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Kapitel

Der 20. Sonnenmond brachte die Ankunft von Leutnant Loa Gyffs.

Leutnant Fenna übte gerade mit seinen Männern, wie man einen Gegner am Schild packen und dadurch vollkommen aus dem Gleichgewicht reißen kann, als die Südtore geöffnet wurden und eine staubige Offizierin auf einem schweißnassen Postreiterpferd hindurchgesprescht kam. Sie ließ das Pferd in der Mitte des Hofes steigen, sprang dann gelenkig aus dem Sattel und betrat, ohne sich vorher umzusehen, das Gebäude der F & L.

Fenna vermerkte dreierlei. Die Neue konnte reiten. Sie schien sich in der Festung Carlyr besser auszukennen als er zu Anfang. Und sie war dermaßen auf ihr nächstgelegenes Ziel fokussiert, dass sie die Ereignisse links und rechts keines Blickes würdigte, was ein typischer Fehler von unerfahrenen Akademieabsolventen war. Und selbstverständlich war sie zehn Jahre jünger als er. Sechs Jahre Akademie, mit sechzehn als Kadett begonnen, dann Korporal, mit 22 das Leutnantspatent. Sie war zierlich wie Hauptmann Gollberg, aber höchstwahrscheinlich ebenso schwer zu zerbrechen.

Es entging seinen Männern nicht, dass Fenna in der folgenden halben Stunde mindestens zehnmal zu Oberst Jenkos Büro hinaufschaute, als ließe sich an der Form der Fensterläden ablesen, was sich im Inneren des Zimmers abspielte. Für einen Sandstrich tauchte der weibliche Leutnant oben am Fenster auf und schaute auf Fenna und seine Truppe hinunter.

Eine halbe Stunde war eine lange Zeit, um ein paar Formalitäten zu klären. Nach Ablauf der halben Stunde holte die Ordonnanz Sowis noch den Schreiber Lement aus seiner Stube. Ein rascher Blick zum Gefängnis hinüber bestätigte Fenna, dass Gerris Resea den Braten ebenfalls roch, denn der stand am Zellenfenster und hatte die Arme kunstvoll in den Gitterstäben verschränkt.

Es dauerte noch mal zehn Sandstriche, dann holte Sowis auch Leutnant Fenna ins Büro des Obersts. Fenna überlegte kurz, zum Spaß das Kommando über seine Kompanie diesmal nicht Deleven, sondern Garsid zu übertragen, aber wenn ausgerechnet jetzt etwas schieflief und Tumult entstand, würde das den ersten Eindruck verderben. Deleven war der Verlässlichere.

Fenna folgte Sowis. Er war bereits verschwitzt und verdreckt von den Schild- und Schleuderübungen. Der weibliche Leutnant allerdings ebenfalls vom Ritt.

Im Büro lächelten Oberst Jenko und Lement ihn an. Leutnant Loa Gyffs wandte ihm den Rücken zu, weil sie in Habtachtstellung vor dem Oberst stand.

Oberst Jenko übernahm die Vorstellung. »Leutnant Fenna, darf ich Ihnen bekanntmachen: Leutnant Loa Gyffs aus Uderun. Leutnant Gyffs, das ist Leutnant Eremith Fenna aus Chlayst, der bislang ganz tadellose Arbeit an der Dritten geleistet hat.«

Gyffs wandte sich Fenna zu, lächelte schmallippig und reichte ihm die Hand. Fenna ergriff und schüttelte sie. »Freut mich sehr, Leutnant Fenna.« Fenna staunte über ihre Frisur: Jetzt, wo sie keinen Helm mehr trug, sah es immer noch aus, als trüge sie einen. Ihre Haare waren dunkelblond und glatt und lagen wie modelliert am Gesicht an. Ihr Gesicht war streng und ungewöhnlich, aber nicht reizlos.

»Leutnant Gyffs macht sich gerade mit Lements Namenslisten vertraut und hat noch ein paar Fragen.« Oberst Jenko gluckste vor Vergnügen.

