24. KAPITEL

Nachdem ich das Ghetto hinter mir gelassen habe, kann ich mich wieder darauf konzentrieren, wie ich am sichersten zu Krysias Haus gelange. Ich überlege, ob ich den Wald durchqueren soll, um Zeit zu sparen, doch dann erinnere ich mich an Gespräche, die ich in der Burg mitbekommen habe. Demnach wissen die Deutschen schon seit Langem, dass die Wälder rings um Podgorze von Flüchtlingen genutzt werden, die aus der Stadt entkommen wollen. Seit dem Attentat wimmelt es dort von Scharfschützen, die auf alles schießen, was sich bewegt. Nein, ich muss mein Glück versuchen, indem ich den Weg zurück durch die Stadt nehme.

An der Eisenbahnbrücke angekommen, gehe ich so leise wie möglich die Treppe nach oben, doch es kommt mir vor, als würden meine Schritte einen schrecklichen Lärm machen. Am Kopf der Treppe bleibe ich stehen und beobachte kritisch den langen Weg, der neben den Gleisen über die Brücke führt. Zwar ist weit und breit kein Mensch zu sehen, doch der Vollmond taucht alles in ein gleißendes Licht. Das gegenüberliegende Ufer scheint mir Welten entfernt zu sein. Ich lege den Schal um meinen Kopf und will losgehen, doch in diesem Moment weht mir ein kräftiger, eiskalter Wind entgegen, sodass ich mich in extrem gebückter Haltung voranbewege. Dabei presse ich das Kinn gegen meine Brust, damit der Schal nicht weggerissen wird. Mein Blick ist auf den Boden gerichtet, da ich auf glatte Stellen und Unebenheiten zwischen den Metallplatten achten muss.

Plötzlich höre ich aus der Ferne ein Motorengeräusch. Am rettenden Ufer nähert sich ein Fahrzeug der Brücke! Mir stockt der Atem. Jemand ist auf dem Weg hierher! Ich habe fast die Brückenmitte erreicht und bin damit bereits zu weit, um noch umkehren zu können. Schnell bringe ich mich hinter einer der stählernen Säulen in Sicherheit, und nur Sekunden später taucht an der Brückenauffahrt ein deutscher Lastwagen auf. Im Führerhaus kann ich nur einen Mann ausmachen, der in Richtung Ghetto unterwegs ist. Ich bleibe im schützenden Schatten stehen, presse mich gegen die Säule und wage nicht mal zu atmen. Der Lastwagen fährt quälend langsam vorbei, und ich kann nur beten, dass er nicht anhält. Nach einer scheinbaren Ewigkeit verschwindet das Fahrzeug jenseits der Brücke im Dunkel der Nacht.

Ich atme erleichtert aus, da ich wenigstens für den Augenblick in Sicherheit bin. Noch immer stehe ich gegen die Säule gepresst da und vergrabe die Hände in meinen Manteltaschen. Meine Finger berühren die Heiratsurkunde, und ich schließe meine Hand um das zusammengefaltete Stück Papier. Dabei kann ich die darin eingewickelten Ringe ertasten. Ich hätte diese Dinge gar nicht erst an mich nehmen dürfen. Zumindest sollte ich sie aber jetzt noch loswerden, immerhin könnte ich unterwegs von den Deutschen angehalten werden. Ich stelle mir vor, wie ich diese drei Dinge in den Fluss unter mir werfe und die Ringe im Wasser versinken, gefolgt von der Urkunde. Jakub würde mein Handeln verstehen, ja, ihm sogar zustimmen. Immerhin hat er mich in der Nacht vor seinem Verschwinden selber angehalten, diese Sachen verschwinden zu lassen. Aber ich kann mich einfach nicht von ihnen trennen. Sie sind das Letzte, was mich noch mit ihm verbindet. Sie sind das Versprechen, dass wir eines Tages wieder zusammen sein werden.

Ich schaue über das Brückengeländer nach unten und muss erkennen, dass ich meine Absicht nicht in die Tat umsetzen kann, selbst wenn ich es wirklich wollte. Der Fluss ist zugefroren und kann damit meinen Geheimnissen kein sicheres Versteck bieten. Das Papier würde vom Wind erfasst und fortgeweht werden. Nein, ich habe diese Dinge von meinem Vater angenommen, sie sind jetzt ein Teil von mir.

