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Kapitel

Drei Tage vor dem großen Ereignis begann die Festung Carlyr sich herauszuputzen.

Die Mauern und Gebäude wurden geschrubbt, der Hof gefegt, die Fenster gewaschen, die Zweite und Dritte Kompanie zu diesen Aufgaben herangezogen. Gollbergs Erste hatte sich wohlüberlegt ins Feindesland verdrückt.

Die Arbeit war nicht allzu schwer und machte sogar Spaß – einzig das tiefschürfende Reinigen der Latrinen war grässlich, und das übernahmen unterwürfig die Soldaten von Hobock & Sells freiwillig –, aber es war doch überraschend, wie schnell alles Waschwasser schwarz wurde und um wie viel heller alle Bauten nach dem Schrubben aussahen. Es wirkte, als würde das Land der Affenmenschen kontinuierlich rußen, und sich dieser Ruß als trockene, unfettige Schicht immer wieder aufs Neue über Carlyr legen. Die Festung erstrahlte hinterher wie frisch gehäutet. Einzig Fenna war zerknirscht, weil selbst nach dieser Häutung Yinn Hanitz’ Blutschatten immer noch an der Ostwand zu sehen war.

Am Tag vor dem Manöver wurden oben auf der F & L eine Lehnensitzbank und eine niedrige Balustrade in die dafür vorgesehenen Auslassungen montiert. An dieser Arbeit beteiligten sich Fenna und Gyffs, und beide genossen den ungewohnten Ausblick über die Festungsanlage.

»Bist du eigentlich schon einmal auf einem der Türme gewesen?«, fragte Gyffs.

»Noch nie. Seltsam eigentlich, dass ich noch gar nicht daran gedacht habe.«

»Das solltest du unbedingt mal nachholen. Ich war schon einmal auf dem Nordturm, damals, bei der Besichtigung. Man kann weit ins Affenland hineinblicken.«

Fenna wunderte sich wirklich, dass er noch nie auf diesen Gedanken gekommen war, und beschloss, dieses Versäumnis augenblicklich nachzuholen. Die Männer waren alle gut beschäftigt. Jonis, Ekhanner, Kindem und Stodaert schüttelten gerade zu viert einen Teppich aus dem Lazarett aus. Garsid war oben auf dem Mauerumlauf zu sehen und fegte. Vor wenigen Augenblicken hatten auch MerDilli und Kertz geschäftig den Haupthof überquert.

Fenna erstieg den Nordturm, den höheren der beiden. Die Wendeltreppe im Inneren war verschattet und muffig. Hier hatte niemand geschrubbt, denn General Feudenstich war viel zu alt, um noch auf Türme zu kraxeln. Nach etlichen Umrundungen kam Fenna oben an. Hier wehte tatsächlich ein Lüftchen unter dem strahlend blauen Himmel, während unten im Hof alles windstill war.

Der Ausblick war beeindruckend. Der weibliche Wachtposten, der angesichts des Leutnants Haltung angenommen hatte, lächelte stolz, als Fenna tief einatmete.

Die Festung war ein Bienenstock. Deleven und Nelat waren zu sehen, wie sie dem Zeugmeister zur Hand gingen. Resea schwatzte mit drei Wäscherinnen, die sich vor Lachen bogen. Emara half einigen von der Zweiten dabei, das Die Flagge erobern-Feld für den morgigen Tag abzustecken. Garsids Glatze glänzte von hier oben wie eine Krone. Die Kompanien waren bunt durchmischt. Carlyr summte vor Heiterkeit und Fleiß.

Dann wandte sich der Leutnant um und blickte nach Norden. Das Gebirge war an dieser Stelle tatsächlich so schmal, dass keine Massive mehr den Blick verstellten. Das Feindesland war von Dürre und Kargheit gezeichnet, eine gelbgraue Karstwelt. Von giftigen Dämpfen war nichts zu sehen, auch nicht von Echsengeiern, Affenmenschen oder Gollbergs Reitern. Fenna schnupperte. Da war er wieder, dieser eigentümliche, nicht uninteressante Geruch nach verbrannten Kräutern, der unten zumeist von den Festungsgerüchen überdeckt wurde.

»Weißt du, was da so riecht?«, fragte Fenna die Wachhabende.

»Dieses … Verbrannte?«

Fenna nickte.

