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Kapitel

Ihnen blieb nur eine Chance, wenn sie nicht unterwegs verschmachten wollten: Sie mussten Nelats vorzeitig nach Hause zurückgeschickten Wagen einholen. Dieser war knapp, aber ausreichend mit Proviant bestückt worden. Was für vier Personen reichte, konnte bei harter Rationierung auch für neun genügen. Außerdem hatten sie dann zwei Wagen, also acht Pferde, was ihnen weitere Kombinationsmöglichkeiten einräumte, auch, um die Kräfte der bis dahin überbeanspruchten Tiere wiederherzustellen.

Falls Nelat jedoch ebenfalls überfallen worden war oder von der Spur abgewichen, um vielleicht Resea zu folgen, und diese Spur nicht mehr zu finden war, gab es noch eine andere winzige Chance: Im Vorratslager, das sie selbst auf ihrer ersten Feindeslandmission angelegt hatten, musste sich noch Proviant befinden, drei Tage vor Carlyr. Allerdings kamen sie jetzt aus einer ganz anderen Richtung. Das Lager zu finden war eine beinahe unlösbare Aufgabe.

Nein. Eigentlich blieb ihnen nur Nelat.

Ihrer eigenen Spur nach Süden zurück zu folgen, war kein Problem. Die Spur war frisch, von drei Wagen und zwölf Pferden gezeichnet. Darunter war sogar noch Reseas einzelne Fluchtfährte zu sehen und wiederum darunter die schon beinahe verschwundene von Gollbergs Erster Kompanie auf ihrem Hinweg ohne Rückkehr. Es war windstiller geworden, sodass kein Sand mehr die Spuren verwischte.

Verfolger tauchten nicht mehr auf. Leutnant Gyffs befürchtete immer noch, dass weitere Affenmenschen auf zotteligen Einhörnern hinter ihnen herjagen konnten, aber nichts dergleichen war zu sehen. Zumindest noch nicht. Sie konnte immer noch die Hand des Feindes auf ihrer Brust brennen spüren.

Unter den schweren Ausläufern des Sonnenuntergangs fanden sie die Stelle wieder, an der ihnen Resea begegnet war. Von hier aus führte die Spur von Nelats Wagen zurück nach Süden. Gyffs vermisste Deleven, der ein viel besserer Spurenleser war als sie oder ihre Verbliebenen. Aber Deleven war tot. Fenna war tot. Jonis. Teppel. Gollberg. Alle.

Die Männer hatten Angst vor einer Nachtruhe. Nachtruhe bedeutete, dass mögliche Verfolger wieder näher herankommen konnten, dass Nelat sich vielleicht weiter entfernte, dass Ungeheuer auftauchten, die im Dunkeln nicht auszumachen waren. Aber die Pferde brauchten eine Rast, anders war es nicht durchführbar.

Von den Holtzenauen zeigte Leutnant Gyffs die Wunde Stodaerts: ein hässlich aufklaffender Bauchschnitt mit weißlich blutleeren, wie tot aussehenden Fleischrändern. Seit Stunden schon kam der Soldat immer wieder für kurze Zeit zu sich, presste sich selbst den Bauch und versuchte vor seinen Kameraden tapfer und dienstfähig zu wirken, aber seine bleichen Lippen und sein Schläfenschweiß verrieten, dass es nicht gut um ihn stand.

Gyffs dankte den Göttern dafür, dass Fergran von den Holtzenauen bei ihnen war. Der junge Adelige versorgte die Wunde so gut wie möglich. Er schimpfte auch nicht mehr mit Stodaert, dass dieser seinen Zustand so lange verborgen gehalten hatte.

Gyffs befahl ihren Männern zu schlafen und hielt selbst Wache. Ohnehin hätte sie kein Auge zutun können. Mehr denn jemals zuvor in ihrem Leben spürte sie, dass die Götter existierten, und sei es nur, um über die Menschen lachen zu können.

Die Nacht war voller Bewegungen, aber es mochten auch nur Tränen sein, die ihr Augenlicht verschwimmen ließen. Gyffs blinzelte das alles einfach weg. Nichts machte ein Geräusch. Die Pferde waren ruhig, also näherte sich kein Feind.

