4. KAPITEL

Am Montag nach meiner Unterredung mit Alek holte Marta mich nach Schichtende im Waisenhaus ab. Es überraschte mich nicht, sie zu sehen, da sie fast jeden Tag herkam, seit wir uns angefreundet hatten. “Ich muss noch den Topf in die Küche zurückbringen”, sagte ich zu ihr. Jeden Morgen lieferte die Zentralküche des Ghettos für die Kinder im Waisenhaus einen großen Kessel Suppe. Es handelte sich stets um eine gräuliche, wässrige Brühe, in der nur vereinzelt ein paar kleine Stücke Kartoffel oder Kohl schwammen. Die winzige Portion, die jedes Kind als eine von zwei Mahlzeiten am Tag erhielt, reichte natürlich nicht, um irgendjemanden satt zu kriegen. Hadassa Nederman und ich verzichteten wie die anderen Helferinnen so oft wie möglich auf unsere Rationen, damit die Kinder ein bisschen mehr in den Magen bekamen.

“Ich komme mit”, bot Marta an.

“Ja, gern.” Ich nahm meinen Mantel vom Türhaken. Wir verabschiedeten uns von Martas Mutter und begaben uns nach draußen auf die schneebedeckte Straße. Die Winterluft war frostig, aber immerhin hatte der eisige Wind vom Morgen etwas nachgelassen.

“Über was hast du dich am Freitag eigentlich mit Alek unterhalten?”, wollte Marta wissen, als wir in die ulica Lwowska einbogen und an der Ghettomauer entlangspazierten. Ich merkte ihr an, wie eifersüchtig sie war, weil Alek mich allein hatte sprechen wollen.

“Nur über einen gemeinsamen Bekannten”, erwiderte ich ruhig, ohne sie anzusehen.

“Oh.” Diese Antwort schien sie zu beruhigen, da sie minutenlang nichts weiter sagte. “Hattest du vor dem Krieg einen Freund?”, fragte sie wie aus heiterem Himmel, als wir uns dem Ziegelsteingebäude näherten, das früher einmal eine Lagerhalle gewesen war und uns nun als Synagoge diente.

Ich zögerte, da ich nicht wusste, wie ich antworten sollte. Es gefiel mir nicht, Marta über meine Ehe im Unklaren zu lassen. Noch nie hatte ich eine Freundin gehabt, der ich mich anvertrauen konnte. So gern hätte ich ihr von Jakub erzählt, meine Erinnerungen mit ihr geteilt und sie dadurch wieder lebendig werden lassen. Vielleicht war Marta ihm in der Widerstandsbewegung sogar schon begegnet? Aber ich hatte Jakub versprochen, niemandem von unserer Ehe zu erzählen. Er und auch Alek waren der Meinung, es sei zu gefährlich, jemanden davon wissen zu lassen. “Es gab niemand Besonderes”, entgegnete ich schließlich. Meinem Herzen versetzte es einen Stich, ihn und unsere Liebe verleugnen zu müssen.

“Dann gab es also mehrere!”, meinte sie kichernd. Ich schüttelte den Kopf und musste ein Lachen unterdrücken, weil sie glaubte, ich hätte mehrere Liebhaber gehabt. Dabei hatte es vor Jakub nicht einen gegeben.

“Ich glaube, Alek hat was für dich übrig”, flüsterte sie mir zu, nachdem ich den leeren Kessel an der Hintertür zur Küche abgegeben hatte.

“Marta! Er ist verheiratet!” Und das bin ich auch, ergänzte ich in Gedanken. Hätte sie doch nur die Wahrheit wissen dürfen! Ich konnte Alek gut leiden, vor allem, weil er meine einzige Verbindung zu Jakub war. Wir machten uns auf den Rückweg. “Und wie ist es bei dir?”, fragte ich, um das Thema zu wechseln. “Bist du schon jemandem begegnet?” Sie blickte zur Seite und antwortete zunächst nicht. Ich sah, wie sie am Halsansatz zu erröten begann.