Die Wächterin schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, Leutnant, tut mir leid. Ich war noch nie da draußen. Mich erinnert der Geruch immer an die Küche meiner Mutter. Klingt seltsam, ist aber so. Gebratenes Fleisch, scharf gewürzt, leicht verbrannt. Macht mir Hunger, dieser Geruch.«

»Roch das schon immer so, oder erst seit dem Feldzug?«

»Das roch schon immer so. Zumindest seit ich hier Dienst tue, seit sieben Jahren. Was neu ist, ist dieses Flimmern in der Nacht, wie bei großer Hitze. Und manchmal, bei Wind aus dem Norden, auch ein neuer Geruch: nach einer Esse. Schmiedsfeuer. Das gibt es erst seit dem letzten Winter.«

»Schmieden die Affenmenschen sich Waffen?«

»Ich habe keine Ahnung, Leutnant. Wirklich nicht. Tut mir leid.«

Fenna nickte und ging wieder nach unten. Das Geschnatter der Stimmen umwirbelte ihn, erdete ihn und holte ihn in die Wirklichkeit zurück.

Am späten Nachmittag traf die Kutsche des Generals so pünktlich ein, dass man die Sanduhr nach ihr hätte stellen können.

Zum allgemeinen Entzücken war der greise General Alx Feudenstich nicht allein gekommen, sondern in Begleitung dreier ausnehmend appetitlicher Stadtdamen, seiner »äh, … Großnichten«, wie allgemein gemunkelt wurde. Die drei – eine blond, eine rothaarig, eine dunkelhäutig und schwarzlockig – umschwirrten den General lachlustig und fächerflatternd. Gerris Resea war zur Stelle, um die Damen galant zu begrüßen und sich zu empfehlen. In der sich rasch bildenden Traube von Bewunderern konnte Fenna allerdings – unter einem Drittel der Zweiten Kompanie – auch Behnk und Emara ausmachen.

General Feudenstich war ein klapperiges Männlein mit weit ausgestellten, krummen Beinen. Er trug eine Schmuckuniform, deren unzählige Zierorden mit ihrem sicherlich nicht unbeträchtlichen Gewicht womöglich für seine stets eingeknickten Knie verantwortlich waren. Immerhin stützte sich der schätzungsweise Achtzigjährige auf einen Stock mit goldenem Adlerknauf.

Oberst Jenko war höchstpersönlich an die Kutsche geeilt, um den alten General zu begrüßen. Worte wie »Tadellos« und »Bestens, bestens« wurden gewechselt, dann führte der Oberst den General und seine »äh, … Großnichten« in ihre Unterkünfte im Obergeschoss der Führung & Leitung, wo auch sein Büro lag. Bis in die Dunkelheit hinein konnte man von dort dann das Klirren von Fairaier Kristallgläsern und das Gelächter der Damen hören. Hobock & Sells improvisierten vor der Fassade mit ihren auf Hauptmann Veels’ Blasinstrumenten spielenden Kompaniemusikanten eine Art Serenade, die erst richtig gefühlvoll wurde, als Leutnant Hobock eine Laute hervorholte und mit sanfter, aber nichtsdestotrotz eindringlicher Stimme zu singen begann:

Denk nicht, dass ich nichts Besseres zu leben wüsste,

Anstatt dorthin zu zieh’n, anstatt dorthin zu zieh’n,

Wo die Ungeheuer und die Geisterfürsten

Allenthalben nur nach meiner Seele dürsten.

Denk nicht, dass ich vom Herzen her nicht bleiben müsste,

Anstatt dorthin zu zieh’n, anstatt dorthin zu zieh’n,

Wo die Berge und die Wolken sich verschränken,

Um mich in einen viel zu frühen Tod zu lenken.

Denk nicht, dass ich nicht zu schätzen wüsste

Das Blau deiner Augen, das Blau unseres Himmels,

Doch wenn ich nicht ginge,

Würden sie dich blenden,

Würden Blau und die Dinge

Für immer beenden.

Fenna staunte. Der Text war natürlich sentimentales Zeug aus König Rinwes Ära, typisch für die Zeit des Feldzuges gegen den Geisterfürsten, aber das Arrangement der Instrumente war ungewöhnlich. Das Zusammenspiel der leise gespielten Bläser mit der Laute und dem vibrierenden Gesang war aller Ehren wert.

Gyffs jedoch schnaubte nur. »So sind sie, die Männer: Den Tag über schaben sie in der Latrine herum, und am Abend glauben sie, uns dann durch Gesang betören zu können.«

»Uns?«, hakte Fenna lächelnd nach. »Euch Frauen? Ich dachte, in dieser Konstellation bist du nicht die angeschmachtete Schöne auf dem Balkon, sondern eher der Soldat, der ins Feld muss.«

»Na ja. Kann schon sein. Jedenfalls werde ich nicht so schwülstig singen, wenn es so weit ist.«

Den Damen des Generals jedenfalls schien es zu gefallen. Sie zeigten sich und ihre tief ausgeschnittenen Abenddekolletés am Fenster, prosteten den Musikanten mit hohen Gläsern zu und warfen Leutnant Hobock sogar eine Blume aus einer der Vasen des Obersts hinunter, die dieser sich zwischen die Pferdezähne klemmte, als er sich abschließend bodentief verbeugte.