Noch vor der Dämmerung weckte Gyffs die anderen. Die Pferde wurden wieder angeschirrt, und es ging weiter. Allen begannen die Mägen zu knurren, aber noch schlimmer war der nagende, in den Nieren schmerzende Durst.

Sie folgten weiter dem Fährtengemisch. Der Leutnant schlief, von den Holtzenauen und MerDilli wechselten sich mit dem Lenken ab; bei Kertz wurden die Pferde zu unruhig.

Gegen Mittag brach eine Wagenfährte aus dem Hauptstrang aus. Nelat. Es war nicht genau zu erkennen, aber hoffentlich fuhr er nur Resea hinterher.

Da sie nicht wissen konnten, ob – und wenn ja, an welcher Stelle – Nelat wieder auf die Hauptfährte zurückgekehrt war, beschloss die von MerDilli behutsam geweckte Leutnant Gyffs, Nelats Wagenspur zu folgen. Wenn sie den Wagen nicht fanden, war es ohnehin egal, ob sie bis dahin in die Irre fuhren oder nicht.

Sie fuhren der einsamen Fährte nach. Ab und zu waren links und rechts Hufspuren zu sehen. Ein einzelner Reiter. Resea.

Nach nur einer Stunde kam der Wagen von Nelat ihnen entgegen. Gyffs, die neben MerDilli auf dem Kutschbock gesessen und Ausschau gehalten hatte, machte unwillkürlich einen Freudensprung. Tadao Nelat hatte alles richtig gemacht: Er war dem taumelnden Resea gefolgt, so weit es vertretbar war, und hatte sich dann sicherheitshalber in seiner eigenen Wagenspur wieder auf den Rückweg begeben.

Als Gyffs die vier anderen Überlebenden der Dritten Kompanie – Nelat, Alman Behnk, Gildeon Ekhanner und Mails Emara – unverletzt und verhältnismäßig guter Dinge vor sich sah, schossen ihr schon wieder die Tränen aus den Augen, und ihre Beine versagten ganz kurz den Dienst. Sie schob dies auf die Anstrengung, den ganzen Tag auf dem Kutschbock zu sitzen. Von den Holtzenauen musste sie stützen und auf der Wagenfläche absetzen. Abermals versagte sie als Kommandooffizier, aber im warmen Innenlicht der von außen mit Blut markierten Wagenplane war ihr das nun vollkommen gleichgültig. Unter Freunden, unter Kameraden gab es kein Versäumnis mehr, das auch nur halbwegs dem Scheitern im Angesicht des Feindes gleichkam.

Von den Holtzenauen und MerDilli hatten den bestürzten vier Soldaten zu erläutern, was sich in der Wüste an den schwarzen Felsen ereignet hatte. Es war eine merkwürdige Geschichte, wenn man sie sich so gerafft anhörte. Von aufgespießten Menschen war da die Rede, von Affen mit Helmen und Schmuck und Rüstungen und Wurfkeulen. Von Fenna. Von Deleven, dem besten Kämpfer, den MerDilli jemals gesehen hatte. Von einem menschlichen Magier, der die Seiten gewechselt hatte. Und von drei Einhornreitern, die den Wagen immer wieder umrundet und mit Menschenblut beschmiert hatten.

Behnk begann ebenfalls zu weinen, nachdem von den Holtzenauen und MerDilli endeten. Nelat tätschelte ihm aufmunternd die Schultern. Der mädchenhafte Neunzehnjährige schien mit seiner Aufgabe als Interimskorporal gewachsen zu sein. Er erstattete seinerseits Bericht, dass es ihnen gelungen war, den verwundeten Gerris Resea zu bergen. »Wir hatten den Eindruck, dass sein Pferd immer mehr in Schlangenlinien ging. Womöglich hatte er es die ganze Nacht hindurch angetrieben, ohne ihm eine Rast zu gönnen – wir wissen ja, wie er ist. Als seine Spur dann von der eigentlichen Wegfährte abwich, beschlossen wir, ihm zwei bis drei Stunden zu folgen. So fanden wir ihn, neben seinem zusammengebrochenen Pferd liegend. Er schläft auf dem Wagen, aber ich glaube, besonders gut geht es ihm nicht.«