Ich bleibe noch minutenlang im Schutz der Säule stehen, da ich Angst habe, mich von der Stelle zu rühren und entdeckt zu werden. Aber ich muss weiter. Krysia wird bald aufwachen und sich fragen, wo ich bleibe. Ich lausche aufmerksam, kann jedoch keine verdächtigen Geräusche hören. Mein Blick wandert nach links und rechts, die Brücke ist menschenleer, dennoch verlasse ich nur zögerlich den schützenden Schatten. Bei jedem meiner kleinen, schnellen Schritte zittern meine Knie, und ich habe Angst, dass meine Beine mir den Dienst versagen. Nur noch ein paar Meter. Ich kann schon das Ende der Brücke sehen, die schützenden Schatten am Ufer rufen mich zu sich. Gleich habe ich es geschafft.

Plötzlich höre ich hinter mir ein lautes Motorengeräusch vom anderen Ende der Brücke. Der Lastwagen, denke ich und fühle Panik in mir aufsteigen. Der Fahrer hat mich gesehen und gewendet. Ich überlege, ob ich erneut hinter einer der Säulen Schutz suchen soll, aber ich habe bereits zu lange gezögert. Der Motor des Wagens wird abgestellt, eine Tür geht auf. “Halt!”, ruft eine Männerstimme. “Halt!”

Mir gefriert das Blut in den Adern. Ich kenne diese Stimme – das ist der Kommandant!

“Hände hoch”, befiehlt er. Seine schweren Schritte werden lauter, als er die Brücke überquert. Ich gehorche, während ich fieberhaft überlege, was er hier zu suchen hat. Er sollte doch im Bett liegen und fest schlafen. Die Wirkung des Schlafpulvers muss zu früh nachgelassen haben. Vermutlich habe ich doch nicht genug genommen. Aber woher weiß er, dass ich hier bin? Ist er mir zum Ghetto gefolgt? Ich höre, wie er näher kommt. Keinen Meter von mir entfernt bleibt er stehen und brüllt seinen Befehl: “Umdrehen!”

Da wird mir klar, dass er nicht weiß, dass ich es bin. Er hält mich für eine Polin, die die Ausgangssperre missachtet hat. Ich überlege, ob ich mich ihm zu erkennen geben soll, doch sosehr ich mich auch anstrenge, mir will kein plausibler Grund einfallen, warum ich mitten in der Nacht hier unterwegs bin. “Umdrehen!”, wiederholt er. Aus seiner Stimme höre ich die vertraute Ungeduld heraus. Ich atme tief durch, dann drehe ich mich zu ihm um, halte aber den Kopf gesenkt, sodass der Schal mein Gesicht verdeckt. Ich sehe den Kommandanten dicht vor mir stehen, er hat seine Waffe gezogen.

“Fräulein, was machen Sie hier allein in der Nacht?” Der Kommandant spricht nun ein wenig sanfter, da er sieht, dass er es mit einer Frau zu tun hat. “Ist Ihnen nicht bekannt, dass Sie gegen die Ausgangssperre verstoßen?” Ich schüttele minimal den Kopf, da ich nichts sagen will. Wenn er meine Stimme hört, wird er mich sofort erkennen. Er lässt die Waffe ein Stück weit sinken und streckt seine freie Hand aus. “Ihre Papiere bitte.”

O Gott, nein! Was soll ich jetzt machen? “Papiere!”, fordert er mich auf und zeigt sich erneut ungeduldig. In der Hoffnung, ein wenig Zeit zu schinden, greife ich langsam in meine Tasche und tue so, als würde ich nach meinen Papieren suchen. Dabei ertasten meine Finger abermals die zerknitterte Heiratsurkunde und die beiden Ringe, die mein Vater mir mitgegeben hat. Wenn ich meine Papiere nicht vorzeige, wird man mich verhaften und durchsuchen – und dabei auf diese Dinge stoßen. Dann bekomme ich meinen Ausweis zu fassen, der mich als Anna Lipowski identifiziert. Ich halte inne und überlege, ob ich mich dem Kommandanten zu erkennen geben soll. Wenn mir eine überzeugende Ausrede einfällt, was ich tief in der Nacht auf dieser Brücke zu suchen habe, und ich es mit dem richtigen Tonfall und Lächeln erzähle, glaubt er mir vielleicht.