“Ja, es gibt da jemanden”, gestand sie leise.

“Aha!”, rief ich aus. “Wusste ich’s doch. Erzähl mir von ihm.”

“Er ist einer von uns.” Damit meinte sie offenbar den Widerstand. “Aber er nimmt von mir keine Notiz.”

“Vielleicht wird er es eines Tages tun. Gib ihm etwas Zeit.” Es begann zu regnen. Große, schwere Tropfen kündigten ein heftiges Unwetter an. Wir liefen zurück zum Waisenhaus, um uns unterzustellen, und kamen nicht wieder auf das Thema zu sprechen.

Einige Wochen später war ich in unserer Wohnung damit beschäftigt, die Bettlaken zu waschen, als ich plötzlich an das Gespräch mit Marta denken musste. Es war ein Donnerstagnachmittag, und ich genoss einen der seltenen Momente, ganz allein für mich zu sein. Meine Schicht im Waisenhaus hatte ich mit einer jungen Kollegin getauscht, stattdessen würde ich am kommenden Sonntag arbeiten. Mir kam Martas Frage in den Sinn, ob ich einen Freund hätte, ob ich mit jemandem zusammengewesen war. Vielleicht wusste sie ja von Jakub und versuchte nur, mir ein Geständnis zu entlocken.

Plötzlich wurde die Stille jäh von einem lauten Geschrei auf der Straße durchbrochen. Ich zuckte so heftig zusammen, dass das dreckige Waschwasser überall hinspritzte. Ich wischte es von meinem Kleid und trat ans Fenster. Im selben Moment hörte ich eine helle, verzweifelte Frauenstimme und gleich darauf eine tiefe, wütende Männerstimme. Schnell trat ich vom Fenster weg und lehnte mich gegen die Wand, sodass ich hinausspähen konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Von dieser Position aus war es mir gerade eben möglich, zwei Personen auf der Straße auszumachen. Mit Schrecken stellte ich fest, dass der Mann, der vor dem Wohnhaus gegenüber stand, eine deutsche Uniform trug. Aus Angst vor Krankheiten mieden die Deutschen für gewöhnlich das Ghetto und überließen es lieber dem Judenrat, die internen Angelegenheiten zu regeln. Der Mann stritt mit einer zierlichen jungen Frau, deren auffallend dicker Bauch keinen Zweifel an ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft ließ. “Proszç!”, hörte ich sie flehen. Bitte!

Der Streit wurde lauter. Obwohl ich kaum ein Wort deutlich verstehen konnte, vermutete ich, dass die Frau den Soldaten davon abhalten wollte, das Haus zu betreten. Offenbar hatte sie etwas Wichtiges vor ihm zu verbergen.

Schließlich versetzte er ihr einen heftigen Stoß, worauf sie gegen den Türrahmen stieß, zu Boden sank und reglos liegen blieb. Der Deutsche stieg über sie hinweg und betrat das Haus. Polternder Lärm war von drinnen zu vernehmen, es hörte sich an, als würden Möbelstücke umgeworfen. Augenblicke später kehrte der deutsche Soldat auf die Straße zurück und zerrte, einen schmächtigen Mann am Kragen hinter sich her.

Die am Boden liegende Frau erwachte aus ihrer Reglosigkeit und schlang die Arme um die Beine des Deutschen. “Nein, nehmen Sie ihn nicht mit!”, bettelte sie ihn an. Ungeduldig versuchte er, sich aus ihrem Griff zu befreien, doch sie wollte ihn nicht loslassen. Während die Frau immer verzweifelter schrie, zuckten die Blicke des schmächtigen Mannes hin und her – wie bei einem panischen Tier, das nach einem Fluchtweg sucht. Er sah nach oben, und ich wich sofort zurück, da ich fürchtete, er könnte mich entdecken.

Die Stimmen wurden lauter, dann fiel ein Schuss. Ich erstarrte. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich dieses Geräusch hörte.