»Nur zu«, sagte Fenna knapp.

»Einer unserer Leute ist im Gefängnis?«, fragte Gyffs.

»Ja. Gerris Resea. Wegen andauernder Unverschämtheiten. Ich lasse ihn heute oder morgen wieder raus.«

»Ihr selbst wart auch bereits in Stubenarrest?«

»Für 24 Stunden, ja.«

»Innerhalb von nicht einmal zehn Tagen? Dazu noch ein Rekrut mit Kopfverletzungen auf der Verwundetenstation? Ein weiterer Soldat, der genäht werden musste? Mehrere Reibereien mit dem unmittelbaren Vorgesetzten?«

»Das ist das Negative, ja«, sagte Fenna lächelnd.

»Und was gibt es an Positivem vorzuweisen?«, fragte Leutnant Gyffs scharf.

»Nun – dass es noch keinen Toten gegeben hat. Und dass Ihr jetzt da seid, Leutnant Gyffs«, antwortete Fenna immer noch lächelnd. »Darf ich auch eine Frage stellen?«

»Aber selbstverständlich«, antwortete Gyffs, während Oberst Jenko eifrig »Aber klar doch!« sagte.

»Wie viele Soldaten habt Ihr schon ausgebildet?«

»Sicherlich nicht so viele wie Ihr, aber ich war auf der Akademie Mitglied eines Rekrutenbegleitungskurses und habe in dieser Funktion die Ausbildung dreier Rekruten getutort.«

»Drei? Na immerhin! Ich mache das seit fünf Jahren und habe etwa fünf pro Jahr ausgebildet. Das gibt mir auch keine Erfahrung mit größeren Gruppen, aber es gibt mir dennoch Erfahrung. Und ich kann Euch versichern, Leutnant Gyffs: Verletzungen und Maßregelungen gehören so sicher dazu wie das Glockengeläut zu einer Tempelandacht.«

»Verletzungen, Maßregelungen und Morgenappelle«, entgegnete Gyffs mit hochgezogenen Augenbrauen. Oberst Jenko gluckste wieder.

»Morgenappelle?«

»Ja, Morgenappelle. Ich habe mich sowohl beim Oberst als auch beim Schreiber Lement erkundigt: Ihr habt mit Eurer Kompanie noch nicht einen einzigen anständigen Morgenappell abgehalten.«

»Und wozu soll das gut sein?«

»Wozu das gut sein soll? So beginnt der Tag eines Soldaten! Ohne Morgenappell ist man kein Armeeangehöriger, sondern nur ein verkleideter Privatier, der zum Vergnügen eine kostenlose Kampfausbildung verabreicht bekommt. Ich bin ja beruhigt, dass Ihr wenigstens das Vereidigen nicht für sinnlos erachtet.«

»Nun, angesichts der angespannten Situation mit den Affenmenschen hielt ich es für klüger, meinen Männern zuerst das Kämpfen beizubringen. Ich glaube nämlich nicht, dass die Affenmenschen sich von einem Morgenappell werden beeindrucken lassen.«

»Womit wir beim Thema wären: Ihr übt mit unseren Männern Schildentwendungstechniken. Aber ich frage mich: Tragen die Affenmenschen überhaupt Schilde?«

»Wahrscheinlich nicht. Aber das hindert sie ja nicht daran, sich an unseren Schilden festzukrallen und daran herumzuzerren. Darauf bereite ich die Männer vor. Dass sie wissen, wie sich alles anfühlt, sowohl, wenn man es macht, als auch, wenn es mit einem gemacht wird.«

»Na ja, ich denke, eine zweckdienlichere Ausbildung wäre besser. Die Männer brauchen keine Schilde, die sie bei diesen Temperaturen ohnehin nur belasten und behindern. Sie brauchen Fernwaffen, denn so etwas haben die Affenmenschen mit Sicherheit nicht.«

»Doch, haben sie, da muss ich den armen Leutnant Fenna nun in Schutz nehmen«, mischte Oberst Jenko sich jovial ein. »Die Affenmenschen haben Steinschleudern und Speere. Und gegen beides kann ein Schild ausgesprochen zweckdienlich sein.«

