15. KAPITEL

“Ich hörte den Kommandanten aufbrechen”, sagt Krysia, die wenige Minuten später zu mir auf den Balkon tritt. “Was ist geschehen?”

“Ich habe ihn weggeschickt.”

“Aber wieso denn?”

“Ich wollte sein Geschenk nicht annehmen, und er ist gegangen.” Mit wenigen Worten berichte ich ihr von der Nachricht der Baronin und von der Erklärung des Kommandanten, als ich ihn damit konfrontierte. “Ich weiß, es sollte mir egal sein, wenn er sich mit anderen Frauen trifft.” Dann füge ich leise hinzu: “Ich will sagen, zwischen ihm und mir existiert in Wirklichkeit gar nichts.”

“Trotzdem ist es dir nicht egal, richtig?”

Ich wende mich ab und schaue in die Dunkelheit. “Nein, es ist mir nicht egal.”

“Du hast das Gefühl, nicht mit Respekt behandelt zu werden”, sagt sie.

“Ja, genau!”, antworte ich prompt. Es ist leichter, ihrer Erklärung zuzustimmen, als der einzig anderen, die noch möglich wäre: dass ich verletzt bin, weil ich für den Kommandanten tatsächlich etwas empfinde. “Aber nun habe ich ihn so sehr verärgert, dass er mich niemals wird wiedersehen wollen. Und das heißt, ich komme nicht mehr in seine Wohnung, um für Alek nach den Unterlagen zu suchen.”

Krysia schüttelt den Kopf und kommt ein Stück näher. “Das bezweifle ich.” Sie zieht ihr Tuch fester um die Schultern. “Meine Liebe, ich glaube, Richwalders Gefühle für dich sind echt. Ich erkenne es an der Art, wie er dich ansieht. Ich glaube, so schnell wird er dich nicht aufgeben.”

Unbehaglich trete ich von einem Fuß auf den anderen. “Ich nehme an, es ist für die Mission von Nutzen, wenn er echte Gefühle für mich hat.”

“Vermutlich ja”, erwidert sie ruhig. “Also, ich bin todmüde und werde mich jetzt schlafen legen. Ich hoffe, du hattest einen schönen Abend.”

Ich denke an den Abend zurück. Krysia hat sich wirklich jede erdenkliche Mühe gegeben, mir trotz der widrigen Umstände eine wunderschöne Geburtstagsfeier zu bereiten. “Es war reizend”, bestätige ich und umarme sie. “Danke für alles.”

Nachdem Krysia gegangen ist, sehe ich nach oben zum sternenübersäten Himmel. Während unserer Flitterwochen hatte Jakub mir gezeigt, wie man einige der einfacheren Sternbilder finden kann. Ich denke an den Orion und suche die Dunkelheit nach ihm ab. Jakub sagte immer, dass er, wenn er sich verloren fühlt, nach den drei Sternen sucht, die den Oriongürtel bilden. Doch ich kann keinen der drei entdecken. Vielleicht ist es die falsche Jahreszeit. Ich gebe es auf und erinnere mich daran, wie ich mir als Kind wünschte, auf den Abendstern zu gelangen. Mit einem letzten Blick gen Himmel bete ich, dass es Jakub gut geht und er jetzt auch an mich denkt.

In dieser Nacht schlafe ich traumlos, am Morgen wache ich bereits sehr früh auf. Die Erinnerung an den Abend zuvor kehrt zurück und stürzt auf mich ein. Was habe ich bloß getan? Ich drehe mich auf die Seite und ziehe die Decke über den Kopf. Zum Glück ist heute Samstag, und ich muss nicht ins Büro. Ich beschließe, noch etwas länger zu schlafen. Aber kaum habe ich die Augen wieder geschlossen, höre ich, wie die Tür aufgeht und im Flur geflüstert wird. “Sag ‘Alles Gute zum Geburtstag’.”

“Butztag!”, kräht Łukasz, kommt hereingestürmt und versucht ohne Erfolg, in mein Bett zu klettern. Ich setze mich auf und ziehe ihn zu mir auf den Schoß.