Jetzt begann der schmächtige Mann zu schreien, und es klang fast so schrill wie zuvor bei der Frau. Ich konnte einfach nicht anders und musste wieder hinaussehen, um zu wissen, was geschehen war. Die Frau lag reglos auf dem Boden, die Augen aufgerissen, um ihren Kopf herum war der Gehweg von Blut rot gefärbt. Einen Arm hatte sie schützend über ihren runden Bauch gelegt. Der Deutsche zerrte den schreienden Mann hinter sich her durch die Straße.

Ich beugte mich vor und übergab mich, direkt hier vor dem Fenster, da mein Magen den Hass und die Verzweiflung nicht länger aushielt. Als der Würgereiz endlich nachließ, wischte ich mir den Mund ab und schaute abermals hinaus.

Die Haustür stand noch immer halb offen, und plötzlich konnte ich eine kleine Gestalt dahinter ausmachen. Es war ein Kind, kaum älter als drei Jahre, mit den gleichen blonden Haaren wie die tote Frau. Das Kind stand reglos in der Tür und starrte auf den leblosen Körper.

Dann wurde es von hinten gepackt und zurück ins Haus gezogen, bevor die Tür mit einem Knall zufiel. Die Frau lag wie weggeworfener Abfall auf dem Gehweg.

Zitternd sank ich auf den Boden, noch immer den intensiven Geschmack von Erbrochenem im Mund. Mir wurde bewusst, wie leicht es bis zum heutigen Tag gewesen war, die Augen zu verschließen und so zu tun, als sei das Ghetto ein Stadtviertel wie jedes andere und als seien Gewalt und Tod Dinge, die sich weit weg von hier abspielten. Zwar kannten wir die Gerüchte von brutalen Hinrichtungen in den Wäldern und sogar auf offener Straße, doch wir hatten uns weisgemacht, diese Berichte seien übertrieben. Aber jetzt waren es nicht länger Gerüchte aus Tarnów oder Kielce. Jetzt hatte das Morden unsere Haustür erreicht.

Den Rest des Tages verbrachte ich damit, mich wieder in den Griff zu bekommen und die schrecklichen Bilder zu verdrängen. Meine Eltern hatten schon genug Sorgen, ich wollte sie nicht in Aufregung versetzen. Doch andere in der Nachbarschaft hatten das Geschehen ebenfalls beobachtet oder zumindest mitangehört, sodass sich die Nachricht in Windeseile herumsprach. Als meine Eltern am Abend heimkehrten, gab es für sie kein anderes Thema als die Erschießung auf offener Straße. Ich hörte sie schildern, was sie von Dritten über den Vorfall erfahren hatten. Irgendwann hielt ich es nicht länger aus. “Ich habe es mitangesehen”, sagte ich und brach dann in Tränen aus. “Ich habe alles gesehen.” Erstaunt sahen mich meine Eltern an, sprachen jedoch kein Wort. Schließlich stand mein Vater auf, hockte sich neben mich und nahm meine Hand. Ich zitterte, als ich zu erzählen begann, was ich von unserem Fenster aus beobachtet hatte. “Und die Frau erwartete ein Kind”, fügte ich hinzu. Mein Vater wurde bleich – die Schwangerschaft war das eine Detail, das es nicht bis in die Gerüchteküche des Viertels geschafft hatte. “Was hat sie getan, um so sterben zu müssen?”, fragte ich schniefend. “Ist es nur, weil sie Jüdin war?”

“Ihr Ehemann – der Mann, den man wegbrachte – war Anton Izakowicz, ein Rabbi aus Lublin”, antwortete mein Vater. “Er stammt aus einer angesehenen Rabbinerfamilie, die man über Jahrhunderte hinweg zurückverfolgen kann. Pan Halkowski erzählte mir, der Rabbi sei vor ein paar Tagen mit Frau und Kind hergekommen. Ich wusste jedoch nicht, dass sie so nah bei uns wohnten. Die Nazis haben wohl geahnt, dass seine Anwesenheit hier im Ghetto unserer Moral deutlichen Auftrieb gegeben hätte. Vermutlich wurde er deshalb festgenommen.” Er schüttelte den Kopf. “Was für ein Verlust”, fügte er noch hinzu, als sei der Mann bereits tot.