Vor dem Einschlafen grübelte Fenna nach über die längst vergangenen Zeiten, als der Feind noch so eindeutig gewesen war. Der Geisterfürst hatte in den Sonnenfeldern ein Reich des Schreckens errichtet, eine lichtlose Einöde, in der graubrauner Rauch die Atemluft ersetzte. Heute musste man entweder tief in unbekanntes Land hineinmarschieren, um die Gegner überhaupt zu Gesicht zu bekommen, oder man kämpfte gegen Menschen, die vor kurzer Zeit noch königstreu gewesen waren, oder man versuchte vergebens, giftiges Gas aus der Stadt zu fuchteln. Die Zeiten waren schwieriger und komplizierter geworden. Für Heldenlegenden und -gesänge ließ sich kein neuer Stoff mehr finden.

Der Tag des großen Manövers dämmerte in wässrig wirkenden Rottönen.

Leutnant Fenna und Leutnant Gyffs hielten auf dem beinahe menschenleeren Hof Morgenappell. Beide schritten sie die Reihe ihrer vierzehn Grünhörner ab. Den frischgebackenen Soldaten war inzwischen beigebracht worden, sich in einer Reihe in alphabetischer Ordnung aufzustellen, dabei Haltung zu bewahren und Kleidung sowie Bewaffnung in einwandfreiem Zustand zu präsentieren.

Einiges hatte sich an den Männern verändert in den 47 Tagen seit der Vereidigung.

Alman Behnk war deutlich schlanker geworden. Mindestens zehn Festliter hatte er in den vergangenen anderthalb Monden eingebüßt, und das, obwohl ihm die Messenverköstigung mit ein wenig Nachwürzen immer wieder zu schmecken schien. Der Gewichtsverlust stand ihm im wahrsten Sinne des Wortes gut zu Gesicht, denn sein Gesicht schwabbelte nun nicht mehr bei jeder Bewegung, sondern gewann zusehends an Festigkeit. Auch Behnks Blick strahlte angesichts der bevorstehenden Prüfung heitere Zuversicht aus.

Nilocas Deleven war ernst und konzentriert wie immer. Mit seinen kurzen Flechtzöpfen sah er ein wenig seltsam aus, wie ein domestiziertes Wildniswesen, aber er vibrierte regelrecht vor Erwartung. Heute war der Tag, an dem die neu formierte Dritte Kompanie sich erstmals zu beweisen hatte.

Ildeon Ekhanners Lippen bewegten sich betend. Er roch nach Angstschweiß – ihm setzte die Prüfung zu.

Mails Emara dagegen erinnerte kaum noch an den rotbackigen Trachtenträger, als der er in Carlyr angekommen war. Er hatte sich von Garsid einen stählernen Blick abgeschaut, der beinahe überzeugend wirkte.

Garsid war die Ruhe selbst. Er hatte Leutnant Gyffs zu akzeptieren gelernt, wenngleich er auf Kommandos von Leutnant Fenna immer noch schneller reagierte. Heute würde ihm eine zentrale Rolle zufallen; er wusste das, und es gefiel ihm.

Jovid Jonis sah mit seinen kürzer geschnittenen Locken immerhin nicht mehr aus wie ein Dreizehnjähriger, sondern man konnte ihn jetzt durchaus schon für fünfzehn oder sechzehn halten. Das war immer noch nicht erwachsen genug, aber wenigstens ein Schritt in die richtige Richtung.

»Scheusal« Jeo Kertz hatte keine fettigen Haarfransen mehr, putzte zweimal am Tag seine dicken Augengläser und war in eine Zimmergemeinschaft integriert, ohne dass dies zu andauernden Reibereien führte. Aber er war immer noch hässlich wie die Nacht, und sein siegessicheres Grinsen, das er jetzt aufsetzte, entblößte dermaßen viele schiefe und sich gegenseitig im Wege stehende Zähne, dass die beiden Leutnants schnell weitergingen.

Ellister Gilker Kindem ragte weiterhin wie ein nicht eingeschlagener Nagel aus der Reihe der Dritten heraus, aber was seine Leistungen anging, fügte er sich harmonisch ins Gesamtbild und war das Musterbeispiel eines nicht außergewöhnlichen, aber soliden Soldaten.

Sensa MerDilli sprengte mit seinen Muskeln beinahe seine Uniform. Die täglichen Übungen schienen ihn immer kräftiger und ausladender werden zu lassen. Leutnant Gyffs gab sich besonders viel Mühe damit, diese Kraft in sinnvolle Bahnen zu lenken und bestand immer darauf, dass MerDilli sich auch im Bogenschießen übte. MerDilli grinste. Er schien den heutigen Kampf gegen Gollbergs hochnäsige Reiter kaum erwarten zu können.