Ich hebe den Kopf ein wenig, um seinen Gesichtsausdruck beurteilen zu können. Dabei löst sich der Schal um meinen Hals, und in der Dunkelheit blitzt etwas auf: die Halskette, die der Kommandant mir geschenkt hat.

Er stutzt. “Anna?”, fragt er. Er hat das Schmuckstück wiedererkannt.

“Ja, Herr Kommandant”, antworte ich leise. Ich bin zu nervös, um ihn mit seinem Vornamen anzusprechen. “Ich bin es.”

Er lässt den Revolver sinken und zieht meinen Schal zur Seite. “Warum hast du nicht gesagt, dass du es bist? Wieso bist du um diese Uhrzeit hier unterwegs?”

“Ich kann es erklären.” Sein Blick ruht erwartungsvoll auf mir. “Ich … ich …”, stammele ich.

“Warum bist du fortgegangen?”, will er wissen. “Ich war voller Sorge, als ich aufwachte und feststellte, dass du nicht mehr da bist.”

“Es tut mir leid, ich … ich wollte diese letzte Nacht lieber in Krysias Haus verbringen.” Ich mustere sein Gesicht, kann ihm aber nicht ansehen, ob er mir diese Erklärung abnimmt. “Mir hat Łukasz gefehlt”, füge ich noch hinzu.

“Das hättest du mir sagen können, Anna. Ich hätte dafür Verständnis gehabt und dich von Stanislaw nach Hause fahren lassen. Du solltest nicht nachts allein auf der Straße unterwegs sein. Man hätte dich verhaften oder sogar erschießen können. Anna, das war sehr riskant.”

“Ich weiß”, erwidere ich. “Es tut mir leid.”

Er sieht zum Ende der Brücke und späht in die Dunkelheit. “Aber das ist nicht alles, oder?”, fragt er.

Mir wird angst und bange. “I-ich verstehe nicht, was du meinst …”

“Das ist nicht der einzige Grund, weshalb du hier bist, nicht wahr?”

Er weiß es, schießt es mir durch den Kopf. Ich bin wie gelähmt und bekomme keinen Ton heraus. Er weiß alles. “Du wolltest davonlaufen”, sagt er und sieht mich wieder an.

“Nein”, entgegne ich hastig. “Ich meine …”

“Das ist nicht schlimm”, meint er beschwichtigend, was mich überrascht aufblicken lässt. “Ich kann das verstehen.”

“Wirklich?”

“Ja”, fährt er mit sanfter Stimme fort. “Das muss für dich alles sehr beängstigend sein – dass du ein Kind bekommst, dass du Kraków verlässt. Da ist es doch nur natürlich, wenn du in Panik gerätst.”

Unendlich erleichtert wird mir klar, dass er die Wahrheit doch nicht kennt. “Es ist beängstigend”, bestätige ich seine falsche Annahme. “Ich habe schreckliche Angst.”

“Dann wolltest du also wirklich davonlaufen …” Wieder suchen seine Augen die Dunkelheit hinter mir ab. “Wohin wolltest du?”

“Das weiß ich selbst nicht.” Wachsam beobachte ich seine Miene, während er sich unsere Unterhaltung durch den Kopf gehen lässt. Ich frage mich, ob er mir glaubt. “Bist du mir böse?”, will ich von ihm wissen.

“Nein”, entgegnet er prompt und nimmt meine Hand. “Als ich aufwachte und du nicht mehr da warst, bekam ich ein Gefühl dafür, was in dir vorgehen muss. Darum machte ich mich auf die Suche nach dir. Ich wollte dich sehen und dir versichern, dass alles gut ausgehen wird.”

“Oh …” Was soll ich ihm darauf antworten? Ich weiß es nicht.