“Bestimmt werden sie einen so angesehenen und bekannten Mann nicht umbringen.” Noch während ich das sagte, wurde mir bewusst, dass ich selbst nicht daran glaubte.

“Sie haben seine Frau getötet.” Meine Mutter sprach diese Worte in einem schroffen Tonfall, den ich bei ihr noch nie gehört hatte. Ja, seine Frau war getötet worden. Seine schwangere Frau, ergänzte ich im Geiste. Diese Worte hallten in meinem Kopf nach, als ich in der Nacht wach lag und immer wieder den kleinen blonden Jungen vor mir sah.

Am darauffolgenden Freitag holte mich Marta nicht vom Waisenhaus ab. “Sie ist erkältet”, hatte mich ihre Mutter ein paar Stunden zuvor wissen lassen. Als wir am Nachmittag die Kinder badeten und fütterten, überlegte ich, ob ich ohne Marta zum Schabbesessen gehen sollte. Der Gedanke, allein bei der Versammlung aufzutauchen, machte mir Angst, obwohl ich inzwischen bereits seit Monaten hinging. Ich betrachtete mich noch immer mehr als Martas Gast denn als jemand, der dort dauerhaft hingehörte.

Um fünf Uhr zog ich meinen Mantel an und verließ das Waisenhaus. Ich drehte den Kopf nach rechts und konnte das schwache Licht hinter den Vorhängen der Hausnummer 13 sehen. Mein Herz schmerzte bei dem Gedanken, nicht dorthin zu gehen, sondern in unsere kalte, stille Wohnung zurückzukehren. Mit einem Mal fasste ich einen Entschluss. Ich wechselte die Straßenseite und betrat das Haus, ging die Treppe hinauf und klopfte zaghaft an die Tür, nachdem ich tief durchgeatmet hatte. Als keine Reaktion kam, trat ich einfach ein.

“Dobry wieczór, Emma”, rief Helga aus der Küche.

“Dobry wieczór”, erwiderte ich. “Brauchst du Hilfe?”

“Nein”, gab sie kopfschüttelnd zurück. “Aber es wäre schön, wenn du nachher noch bleiben und mir beim Abwasch helfen könntest. Katya hat die Grippe.”

“Ja, natürlich helfe ich dir. Marta ist übrigens auch krank”, fügte ich hinzu und sah, dass sich bereits gut ein Dutzend Leute eingefunden hatte, deren Gesichter mir nach wenigen Wochen bestens vertraut waren.

“Emma, komm und setz dich zu uns!”, rief mir Piotrek zu, und schon bald lauschte ich einer Geschichte über einen einbeinigen Schuhverkäufer, an deren Wahrheitsgehalt ich gewisse Zweifel hegte. Aber das störte mich nicht, denn ich war vor allem dankbar dafür, wie eine von ihnen behandelt zu werden. Als schließlich die Glocke geläutet wurde, kamen Alek und Marek aus dem Nebenzimmer und das wöchentliche Ritual begann. Ich genoss das Abendessen im Kreis der Menschen, die mir längst wie alte Bekannte vorkamen. Dennoch war es nicht so wie sonst, da mir Marta fehlte, die mir Dinge zuflüsterte und Vertrauliches mit mir teilte.

Nach dem Dessert verabschiedeten sich einige, bis nur noch eine Handvoll Leute am Tisch saß. Alek, Marek und ein mir nicht bekannter dritter Mann, der mir beim Essen aufgefallen war, zogen sich ins Nebenzimmer zurück. Während ich die Teller zusammenstellte, fiel mir auf, dass die Tür einen Spaltbreit offen stand. Neugierig hielt ich mich in der Nähe auf, während ich das Geschirr einsammelte. Ich ging noch ein Stück näher an die Tür heran und hörte die drei Männer streiten.