Der junge Leutnant Gyffs sah sich plötzlich zwischen zwei Fronten. Jetzt musste sie ihren Mann stehen. Sie ließ sich nicht einschüchtern. »Steinschleudern und Speere sind Wurfwaffen, keine Schusswaffen, mit Verlaub, Herr Oberst. Selbstverständlich können die Affenmenschen auch Felsbrocken oder Knochen oder Kacke werfen. Aber davon spreche ich nicht. Ich spreche von echten Fernwaffen – Langbögen oder Armbrusten –, mit denen man jeden eine Steinschleuder hebenden Affenmenschen ausknipsen kann, noch bevor jener die zweite Umdrehung vollendet hat.«

»Armbrüste sind ausgesprochen kostspielig«, grinste Oberst Jenko. Fenna fragte sich, ob der Oberst zum Spaß die Wortform »Armbrüste« benutzte. »Wir haben leider nur vier davon, für die Bemannung der Wehrtürme.«

»Dann also Langbögen«, ließ Leutnant Gyffs nicht locker.

»Nur zwei Mann aus der Kompanie können bislang mit Bögen umgehen«, gab Fenna Auskunft. »Aber die Tatsache, dass ich mich danach bereits erkundigt habe, beweist, dass ich eine Fernwaffenausbildung ebenfalls im Sinn hatte.«

»Nachdem Ihr die Männer zu Meistern des Schildabreißens gemacht habt. Ich denke, Leutnant Fenna, wenn wir einfach die Prioritäten ein wenig verschieben, werden wir ganz ausgezeichnet zusammenarbeiten können.«

»Tadellos!«, rief Oberst Jenko begeistert. »Was für eine versöhnliche Volte! Ich sehe, meine Kinder, Ihr habt begriffen, worauf es mir ankommt. Ich will keine Nickligkeiten, weil der eine ein Mann ist und die andere eine Frau. So etwas ist in der königlichen Armee schon seit vier Jahren kein Thema mehr. Und ich will auch keine Reibereien aufgrund des Altersunterschieds, der Herkunft, der Erfahrung, der Hautfarbe, der Haarfarbe, unglücklicher Kindheiten und ähnlichem Krempel. Jeder bekommt seinen eigenen Fressnapf. Für alles ist gesorgt. Aber das Zimmer und die Kompanie teilt Ihr Euch gefälligst wie Brüderchen und Schwesterchen, dass das klar ist.«

»Jawohl, Herr Oberst!«, sagte Leutnant Gyffs, und Leutnant Fenna – etwas davon abweichend – gleichzeitig: »Jawohl, Oberst Jenko!« Gyffs warf ihm anschließend einen strafenden Blick zu.

»Ansonsten, meine Leutnants: weitermachen, weitermachen! Die Sache mit dem Manöver habe ich Leutnant Gyffs noch nicht erläutert, das bekommt Ihr schon hin, Leutnant Fenna. Weitermachen!«

Fenna und Gyffs salutierten. Fenna ging schlendernd ab, Gyffs drehte sich auf den Absätzen herum und verließ den Raum beinahe im Stechschritt.

»Wollt Ihr Euch erst ausruhen und frisch machen oder sofort zu den Männern?«, fragte Fenna auf der Treppe nach unten.

»Ich denke, ich bin nicht weniger frisch als Ihr. Sofort zu den Männern.«

»Das sollte keine Anspielung sein. Ich wollte Euch lediglich Gelegenheit geben …«

»Ihr wolltet galant sein. Das ist aber nicht nötig. Hattet Ihr schon einmal einen gleichrangigen weiblichen Offizier oder sogar eine weibliche Vorgesetzte?«

»In Chlayst gab es zwei weibliche Leutnants. Aber die waren für andere Bereiche zuständig als ich.«

»Also gab es kein Gerangel. Ich verstehe. Wir werden das schon hinbekommen, Leutnant Fenna. Übrigens: Eremit – ein ungewöhnlicher Vorname. So, als wenn man seinen Sohn Priester nennen würde.«

»Mein Vorname schreibt sich mit th hinten, genau wie Labyrinth

»Beeindruckend.«

Sie überquerten den Hof. Gyffs ging jetzt nicht mehr im Stechschritt, aber sie schaffte es dennoch, mit Fenna annähernd Gleichschritt zu halten, obwohl sie beinahe einen ganzen Kopf kleiner war.