“Vielen Dank, mein Kleiner.” Ich gebe ihm einen Kuss auf die Wange und sehe zu Krysia.

“Tut mir leid, wenn wir dich so überfallen, aber er hat auf diesen Moment schon seit einer Stunde gewartet”, lässt sie mich wissen.

“Ich wollte sowieso gleich aufstehen. Wir müssen waschen und …”

Krysia hebt ihre Hand, um mich zu unterbrechen. “Heute ist dein Geburtstag, und da wirst du nicht arbeiten.”

Ich weiß, wenn sie diesen speziellen Tonfall gebraucht, muss ich gar nicht erst versuchen, mit ihr zu diskutieren. Nachdem wir uns gewaschen und angezogen haben, packen wir einen Picknickkorb und spazieren zu dritt in den Park. Der Boden ist übersät mit Laub, und nachdem wir gegessen haben, zeige ich Łukasz, wie man Laub aufhäuft und dann hineinspringt. Als wir uns auf den Heimweg machen, ist es später Nachmittag und fast schon wieder dunkel. Während ich Łukasz bettfertig mache, verschlechtert sich meine Laune immer mehr. Um sieben Uhr beginnt die Gala. Ich stelle mir die Baronin vor, wie sie sich für den Abend vorbereitet, wie sie vom Kommandanten abgeholt wird. Dabei sollte ich diejenige sein, die sich auf dieser Gala bei ihm unterhakt. Ich kann einfach nichts dagegen tun, ich verspüre Eifersucht.

“Kann ich dich zu einer Runde Karten überreden?”, fragt Krysia, nachdem ich den Jungen zu Bett gebracht habe und nach unten komme. Auf dem Tisch stehen zwei Teller mit aufgewärmtem Essen vom Vorabend.

Mit einem Kopfschütteln erwidere ich: “Nein, tut mir leid. Und ich habe auch keinen Hunger. Ich werde nach oben gehen und lesen.” Mir entgeht nicht Krysias besorgter Gesichtsausdruck.

“Meine Liebe, ich weiß, du bist außer dir. Es ist eine verwirrende Zeit, und manchmal ist es schwierig zu verstehen, was …”

“Ich möchte nicht darüber reden”, unterbreche ich sie. “Versteh das bitte.”

Sie lächelt mich sanft an. “Gute Nacht, und schlaf gut.”

Ich ziehe mich nach oben in mein Zimmer zurück. Es ist noch zu früh, sich schlafen zu legen, also setze ich mich auf mein Bett, um ein Buch zu lesen. Es ist Stolz und Vorurteil, eines der ersten Bücher, die mir Jakub geschenkt hat. Natürlich ist es nicht diese Ausgabe, denn die befindet sich noch in der Wohnung der Baus. Ich halte das Buch ganz dicht unter die Nase und atme den leicht muffigen Geruch des alten Papiers ein, der mich an die Zeit in der Bibliothek und an Jakub erinnert. Es liegt alles nur daran, dass ich meinen Ehemann so sehr vermisse, sage ich mir. Weil ich schon so lange von ihm getrennt bin, reagiere ich so widersinnig gereizt auf das Verhalten des Kommandanten. Ich schlage das Buch auf und beginne zu lesen, aber nach nur wenigen Minuten fallen mir die Augen zu und ich döse ein.

Plötzlich lässt mich ein lautes Geräusch hochschrecken. Ich sitze sofort aufrecht im Bett und lege das Buch zur Seite. Wie lange habe ich geschlafen? Da ist das Geräusch wieder. Ein lauter, harter Knall, so als würde etwas die Glastür vom Balkon treffen. “Was soll denn das?”, murmele ich und stehe auf. Ich öffne die Tür und gehe auf den Balkon, dann sehe ich nach unten in den stockfinsteren Garten.

“Anna!”, höre ich jemanden im Flüsterton rufen. “Anna!” Es ist der Kommandant, wie ich ungläubig erkennen muss. “Ich bin es, Georg. Kommen Sie bitte nach unten.”