“… die Eisenbahnlinie außerhalb von Plaszow”, sagte Mark soeben.

“Das ist zu früh”, erwiderte Alek. “Wir müssen erst die Vorräte zusammenbekommen.”

“Wir haben zwei Dutzend Waffen, hundert Schuss Munition, ein paar Granaten …”, wandte Marek ein.

“Das genügt nicht.”

Dann meldete sich der Fremde zu Wort. “In Warszawa organisieren sie alles innerhalb des Ghettos.”

“Wir sind hier aber nicht in Warszawa! Da ist die Bewegung größer. Das Ghetto selbst und alles andere ist dort größer!”, konterte Alek.

“Wenn es Minka bloß gelingt …”

“Emma”, rief Helga, die so plötzlich hinter mir aufgetaucht war, dass ich zusammenzuckte. “Brauchst du Hilfe mit den Tellern?”

“N-nein, d-danke”, stammelte ich aus Angst, sie könnte mich beim Belauschen ertappt haben. Ich balancierte einen Stapel Teller auf dem Unterarm und ging in die Küche. Während ich begann, das Geschirr abzuwaschen, hörte ich, wie die Tür zum Hinterzimmer knarrend geöffnet wurde. Die Männer kamen heraus und gingen Richtung Wohnungstür, wobei sie sich weiter unterhielten. Alek blieb kurz stehen und flüsterte Helga etwas zu, bevor er mit den beiden anderen die Wohnung verließ.

Wenige Minuten später war ich damit beschäftigt, die ersten Teller abzutrocknen, als Helga zu mir kam. “Ich erledige den Rest”, erklärte sie und nahm mir das Küchentuch ab. “Würdest du so nett sein, auf dem Weg nach unten den Abfall mitzunehmen?” Sie deutete auf zwei Beutel neben der Küchentür. Ich dankte ihr und wünschte den verbliebenen Gästen eine gute Nacht.

Am Fuß der Treppe angekommen, drehte ich mich um und entdeckte eine Hintertür, die hinaus in eine Seitengasse führte. Draußen war es stockfinster. Ich brauchte einen Moment, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, erst dann tastete ich mich mit dem Fuß vor. Ich nahm eine Stufe, die jedoch tiefer war als erwartet und zudem mit Eis überzogen, sodass ich den Halt verlor und dabei um ein Haar den Müll hätte fallen lassen. “Oh, oh!”, rief ich aus.

“Vorsicht”, hörte ich jemanden aus dem Schatten flüstern.

Vor Schreck zuckte ich zusammen, aber dann erkannte ich die Stimme wieder. “Alek!”, keuchte ich erschrocken. “Was machst du hier? Du hast mir Angst eingejagt.”

“Schhhht”, zischte er, nahm mir die Beutel aus der Hand und stellte sie an die Hauswand. “Komm her.” Er fasste mich am Ärmel. Mir wurde klar, dass er Helga gebeten haben musste, mich unter einem Vorwand zu ihm nach unten zu schicken. Er führte mich in eine entlegene Ecke der Gasse. Was wollte er von mir? Hatte ich mir durch irgendetwas seinen Zorn zugezogen? Ich überlegte, ob ich von ihm beobachtet worden war, als ich ihn und seine Freunde belauschte. “Ich habe eine Nachricht für dich.” Er klang nicht verärgert, als er das sagte und mir ein kleines zerknittertes Stück Papier in die Hand drückte.

Mein Herz machte einen Satz. “Von Jakub?”, fragte ich und hob einem Reflex folgend meine Stimme an.

“Schhht!”, machte er ermahnend, während er ein Streichholz anzündete. “Lies das schnell.”

Ich faltete den Zettel auseinander.

Meine Liebste,

es geht mir gut. Du fehlst mir mehr, als du dir vorstellen kannst. Pass gut auf dich auf, und gib die Hoffnung nicht auf. Hilfe ist unterwegs.