Fenna stellte die Offizierin seiner Truppe vor. »Soldaten! Ach-tung! Augen zu mir. Und still-ge-standen! Dies ist Leutnant Loa Gyffs. Sie wird sich von jetzt an das Kommando über unsere Kompanie mit mir teilen. Mit zwei Leutnants, einer Spitze, die sich auch bei der Zweiten Kompanie bereits bewährt hat, soll sichergestellt werden, dass ihr alle so schnell wie möglich zu einsatzfähigen Soldaten werdet.«

»Zu Soldaten der Königin«, ergänzte Leutnant Gyffs. »Soldaten, die nicht nur auf irgendeinem Grenzposten ihren Dienst schieben, sondern die Farben der Königin vertreten angesichts des brodelnden Chaos, das jenseits des Nordtores lauert. Leutnant … äh … Fenna, hat, denke ich, bislang seine Sache recht ordentlich gemacht. Aber von jetzt an wollen wir nicht nur ans Raufen und Prügeln denken, sondern auch an Anstand, Sauberkeit und Disziplin. Ich sehe in diesem Moment zwölf von dreizehn Soldaten, die nachlässig gekleidet sind. Dieser Mann hier trägt als Einziger die Uniform vorschriftsmäßig geknöpft und geschnürt. Name, Soldat?«

»Bujo Stodaert, Leutnant«, warf sich Stodaert in die Brust.

»Bravo, Soldat Stodaert. Weiter so. Ihr anderen könnt euch an ihm als praktischem Beispiel schulen, wie man es richtig macht. Des Weiteren sehe ich Haarschnitte, die für die königliche Armee einfach eine Schande sind. Wir sind hier doch nicht in den Klippenwäldern! Name, Soldat?«

»Garsid, Leutnant«, knurrte dieser.

»Glatze ist lustig, wenngleich ein wenig übereifrig. Wächst bei dir nichts mehr?«

»Doch. Ich rasiere mir die Glatze, Leutnant.«

»Dann ist jetzt Schluss damit. Die vorschriftsmäßige Frisur für einen einfachen Rekruten ist kurz, nicht kahl. Morgen früh zum Morgenappell erwarte ich vierzehnmal kurz. Kurz ist ein dehnbarer Begriff, meine Herren. Ich erwarte also nicht von unseren werten Klippenwäldern, sich die als Zeichen der Herkunftsehre wohl unabdingbaren Zöpfchen ganz abzunehmen. Aber bis auf die Länge eines kleinen Fingers bitte schön doch. Habt ihr das verstanden, meine Herren?«

Deleven sagte: »Jawohl, Leutnant!«, Kindem nickte finster.

»Nicken gibt es nicht in der Armee, Soldat. Name?«

»Ellister Gilker Kindem.«

»Ellister Gilker Kindem was

»Ellister Gilker Kindem, Klippenwälder.«

»Bei den Göttern, Leutnant Fenna, da sind ja noch nicht einmal die Grundlagen vorhanden! Ein Offizier wird mit seinem Rang angesprochen oder gar nicht, Soldat Kindem! Also wie lautet die Meldung?«

Kindem warf Fenna einen Hilfe suchenden Blick zu. Der soufflierte stumm, aber mit überdeutlichen Lippenbewegungen: »Ellister Gilker Kindem, Leutnant

»Ähh, Ellister Gilker Kindem, Lanzenmann. Aber ich bin eigentlich Schwertmann!«

Gyffs ließ kurz die Schultern sinken. »Bekommt Ihr das bis morgen früh in den Griff, Leutnant Fenna?«