“Anna …” Er beugt sich vor und hebt mein Kinn behutsam an. “Du musst keine Angst mehr haben. Ich werde alles tun, was nötig ist, damit du dich sicher fühlst. Wenn du willst, gebe ich noch heute Nacht meinen Posten auf, dann können wir gemeinsam weglaufen.”

“Georg …” Seine Worte machen mich sprachlos.

“Das ist mein Ernst. Dein Glück ist das Einzige, was mir wichtig ist.”

Ich antworte nicht darauf. Meine Gedanken überschlagen sich, zu viel habe ich in zu kurzer Zeit erlebt. Eben noch dachte ich, meine Tarnung sei aufgeflogen, und jetzt schwört mir der Kommandant bereits seine Liebe. Aufgewühlt schaue ich ihn an. Dieser Mann, der so viele unschuldige Menschen auf dem Gewissen hat, gesteht mir seine bedingungslosen Gefühle, für die er alles aufzugeben bereit ist. Nein, so ganz bedingungslos sind sie nicht, fällt mir in diesem Moment wieder ein. Meine Identität ist eine Bedingung. Ich weiß, er liebt Anna, eine Frau, die in Wirklichkeit gar nicht existiert. Oder existiert sie vielleicht doch? Mein Gesicht und meine Stimme, meine Worte und meine Berührungen haben seine Gefühle für Anna geweckt, Gefühle, die womöglich ehrlicher sind als alles, was mir je von einem Mann entgegengebracht wurde.

Plötzlich kommen mir die Tränen, und ich muss laut schluchzen. Der Kommandant kommt näher und legt seine Arme um mich. “O Anna, du musst dir keine Sorgen machen.”

“Es tut mir leid”, flüstere ich mit erstickter Stimme.

“Hör auf”, erwidert er leise und streicht mir übers Haar. “Du musst dich für nichts entschuldigen. Und hör auf zu weinen. Lass uns lieber nach vorn schauen, einverstanden?”

Ich nicke, gehe einen Schritt zurück und wische die Tränen fort. “Einverstanden.” Ich greife nach einem Taschentuch in die Manteltasche, doch dabei ziehe ich zugleich die Heiratsurkunde mit den Ringen heraus. Hastig versuche ich noch, sie zurück in die Tasche zu schieben, aber es ist zu spät. Die Ringe landen mit einem viel zu lauten Klimpern auf der Stahlplatte zu meinen Füßen, das Papier sinkt langsam hinterher. Unwillkürlich stoße ich einen erschreckten Laut aus.

“Dir ist etwas hingefallen”, sagt der Kommandant und will sich bücken.

“Nein!”, rufe ich entsetzt, knie mich hin und versuche in Panik, alles an mich zu nehmen.

Doch er kommt mir zuvor. “Was ist das?”, fragt er und betrachtet im Mondschein die Urkunde und die Ringe. Ich erwidere nichts. “Eheringe?” Er überfliegt den Text, während ich ein Stoßgebet zum Himmel schicke und hoffe, dass er das in Hebräisch verfasste Dokument nicht entziffern kann. Die Illustrationen am Blattrand genügen jedoch, um die Bedeutung der Worte auch so zu verstehen. “Eine jüdische Heiratsurkunde? Was soll das?” Sekundenlang ist seine Verwirrung größer als seine Wut, doch das liegt nur daran, dass er den Zusammenhang noch nicht erfasst hat. Er versteht noch immer nicht – oder vielleicht will er nicht verstehen. Das ist meine Chance, zu retten, was noch zu retten ist.

“Ich … ich …” Verzweifelt versuche ich, mir eine plausible Erklärung einfallen zu lassen. Krysia könnte mich gebeten haben, die Ringe ins Pfandhaus zu bringen, weil wir das Geld benötigen. Doch das würde das Dokument nicht erklären. “Es ist von einer Freundin”, bringe ich schließlich heraus.