Emmeth

Die Nachricht war nicht unterzeichnet, aber Emmeth war das Codewort, das Jakub und ich vor seinem Untertauchen gewählt hatten. Es kommt aus dem Hebräischen und bedeutet Wahrheit. Wieder und wieder las ich die Zeilen, bis das Streichholz so weit heruntergebrannt war, dass Alek sich an der Flamme fast die Finger verbrannte und er sie auspusten musste.

“Ich verstehe nicht. Ist er in der Nähe?”

“Nein, ganz im Gegenteil. Diese Nachricht hat viele hundert Kilometer zurückgelegt, um zu dir zu gelangen.”

“Wo ist er?”

“Frag mich das nicht!”, fuhr Alek mich an. “Er ist in Sicherheit, mehr musst du nicht wissen.”

“Aber …” Tausende Fragen schossen mir durch den Kopf.

“Er ist auf einer … einer Mission”, sagte er. “Er besorgt Dinge, die für uns sehr wichtig sind.”

Dann war mein Ehemann also derjenige, über den sie im Hinterzimmer gesprochen hatten? “Minka?”, fragte ich und vergaß dabei völlig, dass ich das gar nicht hätte wissen dürfen.

“Ja. Außerhalb des Ghettos verwenden wir untereinander Decknamen. Aber du hättest unsere Unterhaltung nicht belauschen sollen. Glaub mir, wenn ich dir sage, es ist umso besser für dich, je weniger du weißt.”

“Ich verstehe”, entgegnete ich, obwohl das Gegenteil der Fall war. Meine Gedanken überschlugen sich. Wo war Jakub? Ging es ihm wirklich gut? Was hatte seine Nachricht zu bedeuten? Und wann würde ich ihn wiedersehen?

“Dein Ehemann besitzt die Gabe, Dinge zu beschaffen, das zu finden, was wir benötigen, und andere Leute dazu zu überreden, uns zu helfen.” Ich musste unwillkürlich lächeln, als ich mir Jakubs flehende Miene und seinen einnehmenden Tonfall vorstellte. Wenn er mich so ansah, konnte ich ihm nie etwas abschlagen oder lange böse sein.

“Er kennt sich auch sehr gut mit Waffen und Munition aus”, fuhr Alek fort. Ich begriff, wie wenig ich eigentlich über den Mann wusste, den ich geheiratet hatte. “Also gut.” Er nahm mir den Zettel aus der Hand. “Tut mir leid, aber den kannst du nicht behalten.” Enttäuscht sah ich mit an, wie er ein weiteres Streichholz anzündete und an das Papier hielt.

“Aber …”, begann ich zu protestieren, hielt jedoch gleich wieder inne, da ich wusste, wie recht er hatte. Wenn jemand den Zettel fand und ihn zu Jakub zurückverfolgen konnte, dann wäre das sehr gefährlich für ihn. Ich musste an unsere Heiratsurkunde und die Ringe denken, die ich in unserer Wohnung unter meiner Matratze versteckte. Niemand wusste, dass ich diese Dinge immer noch besaß.

“Emma, ich weiß, das ist schwierig für dich”, sagte Alek, als der Zettel zu Asche zerfallen war. Wieder herrschte um uns herum Kälte und Dunkelheit. “Du musst Vertrauen haben. Jakub geht es gut, und du bist nicht allein. Wenigstens hast du noch deine Familie.” Bei den letzten Worten nahm seine Stimme einen seltsamen Unterton an.

“Und was ist mit dir, Alek?”, fragte ich, weil ich nicht anders konnte. Ich wusste über ihn nur, was Marta mir erzählt hatte: dass er verheiratet war, dass sich seine Frau aber nicht im Ghetto befand.