»Das wird kein Problem, Leutnant Gyffs.«

»Also schön«, seufzte sie. »Da fehlt übrigens einer. Könnt Ihr den bitte aus dem Gefängnis holen?«

»Seine 24 Stunden sind noch nicht um.«

»Macht nichts. Betrachtet es als Amnestie angesichts seines neuen Vorgesetzten. Jeder soll bei mir unter denselben Bedingungen anfangen dürfen.«

Es widerstrebte Fenna, seinen eigenen Anordnungen zuwiderzuhandeln, aber was sollte es? Das Argument mit der Amnestie war ziemlich gut. Er ging Resea freilassen. Leutnant Gyffs knöpfte sich unterdessen jedes Grünhorn einzeln vor. Um sie kennenzulernen. Und um dafür zu sorgen, dass sie sie kennenlernten.

Fenna betrat das Gefängnis zum ersten Mal. Es hatte nur drei kleine Zellen und wirkte so mürbe wie aus Zwieback zusammengefügt. Fenna fragte sich, ob dieses Gebäude jemanden festhalten konnte, der aus anderen Gründen als einer lediglich disziplinarisch-symbolischen Strafe hier untergebracht war.

Resea kam vom Fenster, von dem aus er alles, was auf dem Hof vor sich ging, beobachten konnte, zur Gittertür vor. »Wer ist diese zarte Person?«

»Leutnant Loa Gyffs aus Uderun. Bei ihr kannst du dich dafür bedanken, dass du jetzt schon freikommst.«

Resea verzog das Gesicht, während Fenna den Schlüssel vom Haken nahm und ihm aufschloss. Es gab überhaupt keinen Wachtposten hier drinnen, aber jemand stellte den Gefangenen wohl Wasser, Brot und sogar ein paar Weintrauben hin. »Die Gerüchteküche arbeitet ziemlich zäh in Carlyr, aber ist es wahr, dass Ihr Gollberg ein Duell angeboten habt?«

»Ja.«

»Und was ist dabei herausgekommen?«

»Duelle unter Soldaten sind in Carlyr verboten.«

»Das finde ich ausgesprochen bedauerlich.«

»Ach? Du möchtest dich gerne mit mir duellieren, Resea, nur weil ich dich aufgrund deiner pausenlosen Unverschämtheiten eine Nacht ins Gefängnis gesteckt habe?«

»Nicht nur. Ich würde mich gerne mit Euch duellieren, um Euch ein paar Dinge beizubringen. Ich finde es nämlich nicht nur falsch, sondern geradezu unerträglich, dass Ihr ein Leutnant seid und ich gehorchen muss und nicht umgekehrt.«

Fenna musste grinsen. »Um ein Offizier zu werden, muss man sich auch in Demut üben. Dafür fehlt dir, scheint mir, jegliches Talent. Also wirst du wahrscheinlich niemals ein Leutnant werden, finde dich schon mal damit ab. Aber weißt du was? Die Idee mit dem Duell finde ich gar nicht so schlecht. Auch ich finde vieles in Carlyr ausgesprochen gewöhnungsbedürftig, wenn nicht sogar ärgerlich, und das schlägt mir auf den Magen, und das ist ja nicht gesund. Also warum sollst du nicht derjenige sein, an dem ich mich abreagieren kann? Wie wäre es mit morgen in der Dunkelheit, eine Stunde vor Mitternacht, im Waschbottichhaus? Ohne Waffen. Wir wollen keinen Toten. Wir wollen nur eine Frage klären, unter Männern.«

»Klingt gut.«

»Und wenn du verlierst, akzeptierst du endlich meine Führung.«

»Das kann nicht passieren. Ich kann nicht verlieren.« Resea ging an Fenna vorbei nach draußen, während Fenna noch die Tür wieder abschließen und den Schlüssel zurückhängen musste.