“Einen Moment”, antworte ich nach kurzem Zögern, gehe zurück in mein Zimmer und ziehe mir rasch etwas über. Dann begebe ich mich auf der im Dunkeln liegenden Treppe nach unten und öffne die Haustür. “Was machen Sie denn hier?”

“Ich habe der Baronin gesagt, dass mir nicht gut ist, und sie nach Hause gebracht.”

“Oh …” Immer noch bin ich verwirrt. “Wie spät ist es?”

“Halb elf.”

“Mir kommt es viel später vor”, sage ich und reibe meine Augen. “Ich bin wohl eingeschlafen.”

“Anna.” Er ergreift meine Hand. “Es tut mir leid, wenn ich Sie verletzt habe. Ich wollte den Abend niemals mit einer anderen Frau verbringen.” Ich bin zu perplex, um zu reagieren. “Anna, kommen Sie mit und bleiben Sie heute Nacht bei mir. Bitte.”

Schweigend stehe ich da, während mir tausend Gedanken durch den Kopf gehen. Sich um diese Zeit noch umzuziehen und ihn nach Hause zu begleiten, erscheint mir nicht sehr damenhaft. Doch gleichzeitig möchte ein Teil von mir mit ihm gehen. Außerdem bekomme ich so wieder die Gelegenheit, nach wichtigen Dokumenten zu suchen. “Also gut”, willige ich schließlich ein. “Ich hole nur noch meinen Mantel.” Ich laufe nach oben, lege für Krysia eine hingekritzelte Nachricht auf den Küchentisch, nehme meinen Mantel und kehre zum Kommandanten zurück. Als ich in den Wagen steige, glaube ich zu sehen, dass sich auf Stanislaws sonst so ausdruckslosem Gesicht ein Lächeln abzeichnet.

Am Ziel angekommen, schaffen wir es kaum bis in die Wohnung des Kommandanten. Dort reißen wir uns gegenseitig die Kleider vom Leib. Die Leidenschaft erinnert an unsere erste gemeinsame Nacht, nur dass wir diesmal nicht das Schlafzimmer erreichen, sondern schon auf dem Sofa miteinander schlafen. Später, als der Atem des Kommandanten wieder ruhiger geht, hebt er mich hoch und trägt mich zum Bett. Diesmal bin ich diejenige, die ihn auf die Matratze drückt, indem ich rittlings auf ihm sitze. Es ist das erste Mal, dass ich mit einem Mann auf diese Weise Verkehr habe, und im ersten Moment kommt es mir fremdartig und schutzlos vor. Doch ich stelle mich schnell auf den Rhythmus ein, und schon bald verspüre ich das Gefühl, Macht über ihn auszuüben, da er mir ausgeliefert ist. Es gelingt mir, ein wenig vom Schmerz der letzten Tage freizusetzen und zum Teil den Stolz zurückzugewinnen, den ich verloren hatte.

“Wirst du bleiben?”, fragt er mich später schlaftrunken und versucht, sich von hinten an mich zu schmiegen, doch ich drehe mich auf den Rücken. Die Position erinnert mich viel zu sehr an die Art, wie mich Jakub hielt. “Bis zum Morgen, meine ich.”

Ich zögere. Bislang habe ich den Kommandanten immer vor Sonnenaufgang verlassen, aber wenn ich bleibe, könnte sich eher eine Gelegenheit ergeben, seine Unterlagen zu durchsuchen. “Ja”, antworte ich leise.

“Mmm”, macht er und schläft ein.