“Meine Familie lebte vor dem Krieg in Tarnów”, erwiderte er ausdruckslos. “Meine Eltern waren keine Kämpfer. Sie hatten schreckliche Angst. Am Abend, bevor die Deutschen kamen, um uns zu holen, da legten sie sich ins Bett und nahmen etwas ein. Am nächsten Morgen waren sie tot.”

“Das tut mir leid”, erwiderte ich hilflos.

“Und meine Frau ist nicht hier im Ghetto”, fügte er schnell hinzu. Ob das aus seiner Sicht gut war oder nicht, konnte ich seinem Tonfall nicht entnehmen.

“Dann bist du ganz allein?”

“Ja, bis auf meine Cousine Helga.” Überrascht dachte ich an die Frau mit dem rundlichen Gesicht. Dass er mit ihr verwandt war, wusste ich nicht. “Darum kann ich verstehen, wie du dich fühlst, weil du von Jakub getrennt bist. Wir müssen geduldig sein.” Ich nickte. “Gut, dann geh jetzt nach Hause. Ich verspreche dir, falls ich wieder irgendetwas von ihm oder über ihn höre, werde ich es dich wissen lassen.”

Falls, wiederholte ich in Gedanken. “Danke, Alek.” Ich hob den Kopf und gab ihm einen verlegenen Kuss auf die Wange, dann wandte ich mich ab und verließ zügig die Gasse. Auf dem Heimweg dachte ich über all das nach, was ich erfahren hatte. Jakub war irgendwo allein unterwegs und organisierte Waffen für den Widerstand. Mir schauderte bei dieser Vorstellung, da es sich ziemlich gefährlich anhörte. Aber wenigstens lebte er noch, oder zumindest hatte er das, als er die Nachricht an mich schrieb. Meine Gedanken kehrten zu Alek zurück. Auch er war von den Menschen getrennt, die er liebte. Er leitete den Widerstand, doch seine eigenen Eltern hatten sich aufgegeben, hatten sich geweigert, Widerstand zu leisten. Ich dachte an meine Eltern, die Tag um Tag ihr Leben lebten. Mit einem Mal erschien mir ihr simpler Akt, jeden Morgen aufzustehen und einen Fuß vor den anderen zu setzen, wie eine außergewöhnlich tapfere Tat. Ich wusste, sie taten es für mich. Als ich in die Sicherheit unserer Wohnung zurückkehrte, empfand ich eine überwältigende Dankbarkeit, und ich musste mich zwingen, nicht auf der Stelle zu ihnen zu gehen und sie zu umarmen.

Ich zog mich um und legte mich ins Bett, konnte aber noch lange nicht einschlafen, da ich an Jakub und seine Nachricht denken musste. Alek wollte mir nicht sagen, wo er war, doch ich hatte den Teil des Umschlags genauer betrachten können, auf dem die Worte an mich gekritzelt waren. Der Poststempel kam aus Warszawa. Es bedeutete nicht, dass er sich dort aufhielt, aber vielleicht … mir lief ein Schauder über den ganzen Körper. Warszawa war der eine Ort, an dem es noch gefährlicher war als in Kraków. Und dann die Botschaft: Hilfe ist unterwegs. Die Worte hallten in meinem Kopf nach, bis meine Augenlider schwer wurden und ich in einen tiefen Schlaf sank.

In dieser Nacht träumte ich, dass ich mit Jakub in den Bergen war. Es war bitterkalt und wir wurden von Wölfen durch den tiefen Schnee gejagt. Meine Füße konnte ich nicht mehr fühlen. Je schneller ich rannte, umso langsamer kam ich voran, bis ich mindestens hundert Meter hinter Jakub war, ohne dass er es bemerkte. “Jakub!”, schrie ich, doch der Abstand war zu groß, und er konnte mich nicht hören. Einer der Wölfe sprang mich an, ich fiel schreiend zu Boden.