Er schnalzt mit der Zunge und hält die Urkunde hoch, um sie im schwachen Licht besser lesen zu können. “Solche Freundinnen hast du, Anna? Ich wusste, Krysia war vor dem Krieg den jüdischen Künstlern zugetan, aber …” Mitten im Satz verstummt er, da er in diesem Augenblick zu der Erkenntnis kommt, vor der ich mich gefürchtet habe. “Krysia war mit einem Juden verheiratet …” Er lässt seinen Arm sinken, das Papier hält er weiter fest. “Bist du eine Jüdin?”

“Ich kann …”, setze ich an, doch er fährt mir sofort über den Mund.

“Ob du eine Jüdin bist, habe ich dich gefragt! Ja oder nein?”

Ich atme tief durch, dann antworte ich: “Ja.”

Er geht einen Schritt zurück und wirkt, als hätte er einen Schlag ins Gesicht bekommen. “Georg … lass mich bitte erklären …”

“Da gibt es nichts zu erklären, du bist eine Jüdin.” Er weicht meinem Blick aus. Sie ist auch eine Jüdin, kann ich ihn fast denken hören. So wie Margot. Ich sehe auf seine Waffe, die er inzwischen auf den Boden gerichtet hält. Ich könnte wegzulaufen versuchen, solange er den Schock noch nicht überwunden hat, aber dann tue ich es doch nicht. Wieder schaut er zu mir. “Ich verstehe nicht, wie …”

Mir ist klar, dass ich besser den Mund halten und ihm nichts weiter erzählen sollte, doch ein Teil von mir glaubt, dass er Mitgefühl zeigen könnte, wenn ich ihm alles erkläre. “Mein wahrer Name ist Emma.” Bewusst verschweige ich meinen Mädchennamen ebenso wie Jakubs Nachnamen, um weder ihn noch meinen Vater in Gefahr zu bringen. “Ich lebe unter falschem Namen bei Krysia.”

“Dann ist deine Geschichte, dass du eine Lehrerin aus Gdańsk bist und dass deine Eltern bei einem Feuer umkamen … dann ist das alles erfunden?”, fragt er, woraufhin ich schwach nicke. “Und was ist mit Łukasz?”

“Er ist nicht mein Bruder, sondern Krysias Neffe … von ihrer katholischen Seite”, füge ich noch rasch hinzu, um zumindest einen Teil des Lügengeflechts aufrechtzuerhalten und den Jungen nicht in Gefahr zu bringen. Ich sehe dem Kommandanten an, dass er mir nicht glaubt – und dass er mir vermutlich auch nichts anderes mehr glauben wird, was ich ihm erzähle. “Das ist alles, das ist die ganze Geschichte.” Natürlich ist das längst nicht alles, aber Jakub, Alek und die Bewegung werde ich ihm gegenüber nicht erwähnen. Er erwidert nichts. “Und nun?”, frage ich nach einigen Minuten eisigen Schweigens und werfe ihm einen flehenden Blick zu, während ich in seinem Gesicht nach einem Hinweis suche, dass er immer noch etwas für mich empfindet.

“Du bist eine Jüdin”, sagt er wieder, als würde das alles beantworten.

“Ist das wirklich so wichtig?”, frage ich ihn und berühre seinen Arm. “Ich bin noch immer die gleiche Frau wie vor fünf Minuten.”

Schroff zieht er seinen Arm zurück. “Nein, vor fünf Minuten warst du noch Anna, aber die existiert nicht mehr. Alles zwischen uns war eine Lüge.”

“Nein”, widerspreche ich. “Meine Gefühle für dich waren echt … sind echt”, korrigiere ich mich schnell. Als er mich ansieht, erkenne ich, dass ein Teil von ihm daran glauben möchte. Ich lege eine Hand auf meinen Bauch. “Und unser Kind …”

“Das Kind ist ebenfalls jüdisch”, fällt er mir mit eisiger Stimme ins Wort und macht einen Schritt zurück. “Du hast mich belogen, Anna … Emma.” Er spricht meinen wahren Namen fast angewidert aus. “Du hast mich verraten und gegen mehr Gesetze verstoßen, als ich dir aufzählen kann.” Wieder hebt er den Revolver hoch. “Ich sollte dich auf der Stelle erschießen, anstatt dich ins Lager zu schicken. Glaub mir, ich würde dir damit noch einen Gefallen tun.”