Auch mir fallen allmählich die Augen zu. Zuerst versuche ich noch, dagegen anzukämpfen, weil ich fürchte, dass ich verschlafen und damit die Chance verpassen könnte, mich in seinem Arbeitszimmer umzusehen. Ich muss sehr bald etwas finden, das ist mir klar. Seit über zwei Monaten begleite ich den Kommandanten regelmäßig in seine Wohnung, und die Pläne der Nazis, was mit den Juden geschehen soll, schreiten unaufhaltsam voran. Noch immer kann ich keine Informationen über diese Pläne liefern, da weder Papiere offen herumliegen, noch irgendwo ein Tresor zu entdecken ist. Ich stelle mir das Arbeitszimmer vor und überlege, was ich übersehen haben könnte. Vielleicht, so geht es mir plötzlich durch den Kopf, gibt es in einer Schublade ein Geheimfach. Schließlich muss ich mich jedoch meiner Müdigkeit geschlagen geben und sinke in einen unruhigen Schlaf. Ich träume, dass ich mit Łukasz in einem Park unterwegs bin. Wir spielen Verstecken, und Łukasz läuft hinter einen Busch. Plötzlich steht ein schmächtiger Mann mit schwarzem Hut und Mantel neben mir. Es ist der Rabbi. “Wo ist mein Sohn?”, will er wissen. “Er ist weg”, lüge ich ihn an. “Weg, weg, weg …”, hallen meine Worte zwischen den Bäumen wider.

Ich schlage abrupt die Augen auf. Neben mir liegt der Kommandant, er hat sich auf die Seite gedreht und schnarcht. Obwohl es wegen der zugezogenen schweren Vorhänge im Zimmer dunkel ist, kann ich die Uhr auf seinem Nachttisch erkennen. Viertel nach fünf. Der Kommandant ist Frühaufsteher, also bleibt mir nicht mehr viel Zeit. Ich stehe auf und schleiche durch das Wohnzimmer. Die Tür zum Arbeitszimmer knarrt laut, als ich sie öffne. Wie erstarrt bleibe ich stehen und lausche, ob Geräusche aus dem Schlafzimmer zu hören sind. Es ist aber alles unverändert ruhig in der Wohnung, also betrete ich das Arbeitszimmer und schließe die Tür hinter mir. Ich ziehe die Vorhänge einen Spalt auf, damit ein schmaler Streifen schwaches Morgenlicht in den Raum fallen kann.

Ich sehe mich auf dem Schreibtisch um, kann jedoch nichts Bedeutsames entdecken. Vorsichtig ziehe ich die oberste Schublade auf und taste die Bodenplatte unter den Papieren ab, doch da ist kein Hinweis auf ein Geheimfach. Ich schließe die Schublade, knie mich hin und ziehe die nächste auf. Diesmal kann ich einen Spalt im Holz fühlen, ich hebe die Papiere hoch und sehe, dass die Schublade einen doppelten Boden hat. Mit den Fingernägeln versuche ich, die Verkleidung anzuheben …

“Anna?”, höre ich in diesem Moment den Kommandanten rufen. Ich mache unwillkürlich einen Satz und versuche, die Schublade zu schließen, doch sie klemmt. Aufgeregt versuche ich es noch einmal, nun mit mehr Druck. Endlich gibt sie nach, knallt aber lautstark zu. Ich verziehe entsetzt das Gesicht über so viel Lärm und gehe zur Tür. Ich versuche, mich an den Klang seiner Stimme zu erinnern, um in etwa einzuschätzen, wo er sich befindet. Hoffentlich liegt er noch im Bett! Ich öffne die Tür einen Spalt und spähe durch die Ritze, kann aber im dunklen Wohnzimmer nichts erkennen. Gerade will ich die Tür aufziehen, da sehe ich, dass der Kommandant sich genau davor befindet.

Er darf mich nicht in seinem Arbeitszimmer erwischen! Mir fällt eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite auf. Eilig laufe ich hin und öffne sie. Wie erhofft führt sie in die Küche. Dort nehme ich ein Glas aus dem Schrank.

“Anna”, ruft er wieder, diesmal klingt er näher. Mein Puls rast wie wild. Ich komme ihm aus der Küche entgegen und halte das Glas in der Hand. “Ja, Georg?”, bringe ich heraus, während ich mich bemühe, ruhig zu wirken.