Im nächsten Augenblick saß ich aufrecht und hellwach im Bett. Eine Diele knarrte. Es ist nur ein Traum gewesen, sagte ich mir, und zog das Laken um mich. Ich legte mich hin, um wieder einzuschlafen, doch das wollte mir nicht gelingen. Auf der anderen Seite des Vorhangs schnarchte meine Mutter. Wieder knarrte eine Diele, diesmal etwas lauter. Plötzlich tauchte gleich neben meinem Bett ein Schatten auf. Ich schoss hoch, aber bevor ich einen Ton herausbekam, legte jemand seine Hand auf meinen Mund.

“Ruhig!”, flüsterte der Fremde mir zu. “Ich bin nicht hier, um dir wehzutun.” In Panik versuchte ich mich aus seinem Griff zu befreien, doch der Mann war zu kräftig für mich. “Hör auf! Alek schickt mich.” In der Dunkelheit konnte ich das Gesicht des Fremden schwach erkennen. Er war der Mann, mit dem Alek und Marek nach dem Essen gestritten hatten. “Emmeth”, hauchte er so leise, dass ich ihn kaum hören konnte. “Emmeth.” Als ich Jakubs Codewort hörte, wurde ich etwas ruhiger.

“Wer …?”, wollte ich fragen, als er seine Hand wegnahm.

“Schhht. Wir haben keine Zeit. Zieh dich an.” Ich stand auf. Vielleicht hatte Alek ja einen Weg gefunden, mir zu helfen, überlegte ich, während ich meine Arbeitskleidung in aller Eile über mein Nachthemd zog. Womöglich brauchte Jakub mich. Ich schlüpfte in die Stiefel und streifte den Mantel über. Am Vorhang, der mein Bett von dem meiner Eltern trennte, hielt ich kurz inne und schob den Stoff zur Seite. Vater hatte einen Arm schützend um meine Mutter gelegt, beide schliefen tief und fest.

“Komm”, flüsterte der Mann eindringlich und zog mich am Arm. Ich ließ den Vorhang los und verließ die Wohnung. Das Treppenhaus war dunkel, und jede Stufe knarrte, sobald wir darauftraten. Endlich hatten wir das Erdgeschoss erreicht und schlichen uns durch die Hintertür nach draußen.

Der Fremde nahm meine Hand und führte mich durch die Gassen. Die vom Frost glatten Straßen waren menschenleer, nur einige große Ratten eilten zwischen den Rinnsteinen hin und her. Ein paar Minuten später gelangten wir in eine Ecke des Ghettos, die ich noch nie gesehen hatte. Mir fiel ein Riss in der Grenzmauer auf, nicht viel breiter als dreißig Zentimeter. Der Fremde sah verstohlen nach links und rechts, dann schob er mich vor sich her, bis mir klar wurde, dass ich mich durch den Spalt zwängen sollte. Ich atmete aus, bevor ich mich daran machte, durch das Loch nach draußen zu entkommen. Auf halbem Weg steckte ich auf einmal fest, und es ging nicht mehr weiter. “Ich hänge fest”, flüsterte ich in Panik. Es würde nicht lange dauern, und die Deutschen würden mich in dieser Falle steckend finden …

Der Mann legte seine Hände an meinen Körper und drückte mich Zentimeter für Zentimeter weiter. Die schroffen Kanten der Mauersteine kratzten über meine Haut, und ich fürchtete, sie könnten meine Kleidung in Fetzen reißen. Dann aber kam ich frei und fand mich auf der anderen Seite der Mauer wieder. Schnaufend zwängte sich nun auch der Fremde durch den Spalt.

Als er schließlich neben mir stand, packte er meinen Arm, zog mich hinter sich her um eine Hausecke und beobachtete dann wachsam die Straße. “Komm”, flüsterte er fast lautlos und deutete mit dem Kopf nach rechts. Mit kurzen, schnellen Schritten ging er los, dicht an den Gebäuden entlang und darauf bedacht, in ihrem Schatten zu bleiben. Ich folgte ihm so schnell und leise, wie ich nur konnte. Ich war so schockiert und verwirrt, dass ich meine Flucht aus dem Ghetto gar nicht bewusst wahrnahm.