“Dann willst du mich also töten?”, frage ich im Flüsterton und füge nach einer kurzen Pause hinzu: “So … so wie du es mit Margot gemacht hast?”

Er sieht mich an, als hätte ich ihm eine Ohrfeige gegeben. “Ich habe meine Frau nicht getötet.” Seine Stimme klingt rau und erstickt. “Sie beging Selbstmord.”

“Weil du ihren Vater nicht retten wolltest”, spreche ich weiter und schere mich nicht länger darum, ob es ihn wundert, woher ich das weiß. Er schweigt. “Was macht es schon aus, dass nicht dein Finger am Abzug war? Getötet hast du sie so oder so.” Meine Stimme klingt fremd, da ich so energisch und forsch rede. “So wie du ihren Vater getötet hast! Und so wie …” Ich fuchtele mit den Armen und zeige in Richtung des Ghettos. “So wie du all diese Menschen getötet hast!”

“Das ist nicht wahr!”

Er macht einen Satz auf mich zu, doch ich weiche ihm aus. Mit einer Hand bekommt er dann aber doch meine beiden Handgelenke zu fassen und drückt mich gegen eine der stählernen Säulen. Sein Gesicht ist nur wenige Zentimeter von meinem entfernt, seine Augen haben einen unbeherrschten Ausdruck angenommen. Brutal schüttelt er mich. “Wer hat dir von Margot erzählt?”

Alek! Alek Landsberg!, möchte ich ihm entgegenschreien. Jener Held, den du auch auf dem Gewissen hast. Doch das sage ich nicht. Lieber sterbe ich, bevor ich den Widerstand verrate. “Das ist nicht wichtig”, gebe ich zurück. “Wichtig ist nur, dass es stimmt.”

“Nein!”, brüllt er hysterisch. “Es stimmt nicht. Ich tat es für uns. Das musst du mir glauben, Margot! Ich tat es nur, um uns zu retten!”

Überrascht sehe ich ihn an. Der Kommandant glaubt offenbar, seine tote Frau vor sich zu haben. Mir wird bewusst, dass ich ihn zu weit getrieben habe. Er hat den Krieg bislang überlebt, weil er sich die Welt so zurechtgelegt hat, wie sie ihm behagt. Eine Welt voller Trugbilder, durch die er sich von den Konsequenzen seines Handelns abschottete. Indem er die Wahrheit über mich herausfand, ist diese Welt in sich zusammengebrochen.

“Es ist schon gut”, erwidere ich und spiele mit. Wenn er mich weiter für Margot hält, lässt er mich vielleicht los, und ich kann entkommen. “Ich verstehe das doch, mein Schatz, und ich verzeihe dir.”

Er schweigt und rührt sich nicht, sondern starrt nur an mir vorbei in die Finsternis. Eine Ewigkeit scheinen wir so dazustehen, wobei er mich mit seinem Gewicht unverändert gegen die Säule in meinem Rücken presst.

Auf einmal lässt er mich los und weicht vor mir zurück. Ich straffe die Schultern und versuche durchzuatmen. “Ich habe meine Frau nicht getötet”, wiederholt er, da ihm wieder klar zu sein scheint, wen er vor sich hat. Seine Stimme klingt seltsam ruhig. Gegen einen Stahlträger gelehnt sagt er: “Ich habe Margot geliebt. Ich hätte ihr nie wehtun können.” Jetzt ist er es, der mich anfleht, seine Beweggründe zu verstehen. Aber das ist nicht alles. Er versucht auch, es sich selbst einzureden. “Ich habe meine Frau geliebt. Mir blieb einfach keine Wahl.”

Ich muss an Krysias Worte denken, die mir wie aus einem längst vergessenen Traum in Erinnerung sind. Man hat immer eine Wahl, sagte sie zu mir, nachdem ich mich auf die Affäre mit dem Kommandanten eingelassen hatte. Wir müssen für unser Handeln Verantwortung übernehmen. Nur so können wir verhindern, dass wir zu Opfern werden, und nur so können wir unsere Würde bewahren. Ich erwäge, das dem Kommandanten zu sagen, doch als ich ihm einen Blick zuwerfe, weiß ich, es ist nutzlos. Er würde nicht verstehen, was ich ihm klarzumachen versuche.