“Oh, da bist du ja.” Seine Stimme ist rau, sein Gesicht verrät, wie verschlafen er noch ist. “Ich dachte schon, du wärst doch nach Hause gegangen …”

Er wollte mir nicht nachspionieren, sondern sich nur davon überzeugen, dass ich noch da bin. Ein Teil von mir ist gerührt. “Nein, natürlich nicht”, erwidere ich sanft. “Ich sagte doch, ich bleibe bis zum Morgen. Ich wollte mir nur ein Glas Wasser holen. Leg dich ruhig wieder hin, dann bringe ich dir auch eins.” Als er zustimmend nickt, hat er durch seine Schläfrigkeit fast etwas Kindliches an sich.

Während er sich auf den Weg zurück ins Bett macht, sehe ich noch einmal zum Arbeitszimmer. Ich muss dorthin zurück, was natürlich im Moment gar nicht zur Debatte steht. Das wäre jetzt viel zu gefährlich. Außerdem kann es sein, dass in dem Geheimfach gar nichts versteckt ist. Oder es handelt sich um Papiere, die nicht das Schicksal der Juden betreffen. Dennoch … mein Herz beginnt zu rasen, als ich daran denke, wie ich das Fach ertastet habe. Mein Gefühl sagt mir, dass ich dort womöglich genau das finde, wonach Alek und die anderen suchen. Ich zwinge mich zur Ruhe und atme normal, als ich mit den Wassergläsern ins Schlafzimmer gehe.

Der Kommandant liegt auf dem Bauch, einen Arm hat er über mein Kissen gelegt. “Mmm”, murmelt er, als ich mich zu ihm lege. Er dreht sich um und schließt mich in seine Arme. Von seiner Wärme umgeben, mustere ich sein Gesicht, das entspannt und friedlich wirkt, fast etwas Jungenhaftes ausstrahlt. Es ist nichts von der konzentrierten, angespannten Miene zu sehen, die er tagsüber wie eine Maske trägt.

Abermals schlafe ich ein, und ich finde mich in dem Traum wieder, in dem ich mich mit dem Rabbi im Park aufhalte. Diesmal hält er einen Säugling in seinen Armen. Einen Moment lang überlege ich, ob es sich dabei um den jüngeren Łukasz handelt. “Wo ist mein Sohn?”, will der Rabbi wieder wissen. Ich antworte ihm nicht. Der Säugling in seinen Armen ist nicht Łukasz, es ist das ungeborene Kind, das sterben musste, als seine Mutter erschossen wurde. “Wo ist er?”

In diesem Augenblick höre ich ein Rascheln aus einem Busch in der Nähe. Łukasz kommt kichernd hervorgestürmt. “Tata!”, ruft er und rennt auf den Rabbi zu. Der nimmt den Jungen mit seinem freien Arm hoch und drückt beide Kinder erfreut an sich. Doch als er sich zu mir dreht, liegt ein anklagender Ausdruck auf seinem Gesicht. Ohne ein weiteres Wort geht er mit den Kindern davon. Tief in meinem Inneren formt sich ein lauter Aufschrei. “Nein, nein!”, rufe ich ihm nach, als der Rabbi mit den Kindern im Nebel verschwindet.

“Nein, nein!”, wiederhole ich und öffne die Augen. Ich liege nach wie vor im Bett des Kommandanten. Er ist wach und liegt auf der Seite, dabei sieht er mich besorgt an.

“Ist alles in Ordnung?”, fragt er.

“Ja, nur ein Traum”, erwidere ich und hoffe, ich habe nicht etwa im Traum gesprochen.

Er streicht eine Locke zur Seite, die mir in die Stirn gefallen ist. “Wovon hast du geträumt?”

“Von Łukasz”, antworte ich wahrheitsgemäß. “Manchmal bin ich in großer Sorge. Er hat in seinem jungen Leben schon so viel durchmachen müssen. Der Verlust seiner Eltern, der Umzug hierher …”

“Er bedeutet dir sehr viel.”