Tadao Nelats Gesicht zeigte allererste Anzeichen von Mannhaftigkeit. In das zart modellierte Mädchenantlitz hatten sich zwei von den Nasenflügeln aus abwärts führende Fältchen gegraben, aufgrund derer man Nelat nun tatsächlich beinahe für einen Jungen halten konnte. Auch ein Schritt in die richtige Richtung, wie Fenna fand.

Gerris Resea war sein übliches unausstehliches Selbst. Mit Leutnant Gyffs schien er sich ein wenig leichter zu tun als mit Fenna, aber der unterschwellige Hass, der zwischen ihm und Fenna schwelte, war in den letzten Wochen wieder beständig größer und tiefer geworden und benötigte nun einen weiteren Ausbruch, um sich anschließend wieder ganz von vorne neu aufbauen zu können. Der heutige Tag des Manövers, das wussten beide, war ein willkommener Anlass für einen solchen reinigenden Ausbruch.

Bujo Stodaerts Zackigkeit hatte in den letzten Wochen schleichend nachgelassen. Dies war schlicht und einfach auf körperliche Erschöpfung zurückzuführen. Noch immer stand er strammer als alle anderen, aber inzwischen atmete er dabei und versuchte nicht mehr, sandstrichelang Bauch und Zwerchfell einzuziehen.

Breff Adirony Teppel war ebenfalls müde. Er war der Einzige von allen, bei dem sowohl Fenna als auch Gyffs das Gefühl nicht loswurden, dass die Übungen ihm zwar zuerst genutzt hatten, ihn nun aber in ihrer unaufhörlichen Menge langsam aushöhlten. 54 Jahre war ein Alter, in dem andere sich schon zur Ruhe setzten, während Teppel sich einem täglichen Drill unterzog, der für Männer, die seine Söhne hätten sein können, schon nicht einfach zu bewältigen war. Teppel war ein echter Ausmusterungskandidat. Aber Fenna hatte zu Gyffs gesagt: »Warte ab, beim Manöver zeigt Teppel vielleicht etwas, das die meisten anderen noch vermissen lassen: Übersicht, Erfahrung und das Fehlen jeglicher Selbstüberschätzung.«

Der Letzte in der Reihe war Fergran von den Holtzenauen. Auch er sah mit kurzen Haaren weniger nachlässig und reifer aus. Bei den Waffenübungen war er immer noch zu zurückhaltend und furchtsam, aber heute, beim waffenlosen Die Flagge erobern, würde er seinen Mann stehen, da waren Fenna und Gyffs sich einig.

»Männer der Dritten Kompanie«, begann Fenna seine Motivationsansprache, »heute ist der bislang wichtigste Tag in eurer militärischen Laufbahn. Jeder kann vereidigt werden. Jeder kann unterrichtet werden. Jeder kann beim Unterrichtetwerden Fortschritte machen. Aber nicht jeder kann gegen die Schmuckstücke der Festung Carlyr, gegen Hauptmann Gollbergs Kavalleristen der Ersten Kompanie im Manövergefecht bestehen. Heute wird sich zeigen, aus welchem Holz ihr geschnitzt seid. Seid ihr morsch? Oder fest und gleichzeitig elastisch? Wir werden es sehen. Aber ich verrate euch, was Oberst Jenko zu mir sagte, als ich hier ankam und mich ihm vorstellte. Er sagte, er bräuchte eine Dritte Kompanie für das Manöver, und erwarte nichts weiter von uns, als dass wir uns gegen Gollbergs Erste ganz achtbar schlagen. Ganz achtbar schlagen, Soldaten! Er glaubt nicht daran, dass wir eine Chance haben. Ich aber glaube daran. Ich habe gegen Hauptmann Gollberg auf euch gewettet. Also, entweder bin ich verrückt, weil ich so fest an euch glaube, oder aber alle anderen in der Festung – mit Ausnahme von Leutnant Gyffs – unterschätzen euch. Entweder muss ich bestraft werden oder alle anderen. Wir werden sehen. Ihr habt es heute in der Hand.«

Leutnant Gyffs trat vor. »Es gibt nicht mehr viel zu sagen. Ihr habt alles gelernt, was ihr zum Siegen braucht. Wir haben Spielzüge einstudiert, die der Ersten die Hosen runterziehen werden. Sie dagegen haben überhaupt nicht geübt und sind andauernd nur ausgeritten. Ihr seid im Vorteil, denn ihr werdet unterschätzt. Ihr könnt es schaffen, also – erobert die Flagge

Die Männer jubelten laut. Damit begann auch für die übrige Festung der lang erwartete Tag des Manövers.