“Ich war einmal ein guter Mensch, Anna”, erklärt er plötzlich. Sein Blick ist auf das Wasser gerichtet. Sein Gesicht hat wieder diesen verlorenen Ausdruck angenommen, den ich so oft sah, wenn er in seinem Büro am Fenster stand und auf die Stadt hinausschaute. Ich weiß, er denkt jetzt an Margot und an die Zeiten vor dem Krieg. “Ich veränderte mich so allmählich, so schleichend, dass es mir nicht auffiel.” Zum ersten Mal höre ich ihn eingestehen, dass er Fehler gemacht hat.

“Du bist immer noch ein guter Mensch”, sage ich, stelle mich zu ihm und nehme seine Hand. Jetzt, da er verwundbar ist, habe ich vielleicht doch noch eine Chance zu entkommen. “Du kannst immer noch ein guter Mensch sein.”

Er schüttelt den Kopf und zieht seine Hand zurück. “Dafür ist es jetzt zu spät.”

“Es ist nicht zu spät, Georg. Bitte”, flehe ich ihn an und lege meine Hand auf seinen Arm. Näher, fordere ich mich stumm auf. So nah, dass er den Duft deiner Haare riechen und sich an die guten Zeiten erinnern kann. “Wir können immer noch gemeinsam weggehen – du und ich und unser Kind.”

Wieder weicht er zurück und wiederholt verbittert: “Unser Kind? Woher soll ich wissen, dass es überhaupt mein Kind ist?” Er zeigt auf die Heiratsurkunde und die Ringe, die er immer noch zusammen mit seiner Waffe in der Hand hält. “Du bist verheiratet, Anna. Es könnte auch sein Kind sein.”

Emma ist verheiratet, aber nicht Anna, denke ich insgeheim. “Ich habe meinen Mann seit mehr als drei Jahren nicht mehr gesehen”, lüge ich. “Seit Kriegsbeginn nicht mehr. Ich weiß ja nicht einmal, ob er überhaupt noch lebt.” Abermals gehe ich dichter an ihn heran. “Es ist dein Kind, Georg.” Ich sehe ihm an, dass er meinen Worten glauben möchte.

“Ja, vielleicht …”

“Du hast gesagt, du wünscht dir eine Familie und Kinder”, rede ich weiter, damit seine Überlegungen nicht in eine verkehrte Richtung abschweifen. “Das ist unsere Chance. Wir können von hier weggehen und anderswo ganz von vorn anfangen. Bitte.” Zwar antwortet er nicht, doch es ist offensichtlich, dass er über meine Worte nachdenkt. Er geht auf der Brücke hin und her, verzieht mal den einen, mal den anderen Mundwinkel, während er mit seinen widerstreitenden Gefühlen ringt. Bis jetzt habe ich nie erlebt, dass er nicht weiß, was zu tun ist. “Niemand muss die Wahrheit erfahren”, füge ich noch hinzu.

Dann auf einmal geht eine Wandlung in ihm vor. “Ich kenne die Wahrheit”, sagt er kühl. “Ich weiß, du hast mich belogen, Anna.” Sein eisiger Blick verrät mir, dass ich sein Herz nicht mehr zurückgewinnen kann. Mein Verrat und meine Lügen wiegen noch schwerer als mein Glaube, sie sind das, womit er nicht leben kann. Es gibt nichts, was ich sagen könnte, um ihn umzustimmen. Seine Hand zittert vor Wut, als er die Waffe hebt.

Einen Moment lang überlege ich ihn anzuflehen, mich am Leben zu lassen, dann aber entscheide ich mich dagegen. Wenn meine Worte vom gemeinsamen Kind und von einem Neubeginn ihn nicht erweichen können, dann wird Bitten und Betteln auch nichts bewirken. Ich sehe zum anderen Ende der Brücke, das endlos weit entfernt ist – zu weit, als dass ich mich in Sicherheit bringen könnte.

