freien Tische Platz. Bei der Kellnerin bestelle ich ein Glas Tee.

Einige Minuten später trifft Alek doch noch ein. Seine Wangen fühlen sich wegen der Kälte eisig an, als er mich begrüßt. “Das letzte Mal ist lange her”, sagt er und setzt sich zu mir.

“Ja. Hast du bekommen, was ich Marek gab?”

Er nickt. “Das war überaus hilfreich. Genau das, wonach wir gesucht haben.” Er redet erst weiter, nachdem mein Tee an den Tisch gebracht wurde. “Du hast noch etwas für mich?”, fragt er erwartungsvoll und sieht mich an.

Ich zögere. Ich wusste, dass meine dringende Nachricht Alek glauben machen würde, dass es weitere Informationen gibt. Es missfällt mir, ihn so in die Irre geführt zu haben. “Nein, leider nicht.”

Alek stutzt. “Und warum lässt du mich dann herkommen? Stimmt etwas nicht? Ist dir jemand auf die Schliche gekommen?”

Ich schüttele den Kopf. “Niemand weiß etwas. Aber trotzdem … Alek, das ist doch völlig verrückt!”

Auf einmal beginnt er zu verstehen und schlägt mit der Faust so fest auf den Tisch, dass die Tassen und Unterteller darauf scheppern. Das Paar am anderen Tisch sieht zu uns. “Ich wusste, ich hätte Jakub nie gestatten dürfen, zu dir zu gehen”, zischt er. Verblüfft stelle ich fest, dass ich ihn noch nie so wütend erlebt habe.

“Er hat mir gar nichts gesagt. Ich bin von ganz allein darauf gekommen.”

“Worauf?”, will er wissen.

“D-dass ihr etwas Gefährliches vorhabt”, stottere ich.

“Etwas Gefährliches? Emma, dieser ganze Krieg ist gefährlich. Dich zum Kommandanten zu schicken war gefährlich. Łukasz zu verstecken ist gefährlich. Unsere Mitglieder in den Wald zu schicken ebenfalls. Und trotz aller Gefahren und Risiken muss unser Volk weiter leiden und sterben.” Wut lodert in seinen Augen. Keine Wut, die gegen mich gerichtet ist, sondern gegen das Böse, das der Widerstand zu bekämpfen versucht. Vor drei Tagen habe ich den gleichen Ausdruck bei Jakub gesehen. Sie alle eint die Entschlossenheit, das in die Tat umzusetzen, was sie geplant haben.

“Aber …”, will ich protestieren.

Alek hebt abwehrend eine Hand. “Das geht dich nichts an.”

“Das geht mich nichts an?” Nun werde ich laut, und prompt sieht die Frau am anderen Tisch neugierig zu uns herüber. “Das geht mich nichts an?”, wiederhole ich leiser. “Alek, ich habe mein Leben für die Bewegung aufs Spiel gesetzt. Ich ließ meine Eltern im Stich, ich habe meinen Mann betrogen und Schande über meine Ehe gebracht. Es geht mich sehr wohl etwas an.” Ich sehe ihm in die Augen. “Es ist mein gutes Recht.”

Sekundenlang sehen wir uns zornig an, ohne ein Wort zu sprechen. “Du bist in den letzten Monaten viel entschlossener geworden”, sagt er schließlich mit einem überraschten Unterton, sein Gesicht nimmt einen sanfteren Zug an. “Also gut, was willst du wissen?”

“Warum gerade jetzt?”

“Unserem Volk droht große Gefahr, Emma.”

“Das Ghetto …”

“Ich rede nicht vom Ghetto, sondern von den Lagern.” Als ich ihn verständnislos ansehe, fragt er: “Du hast schon mal von Auschwitz gehört?”

“Ja, das ist ein Arbeitslager.” Bei meinen Worten muss ich an den Ausdruck in den Augen des Kommandanten denken, nachdem er von seinem Besuch in Auschwitz zurückgekehrt war.

“Das ist das, was die Nazis den Leuten erzählen und was die Leute glauben sollen. Aber es ist ein Todeslager, Emma. Die Nazis haben damit angefangen, Juden zu vergasen und ihre Leichen in Öfen zu verbrennen. Jeden Tag. Tausende Juden. Bald wird es keine Ghettos und keine Arbeitslager mehr geben. Nur noch Auschwitz, Belzec und andere Todeslager. Die Nazis werden erst dann aufhören, wenn sie auch den letzten Juden ermordet haben.”