Draußen war immer noch Leutnant Gyffs damit beschäftigt, sich die einzelnen Grünhörner vorzuknöpfen. Sie war jetzt bei »Scheusal« Kertz angekommen und der Tatsache, dass seine Sehgläser dermaßen schmutzig, verschmiert und fettig waren, dass man kaum was dadurch erkennen konnte.

Als sich Resea bei den Männern eingliederte, ließ sie von Kertz ab und wandte sich gleich dem Neuankömmling zu: »Und du bist ein Unruhestifter, ja? Du atmest vorzugsweise durch Gitter in Scheiben geschnittene Luft?«

»Nein, Leutnant.«

»Nein, Leutnant? Weshalb warst du dann im Gefängnis?«

»Auf diese Frage möchte ich nicht antworten, Leutnant, weil ihre wahrheitsgemäße Beantwortung mich nur wieder ins Gefängnis bringt.«

»Aber nicht doch. Für die Wahrheit wird hier doch niemand bestraft. Also, weshalb warst du im Gefängnis?«

»Weil Leutnant Fenna ein Schlappschwanz ist, der seine Befehlsgewalt ausspielen muss, um sich Respekt zu verschaffen.«

»Leutnant Fenna, hat der Soldat Resea recht?«

»Aber nicht im Mindesten.«

»Nicht im Mindesten. Dann steht hier ja wohl Aussage gegen Aussage. Und bei derartigen Konfrontationen zwischen Verschiedenrangigen hat der Höherrangige recht. So ist das, anders kann die Armee nicht funktionieren. Siehst du das ein, Soldat Resea?«

Resea blinzelte irritiert. »Ich … denke schon, Leutnant.«

»Er denkt. Na, dann gibt es doch noch Hoffnung. Bei mir beginnen alle von jetzt an noch einmal mit einem unbeschriebenen Blatt. Wir erlernen heute die Grundlagen der militärischen Etikette, und ab morgen beginnen wir mit der neuesten Entwicklung uderunischer Armeeausbildungskunst: Körperertüchtigungsübungen, die von Tag zu Tag merklich die Leistungsfähigkeit steigern. Darüber hinaus wird Leutnant Fenna seine Waffenausbildung wie gehabt fortsetzen. Und Soldat Resea: Auch du findest dich morgen beim Festungsbarbier ein und lässt dir die Matte abnehmen. Wir sind hier nicht auf einem Geckenball mit Tanz und Sahnetorte. Dies ist die Armee, und wichtiger noch: Dies ist die Festung Carlyr. Und jetzt: Augen rechts! Rechtsum! Marrrrrrsch! Im Gleichschritt! Gleichschritt bedeutet: mit Taktgefühl, verflucht noch eins. Links-zwo-drei-vier. Nein: Links-zwo-drei-vier-links-zwo-drei-vier. Geht denn hier gar nichts, Leutnant Fenna, was habt Ihr in den vergangenen zehn Tagen denn bloß getrieben?«

Der Rest dieses Tages verging mit Exerzieren.

Unter dem Gelächter etlicher Schaulustiger der Ersten und Zweiten Kompanien scheuchte Leutnant Gyffs die Dritte kreuz und quer über den Innenhof. Es hagelte »Rechtsums« und »Linksums«, es wurde marschiert mit Händen an der Hosennaht und mit schwingenden Armen, sodass die vierzehn Mann wie eine Gruppe seltsamer Weizenschnitter daherkamen. Sie übten Grüßen und Waffepräsentieren. Waffereinigen und Waffenscheide in Ordnung halten. Sie liefen im Gleichschritt in Reihe, in Zweierreihen, als 14er-Front, auf der Stelle, versetzt durcheinander und wieder zurück. Sie stießen dabei immer wieder gegeneinander, brachten alles in Unordnung und wirkten wie Komödianten in geborgten Uniformen.