Instinktiv lege ich einen Arm beschützend über meinen Bauch und entschuldige mich bei meinem Kind, dass es niemals die Chance bekommen wird, zu leben. Ich schließe die Augen und denke an all die tapferen Menschen, die ich liebe: meine Eltern, Krysia, Łukasz, selbst Alek. Und dann Jakub. “Hab keine Angst”, höre ich ihn flüstern. Fast kann ich fühlen, wie er meine Hand drückt.

Ich höre ein Klicken, als der Kommandant seine Waffe spannt. Jetzt schlage ich die Augen auf, denn ich will den letzten Moment meines Lebens bewusst erfahren. Der Kommandant steht vor mir, die Pistole ist auf mein Herz gerichtet. “Leb wohl, Anna”, flüstert er. Tränen strömen ihm über die Wangen. Ich kann es nicht mitansehen und kneife die Augen wieder zu.

Ein Schuss fällt, dann ein zweiter. Ich muss bereits tot sein, da ich nichts fühle. “Emma!” Ich höre, wie in der Dunkelheit eine vertraute Stimme meinen Namen ruft. Als ich die Augen öffne, stelle ich fest, dass ich doch nicht tot bin. Der Kommandant hat sich von mir abgewandt und feuert anscheinend blindlings in die Schwärze der Nacht. Er steht wie erstarrt da, den Arm hoch in die Luft erhoben wie bei einer Marionette, die Augen weit aufgerissen. Die Vorderseite seiner Uniformjacke ist dunkel verfärbt, als wäre der Stoff nass geworden. Plötzlich fällt er zu Boden.

“Georg!”, rufe ich erschrocken und laufe zu ihm. Ich knie neben ihm nieder und frage mich, ob er etwa seine Waffe gegen sich selbst gerichtet hat. Er greift nach meiner Hand. “Beweg dich nicht”, sage ich zu ihm und sehe mich verzweifelt um. “Ich hole Hilfe.” Doch auch wenn mir diese Worte über die Lippen kommen, weiß ich längst, dass das völlig unmöglich ist. Wenn ich die Polizei alarmiere, wird man mich festnehmen. Ich kann nicht mein Leben aufs Spiel setzen, um seines zu retten.

Der Kommandant schüttelt schwach den Kopf und muss husten. “Dafür ist es zu spät. Bleib bei mir, Anna”, sagt er und benutzt wieder meinen falschen Namen, als wolle er bis zuletzt daran glauben, dass ich nicht Emma bin. “So ist es besser.”

“Sag so etwas nicht!” Ich schiebe eine Hand unter seinen Kopf und hebe ihn leicht an. Sein Gesicht ist kreideweiß. “Es wird alles wieder gut werden. Wir müssen dich nur ins Krankenhaus bringen.”

“Nein, ich will nicht, dass es so weitergeht. Wenn wir nicht zusammen sein können …”

“Das können wir doch”, beharre ich. Seine Schusswunden bluten jetzt noch stärker, der Schnee unter ihm verfärbt sich tiefrot.

Er drückt meine Hand. “Es tut mir so leid. Ich liebe dich, ich hätte dir nie wehtun können.”

“Ich weiß”, flüstere ich, obwohl das Gegenteil der Fall ist. Margot hatte er ebenfalls geliebt, und bei ihr war das auch nicht genug gewesen.

“Ich liebe dich”, wiederholt er.

“Ich liebe dich”, entgegne ich. Als ich diese Worte zum ersten Mal ausspreche, wird mir bewusst, dass sie zumindest zu einem Teil der Wahrheit entsprechen. Ich streiche sein Haar aus der schweißnassen Stirn.

“Anna”, wispert er, seine Lider beginnen zu flattern, dann ist sein Blick mit einem Mal leer.

“Nein!”, rufe ich und drücke meine Stirn auf seine. Ich verharre in dieser Haltung, weil ich hoffe, seinen warmen Atem auf meiner Haut zu fühlen, doch da ist nichts mehr. Ich lege die Lippen auf seine Augenlider, um sie mit einem sanften Kuss zu schließen. Sein Gesicht wirkt jetzt ganz ruhig. In diesem Moment weiß ich, dass der Kommandant nicht mehr lebt.