Von den Holtzenauen sah sich nun auch den einzigen Überlebenden der Ersten Kompanie genauer an. Er konstatierte eine schwere Kopfwunde, womöglich einen Schädelbruch. »Wahrscheinlich eine von diesen Wurfkeulen.«

»Scheusal« Kertz und MerDilli bedienten sich unterdessen am Wasser aus Nelats Wagen, aber dann war Leutnant Gyffs wieder zur Stelle und rationierte die Vorräte. »Wir haben noch fünf Tage vor uns, wenn nichts Unvorhergesehenes passiert. Sechs bis sieben Tage, falls wir unterwegs in weitere Kämpfe verwickelt werden oder man uns zu Umwegen zwingt. Aber ich bin …« Sie stockte. Für beinahe einen halben Sandstrich konnte sie nicht weitersprechen. Dann fiel ihr ein, was sie hatte sagen wollen. »Aber ich bin zuversichtlich, Männer. Wir sind acht Unverwundete. Es wird uns gelingen, auf die beiden Verletzten aufzupassen und gemeinsam zur Festung zurückzukehren. Die … Dritte Kompanie hat schwere Verluste hinnehmen müssen. Aber ihr weitaus größter Teil ist immer noch intakt.« Jonis. Teppel. Deleven. Fenna. Garsid. Tot. Kindem. Einarmig. Stodaert. Schwer verwundet. Wieder zerbröselten ihr die Worte. »Je schneller wir sind, desto besser, weil wir dann unsere Spur beibehalten können. Aber irgendwann wird, auch wenn die Spur verweht oder verwischt sein sollte, das Felsenwüstengebirge sichtbar sein und uns nach Süden hin die Richtung weisen. Also auf, Männer! Wir verteilen den Proviant auf beide Gespanne, laden Resea zu uns, zu Stodaert, und fahren mit beiden Wagen weiter.«

An den folgenden zwei Tagen lebten sie in beständiger Furcht, die stellenweise kaum noch zu erkennende Spur zu verlieren.

Echsengeier tauchten auf, bevölkerten den Himmel, schienen die winzige Zweierkarawane zu beäugen, kamen näher und näher und entfernten sich dann wieder. Vielleicht konnten sie die Blutmarkierungen lesen. Wenn Affenmenschen sprechen konnten, war alles vorstellbar.

Fünfmal glaubte einer der Soldaten einen Affenmenschen zu sehen – meistens waren es jene vier, die noch nie einen zu Gesicht bekommen hatten und deshalb den größten Spielraum beim Zuordnen von Umrissen besaßen.

Einmal sahen sie ein Einhorn, aber es war kein schlankes, pferdeähnliches, sondern ein wuchtiger Dickhäuter mit graubrauner Lederhaut.

Einmal sahen sie einen Drachen fliegen, aber er war weit entfernt und glitt nach Westen. Sie atmeten alle auf, denn von den Holtzenauen schätzte seine Flügelspannweite auf zehn Schritt.

In einer der Nächte glaubte Gyffs einmal Schreie zu hören. Sehr ferne, dünne Schreie. Waren es ihre eigenen unbestatteten Toten, die nicht einmal ein Senchak-Ritual erhalten würden? War es die Stimme von Eremith Fenna, die ihr hinterherrief, dass er hatte umkehren wollen, bevor alles zu spät war?

»Das ist nur der Wind«, sagte Mails Emara, den sie neben sich zur Wache eingeteilt hatte. Kurz beruhigte sie das. Dann fragte Emara: »Das ist nur der Wind, oder, Leutnant?«

Am vierten Tag ihrer Flucht wurde es nebelig. Hatte der Nebelmond bereits begonnen? Leutnant Gyffs hatte ein wenig die Kontrolle über die Abfolge der Tage verloren, aber Alman Behnk war sich ziemlich sicher, dass dieser Tag erst der 27. Blättermond sein konnte.