Fenna ärgerte sich darüber, dass dieser Blödsinn seine Truppe lächerlicher aussehen ließ als an sämtlichen Tagen zuvor. Durch seine teilweise spektakulären Wurf- und Kampfübungen hatte es Fenna immer geschafft, den Spott der erfahreneren Kompanien im Keim zu ersticken. Aber nun, als die Grünhörner mit ihren unterschiedlichen Körperumrissen wie Hampelmänner herumwackelten und dabei immer wieder aus dem Takt kamen, würden sie noch tage-, wenn nicht wochenlang als Material für Mannschaftsmessenwitze herhalten müssen.

»Die Truppe ist grauenvoll, einfach grauenvoll«, sagte Leutnant Gyffs einmal seitlich zu Leutnant Fenna.

»Sie sind grauenvoll in der Dressur, mag sein«, brummte dieser zurück. »Aber ich beabsichtige, sie glänzen zu lassen im Manöver und im Feld.«

Am Abend waren alle erledigt, und Gyffs schickte die wackligen Gestalten im Gleichschritt zum Waschen und dann zum Festungsbarbier. Wie sich herausstellte, wurde auch diese Aufgabe von Jianna Klejahn erledigt. Sie war nicht nur Schneider- sondern auch Schnittmeisterin und besaß alle möglichen Arten von Scheren.

Fenna und Gyffs nahmen noch eine wortkarge Mahlzeit in der Offiziersmesse ein, und dann bezogen sie beide ihr Zimmer. Sie spannten ein hohes Seil und hängten mehrere bereitgelegte Decken darüber, sodass der Raum in der Mitte blickdicht in zwei Hälften getrennt war. Leutnant Gyffs hatte nur unwesentlich mehr Gepäck mitgebracht als Fenna: eine zweite, saubere Uniform, ein wenig Unterwäsche und Strümpfe, vier Bücher, Schreibzeug und ein paar persönliche Requisiten wie Kamm und Seife. Da er ihr beim Einräumen behilflich war, konnte Fenna einen Blick auf die Buchrücken erhaschen. General Urcharin Zoydenak – Soldat und Mann, Zerfetzte Flaggen, Betrachtung der Soldatenseele. Und Am Hofe einer jungen Dame – Intime Anmerkungen zum ersten Jahr der Königin Thada. Als Loa Gyffs bemerkte, dass er in letzterem Buch zu blättern begann, nahm sie ihm alle Bücher mit gerunzelter Stirn aus den Händen und verstaute sie unten in ihrem Schrank.

Anschließend verteilten sie die Gegenstände, die nur einmal vorhanden waren. Das Schreibpult bekam Gyffs, da sie angab, oftmals Briefe zu verfassen. Die Kommode mit der Waschschüssel behielt Fenna, wenngleich Gyffs sich eine eigene Waschschüssel besorgte. Das Gemälde bekam Gyffs in ihre Hälfte. Den Schemel bekam Fenna. Die Vase auf dem Beistelltischchen wollte Fenna unbedingt an Gyffs abtreten, aber sie sagte, er könne das gerne behalten. Dafür griff sie sich den Garderobenständer zum Aufhängen ihrer Wäsche. Gütlich in der Mitte geteilt wurden sowohl das Fenster als auch die Tür. »Und das Fenster bleibt bitte immer offen«, stellte Gyffs klar. »Und zwar nicht nur im Sommer!«

Völlig unbegreiflich fand es Gyffs, dass »keinerlei Kerzen und Zündmittel« vorhanden waren, damit man abends noch ein wenig »lesen und sich fortbilden« konnte. »Habt Ihr das denn gar nicht vermisst, Leutnant Fenna?« Unverzüglich stiefelte sie los und besorgte zwei Kerzen samt zwei Kerzenständern und zwei Zündkästchen vom Zeugmeister. »Diese Zündkästchen, so praktisch sie auch erscheinen mögen«, erläuterte sie, während sie die zwei Kerzen in den zwei Hälften des Raumes verteilte, »sind inzwischen schon überholt. In Uderun benutzt man beim Militär jetzt Zündhölzchen. Brandneue Entwicklung, von einer königlichen Fabrikation namens Batis. Die sind viel kleiner, nehmen weniger Platz weg im Marschgepäck und funktionieren ausgezeichnet.« Mit einem Seufzen streckte sie sich auf ihrem Bett aus. Fenna tat es, durch die Decken abgetrennt, ihr nach.