Ich nicke. “Manchmal ist er für mich mehr wie ein eigenes Kind denn wie ein kleiner Bruder. Das macht wohl der Altersunterschied.”

Der Kommandant dreht sich auf den Rücken und verschränkt die Arme hinter dem Kopf. Unwillkürlich betrachte ich seinen nackten Oberkörper. Obwohl er meiner Schätzung nach auf die fünfzig zugehen muss, wirkt er so kraftvoll und durchtrainiert, als wäre er erst halb so alt. Seine Brust ist muskulös, der Bauch ist straff. “Ich habe es immer bedauert, keine Kinder zu haben”, sagt er.

“Vielleicht wirst du eines Tages Kinder haben”, gebe ich zu bedenken. “Es ist noch nicht zu spät dafür.”

“Vielleicht”, stimmt er mir zu. “Möchtest du Kinder haben, Anna?”

“Aber natürlich”, erkläre ich prompt und füge in Gedanken hinzu: Aber mit meinem Ehemann.

Wieder legt er einen Arm um mich und zieht mich zu sich heran, bis ich meinen Kopf an seine Schulter legen kann. “Danke, dass du in dieser Nacht hiergeblieben bist. Es ist schön, neben dir aufzuwachen.”

“Na ja, bei dieser Konkurrenz. Sicherlich wäre die Baronin auch geblieben.” Eigentlich sollte das ein Scherz sein, dennoch klingen meine Worte nach Eifersucht und Unsicherheit.

Der Kommandant dreht sich zu mir, sein Gesicht ist nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. “Das tut mir wirklich leid”, beteuert er. “Ich hatte dir nie wehtun wollen. Es gibt keine andere Frau in meinem Leben.” Er sieht mich mit einem ehrlichen Ausdruck in seinen Augen an. “Als Margot starb, dachte ich, ich könnte nie wieder für eine Frau etwas empfinden. Bis ich dir begegnete. Zum ersten Mal seit zwei Jahren freue ich mich, wenn ich morgens aufwache, und das liegt nur an dir. Du bist der einzige Mensch, dem ich vertrauen kann. Ich liebe dich, Anna.”

“Und ich dich”, bringe ich nach einer vor Verblüffung endlos lang erscheinenden Pause heraus. Ich muss schwer schlucken, als mir diese Worte über die Lippen kommen.

“Oh, Anna”, sagt er, zieht mich an sich und küsst mich. Minuten später lösen wir uns wieder voneinander. “Ich kann uns Tee machen”, bietet er an und setzt sich im Bett auf. “Ich habe Brot und Käse für ein Frühstück, aber ich kann uns auch etwas kommen lassen.”

Ich schüttele den Kopf. “Nein, es tut mir leid, doch ich muss jetzt gehen. Es ist schon spät, und ich muss einiges für Krysia erledigen. Außerdem wird Łukasz mich vermissen.”

“Ja, das verstehe ich. Stanislaw wird dich nach Hause bringen.”

Ich ziehe mich an und gebe ihm zum Abschied einen Kuss. Vor dem Haus steige ich dankbar in den Wagen. Ich hatte überlegt, dieses Angebot abzulehnen und den Bus zu nehmen, aber mir ist mein zerzaustes Haar genauso peinlich wie die Tatsache, dass ich noch die gleiche Kleidung wie gestern trage.

Wenig später betrete ich Krysias Haus. Sie sitzt in der Küche und versucht Łukasz zu füttern, der viel lieber spielen will. “Guten Morgen”, sagt sie ohne vorwurfsvollen Unterton.

“Tut mir leid, dass ich dir nicht noch Bescheid geben konnte”, erkläre ich. “Es kam … überraschend.”

“Schon gut, du hast mir schließlich eine Nachricht hinterlassen. Ich nehme an, du hast dich mit Richwalder ausgesöhnt.”

“Ja.”

“Gut.” Ich sagte doch gleich, er wird dir nicht lange böse sein, scheint sie im Geist hinzuzufügen. “Möchtest du frühstücken?”

“Nein, danke. Ich sollte mich besser umziehen.”