Die Vorräte gingen beständig zur Neige.

Sie gingen zur Neige und dann immer noch weiter zur Neige.

Die Landschaft wechselte kontinuierlich die Farben.

Sie war blau in den Nächten und gelb an den Tagen und rot in den Dämmerungen. Sie ruckelte vorbei, als würde sie von blinden Pferden gezogen.

Am Horizont zeichnete sich das Felsenwüstengebirge ab. Ein weltumspannender Drache, dessen Rückgrat sich erhob.

Resea brabbelte im Fieber von berstenden Pferden und dem Geruch von Kamille.

Stodaert lächelte und nickte tapfer, aber er konnte nichts mehr essen oder trinken. Von den Holtzenauen tat, was er konnte. Auf ihre Proviantsituation wirkte sich das positiv aus, dass der Soldat Stodaert im Sterben lag.

Leutnant Gyffs grübelte viel, besonders während der Nachtwachen.

Sie dachte darüber nach, weshalb sie so viele Jahre ihres jungen Lebens darauf verwendet hatte, das Kämpfen zu erlernen, wenn sie dann im Ernstfall gar nicht zum Kämpfen kam. Sie war immer wieder nur überrumpelt worden, hatte keinen einzigen Schuss abgegeben, keinen einzigen Streich geführt, sich mehr unnütz als nützlich gemacht. Ihre Männer waren bei dem Versuch, sie zu verteidigen, gedemütigt worden.

Sie dachte darüber nach, warum keiner ihrer vielen Ausbilder sich jemals die Zeit genommen hatte, sie beiseite zu nehmen und ihr in ruhigem Tonfall zu erklären, dass Heldentum eine Unmöglichkeit war.

Schließlich kam verschattet und kühl die Festung Carlyr in Sicht.

Die Männer in Leutnant Gyffs’ Rücken jubelten und wollten sich über die Reste von Wasser und Proviant hermachen, doch Gyffs hielt sie noch zurück. Sie wollte sehen, ob die Türme der Festung bemannt waren. Onjalbans Drohung, dass Carlyr und Galliko fallen würden, hallte ihr beständig in den Ohren, an jedem Tag, in jeder Nacht, zu jeder Stunde.

Die Türme waren bemannt. In der Festung war alles ruhig, ging alles seinen geordneten militärischen Gang.

Stodaert würde ins Lazarett verbracht werden, die vielen Toten von den Soldlisten gestrichen. Die Zimmerzuteilungen verändert. Die gesamte Erste Kompanie existierte nicht mehr. Ein immer gleichbleibender Kapellenritus würde in Abwesenheit sämtlicher Leichname abgehalten. Der Oberst würde den Verlust seines Vorzeigeoffiziers Gollberg beklagen, vielleicht auch den von Eremith Fenna. Die Warnung des Magiers würde wahrscheinlich in den Wind geschlagen werden, schließlich war er ein Überläufer, ein Verräter. Niemand räumte eine königliche Festung, noch bevor diese überhaupt angegriffen worden war. Die Festung Carlyr: Bemannt nun nur noch von anderthalb Kompanien, von Hobock und Sells und einem erschöpften weiblichen Leutnant namens Loa Gyffs. Und dem Gesinde und den ständig rotierenden Wachtposten.

Dann würde ein neuer Befehl ins Land ergehen. Leutnant Hobock würde wieder hinausreiten, um neue Freiwillige zu rekrutieren.

Junge Männer, und diesmal vielleicht auch Frauen, würden sich im Hof drängeln und raufen und gegen Mauern rennen.

Die leer getöteten Ränge würden aufgefüllt werden.

Und dann wieder.

Und noch einmal.

Kinder zu Soldaten. Zu Verteidigern des Heimatlandes.

Und noch einmal.

Und wieder.

Bis irgendwann das ganze grüne Land südlich des Felsenwüstengebirges genauso lebensleer und trostlos sein würde wie die nackte, aber ehrliche Wüste der Affenmenschen.