»Wart Ihr schon einmal in der Festung Carlyr?«, fragte er liegend.

»Ja. Vor zwei Jahren, auf Garnisonsbesichtigungsrundreise. Wir haben sämtliche königlichen Befestigungen der nördlichen Kontinenthälfte besucht.«

»Dann fiel Chlayst knapp nicht darunter.«

»Nein. Zu weit südlich. Und stimmt es wirklich, Leutnant Fenna, dass in Chlayst alle Soldaten Frisuren tragen können, wie es ihnen passt?«

»Nun ja. Wir hatten in Chlayst in letzter Zeit andere Probleme, als uns um unsere Haare zu sorgen.«

»Das sehe ich ein. Chlayst ist ein offizielles Notstandsgebiet. Aber Ihr seht sicherlich ein, dass die Festung Carlyr keines ist. Noch nicht. Trotz des Feldzuges. Und deshalb können wir hier sehr wohl auf die Formalien der königlichen Armee Wert legen.«

»Wenn es dem Endergebnis nicht schadet.«

»Welchem Endergebnis?«

»Dass wir lebendig sind und unsere Feinde tot.«

Es entstand eine kurze Pause. Dann fragte Gyffs: »Wann hattet Ihr eigentlich vor, mir von dem Manöver zu erzählen, das der Oberst so verschwörerisch andeutete?«

»Wenn es sich anbietet. Zum Beispiel jetzt. Unsere Kompanie soll am 1. Rauchmond gegen die Hälfte von Hauptmann Gollbergs Erster in zwei bis drei Runden Die Flagge erobern antreten. Ein General wird zusehen. Ich habe seinen Namen vergessen.«

»Klaak?«

»Nein. Länger.«

»Feudenstich?«

»Ja, der.«

»Ah ja. Der war auch oft in Uderun zu Gast. Netter alter Mann, etwas exzentrisch vielleicht. Das wird ein Spaß. Hauptmann Gollbergs Leute sind natürlich haushoch überlegen, oder?«

»Haushoch. Aber genau hier liegt der Hund begraben. Sie wissen, dass sie haushoch überlegen sind. Dieses Wissen wird sie schwächen.«

»Habt Ihr schon einen Plan?«

»Noch keinen konkreten. Es sind noch mehr als 40 Tage Zeit. Ich weiß nur eines. Wenn wir Gollbergs stromlinienförmige Leute schlagen wollen, müssen wir die Unterschiedlichkeit unserer Männer zu unserem Vorteil nutzen. Wir sind eben kein Einheitsbrei. Wir sind Individuen. Deshalb fand ich die Idee mit den Einheitsfrisuren auch, ehrlich gesagt, eher unglücklich.«

»Warum habt Ihr dann kein Veto eingelegt?«

»Ich halte nichts davon, dass die beiden kommandierenden Offiziere sich vor ihrer Mannschaft im wahrsten Sinne des Wortes in die Haare geraten.«

»Da habt Ihr recht, Leutnant Fenna. Wir sollten darauf achten, dass wir uns bei Meinungsverschiedenheiten irgendwohin zurückziehen, um die Sache zu klären, und dann wieder einig vor die Mannschaft treten.«

»Ja. Das wäre tatsächlich sinnvoll.«

»Na gut. Dann ist das geklärt. Schnarcht Ihr?«

»Nicht mehr als andere Menschen auch.«

»Na schön. Ich möchte jetzt noch ein wenig lesen. Gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Das Gespräch wurde ersetzt vom Rascheln der Papierseiten. Hinter der Decke glomm dunkelgolden Gyffs’ kleiner Kerzenschein.

Nach beinahe einer vollen Stunde fragte Fenna noch: »Schreibt sich Gyffs eigentlich wie Gift, nur mit S hinten?«

»Nein. Mit einem Y in der Mitte, genau wie Labyrinth