Wachsam betrachtet sie mein Gesicht. “Ist alles gut verlaufen?”

“Kann man so sagen.” Krysia wirft mir einen fragenden Blick zu, während ich überlege, wie viel ich ihr anvertrauen soll. “Nachdem er eingeschlafen war, konnte ich mich ein wenig umsehen. Ich stieß auf eine Schublade mit doppeltem Boden. Es muss nicht unbedingt etwas bedeuten”, füge ich noch an, damit sie sich keine falschen Hoffnungen macht. “Der Kommandant ist aufgewacht, bevor ich einen Blick in das Geheimfach werfen konnte.”

Ein besorgter Ausdruck huscht über ihr Gesicht. “Du kannst von Glück reden, dass er dich nicht ertappt hat. Wirst du es wieder versuchen?”

Ich setze mich auf einen Stuhl. “Ja, und zwar so bald wie möglich.”

“Gut.” Sie hört kurz damit auf, Łukasz zu füttern, und gießt Saft in ein zusätzliches Glas, das auf dem Tisch steht. “Ich weiß, Alek wird über alles froh sein, was du ihm liefern kannst”, fährt sie fort und reicht mir das Glas.

“Hast du mit ihm gesprochen?”

“Nur über Mittelsmänner.” Sie dreht sich zu mir um. “Emma, hör mir gut zu. Ich will dich nicht beunruhigen, aber zu deinem eigenen Schutz musst du wissen, dass es derzeit Unruhe innerhalb des Widerstands gibt.”

Ich halte mitten in meiner Bewegung inne. “Was ist los? Geht es Jakub gut?”

“Ihm geht es gut, und ebenso Alek und den anderen, die du kennst”, versichert sie mir. Erleichtert setze ich das Glas Saft ab. “Aber an einem Bahnhof im Süden von Kraków wurde letztens eine Gruppe Widerstandskämpfer von den Deutschen aufgegriffen. Alek und die anderen glauben nun, dass es eine Sicherheitslücke gibt.”

“Du meinst einen Informanten?”

“Ja. Anders hätten die Deutschen nicht wissen können, wo sich die Gruppe aufhalten und um welche Zeit sie zusammenkommen würde. Derjenige, der diese streng vertrauliche Information weitergegeben hat, dürfte auch alles andere wissen, was sich in der Bewegung abspielt.”

“Alles?”, wiederhole ich entsetzt. Meine wahre Identität, meine Mission. Wir alle sind in Gefahr – nicht nur ich, sondern auch Krysia, Łukasz, Jakub, meine Eltern.

“Ich sage dir das, damit du besonders vorsichtig bist, noch vorsichtiger als bisher. Du musst ständig auf der Hut sein.” Sie hebt Łukasz aus seinem Stuhl und setzt ihn auf dem Boden ab. Er kommt zu mir gelaufen, ich nehme ihn hoch und lasse ihn sich auf meinen Schoß setzen. Während er zu plappern beginnt, streiche ich durch seine zerzausten blonden Locken und denke über das nach, was Krysia mir gerade erzählt hat. Eine Sicherheitslücke. Ich gehe im Geist die Gesichter der Mitglieder der Bewegung durch, die ich kenne. Es erscheint mir völlig unvorstellbar, einer von ihnen könnte ein Verräter sein. Krysia steht auf und räumt die Teller zusammen. “Vielleicht solltest du für den Augenblick nicht weiter nach Informationen suchen, solange die Lage so gefährlich ist.”

“Ja, vielleicht”, gebe ich zurück, da ich sie nicht beunruhigen will. In Wahrheit stellt sich die Situation so dar, dass ich gar nicht warten kann. Wenn es wirklich einen Informanten gibt, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis der Kommandant meine wahre Identität erfährt. Und dann wird diese ganze Maskerade wie ein Ballon zerplatzen. Meine Mission treibt mich stärker als je zuvor zur Eile an. Ich muss die Informationen für den Widerstand finden, bevor alles zu spät ist.