“Nein …” Entsetzt wende ich mich ab. Das kann nicht wahr sein. Andererseits machen es mir Aleks eindringliche Worte unmöglich, an ihnen zu zweifeln. Bis zu diesem Moment war mir nicht klar, dass die Nazis uns nicht bloß unterjochen, sondern gänzlich auslöschen wollen.

“Wir glauben, dass der entscheidende Zeitpunkt gekommen ist”, fährt er fort. “Die Informationen, die wir von dir erhalten haben, sind der Beleg, dass die Deutschen das Ghetto hier in Kraków auflösen und alle Juden in Todeslager schicken werden. Darum ist es so wichtig, jetzt zu handeln.”

“Ja”, erwidere ich leise. Alek hat recht. Trotz meiner Liebe zu Jakub und trotz aller Sorge ist da nichts mehr, was ich jetzt noch sagen könnte.

“Gut. Emma, da wäre noch etwas.” Ich werfe ihm einen fragenden Blick zu. “Es betrifft Richwalder. Ich weiß, du willst etwas über seine Vergangenheit wissen, und über seine Frau.” Ich nicke. Das muss er von Krysia erfahren haben. “Ich war lange Zeit der Meinung, je weniger du weißt, umso leichter fällt es dir, für ihn zu arbeiten. Aber nun …” Sekundenlang schweigt er. “Na ja, ich weiß nicht, ob und wie oft wir uns noch hier treffen können. Deshalb ist es wichtig, dass du alles erfährst. Richwalders Frau hieß Margot.”

“Ich weiß”, gebe ich zurück.

“Aber du weißt nicht, dass ihr Mädchenname Rosenthal war. Sie war eine Halbjüdin, Emma.” Ich sehe ihn sprachlos an, während er fortfährt: “Als der Krieg ausbrach, war Richwalder der Meinung, er könne die Herkunft seiner Frau geheim halten. Aber kurz nachdem er auf einen hohen Verwaltungsposten berufen wurde, nahm man Margots Vater fest und deportierte ihn in ein Lager. Margot flehte ihren Ehemann an, sich für ihren Vater einzusetzen, doch Richwalder wusste, dass damit nur die Abstammung seiner Frau publik werden würde. Also lehnte er ihre Bitte ab. Rosenthal wurde hingerichtet, und am nächsten Tag fand Richwalder seine Frau zu Hause tot im Bett. Sie hat sich erschossen – mit seinem Revolver.”

“O nein”, flüstere ich.

“Sie war im sechsten Monat schwanger, als sie sich das Leben nahm”, fügt er noch hinzu, doch ich kann ihn kaum hören, so laut pulsiert das Blut in meinen Ohren. “Du verstehst jetzt, warum wir es für besser hielten, dir die Wahrheit zu verschweigen. Aber es ist egal, was du jetzt denkst und was geschehen wird, Emma. Du musst Richwalder weiterhin etwas vorspielen, denn davon hängen sehr viele Menschenleben ab.”

Ich sitze wie erstarrt da und bekomme kein Wort heraus.

“Es tut mir leid, doch ich muss jetzt gehen”, sagt er, steht auf und legt ein paar Münzen auf den Tisch.

“Wie … ich meine, wann werde ich einen von euch wiedersehen?”, frage ich.

Er legt eine Hand auf meine Schulter. “Hab Vertrauen, Emma. Auch diese Zeit wird vorübergehen. Ich freue mich schon auf den Tag, an dem ich mit dir und unseren Freunden in einem Straßencafé sitzen und auf das zurückblicken kann, was wir geleistet haben.”

Seine Worte klingen zuversichtlich, doch der besorgte Ausdruck in seinen Augen verrät mir, dass er nicht davon ausgeht, einen solchen Tag jemals zu erleben. Zugleich sehe ich ihm aber auch an, dass er keine Angst vor dem hat, was kommen wird. Voll Ehrfurcht angesichts eines solchen Mutes sehe ich zu ihm auf. “Möge Gott dich beschützen, Alek”, flüstere ich und drücke seine Hand. “Und vielen Dank.”

Ohne ein weiteres Wort wendet er sich ab und verlässt das Café.