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Kapitel

Mitten in der Nacht weckte ihn Lärm.

Zuerst konnte er sich selbst nicht zuordnen. Das Bett war ihm fremd. Das Zimmer.

Von draußen strömte Pferdeschnauben und Hufgeklapper herein. Eine Männerstimme schrie: »Welcher verfluchte Idiot hat denn hier mitten auf dem Hof Seile gespannt?«

Eremith Fenna war schlagartig hellwach. Er hatte aufgrund der drückenden Hitze nackt geschlafen; jetzt schlüpfte er schnell in seine Uniform und eilte aus dem Quartier. Das Getrappel, Wiehern und Stimmengewirr dauerte an.

Fackeln erleuchteten den Hof. Eine Kompanie aus dreißig berittenen Soldaten war angekommen und gerade im Begriff, ihre Pferde unterzustellen. Die Tiere waren schaumig vor Schweiß. Die Soldaten selbst sahen abgekämpft, aber auch robust aus. Sie schienen alle etwas älter zu sein als die Kompanie von Hobock & Sells oder die meisten von Fennas Rekruten. Fenna zählte fünfzehn Frauen in Gollbergs Erster Kompanie und fünfzehn Männer. Vorbildliche königinnentreue Gleichberechtigung.

»Hauptmann Gollberg?«, fragte Fenna in das Gewimmel aus Menschen und Tieren hinein.

»Ja?« Hinter einem der Pferde kam ein verhältnismäßig kleiner Mann hervor, dessen Gesicht wie aus Granit gemeißelt aussah. Sein Kinn war nach vorne geballt wie eine Faust und wies nicht ein, sondern drei Grübchen auf. Gollberg war ein oder zwei Jahre jünger als Fenna, aber bereits seit zwei Jahren Hauptmann.

»Ich muss mich entschuldigen, Hauptmann: Ich bin derjenige, der für diese Hindernisse verantwortlich ist. Leutnant Eremith Fenna aus Chlayst. Ich habe heute die Aufgabe übernommen, die Dritte Kompanie auszubilden, und habe zu diesem Zweck einen Übungskurs aufstellen lassen.«

»Ah, so ist das.« Gollberg zog sich seine ledernen Reithandschuhe aus. »Ich hatte Euch erst zu Mittelsonne erwartet. Bei so was brechen sich die Pferde ja in der Nacht die Beine. Habt Ihr eine Ahnung, wie viel ein gutes Armeepferd kostet, Leutnant?«

»Ich kann es mir vorstellen.«

»So, das kann er sich vorstellen. Dann wollt Ihr wohl morgen in aller Götterfrühe Eure siebzehn Haufen Unrat auf fünfzehn oder so eindicken, oder?«

»Das ist bereits geschehen. Auf Oberst Jenkos Geheiß habe ich heute drei Mann aussortiert.«

»Wie bitte? Was seid Ihr denn für ein übereifriger Geselle? Hättet Ihr damit nicht warten können, bis ich wieder zurück bin? Ich leite dieses Bataillon, nur zu Eurer Information.«

»Ich weiß, Hauptmann. Aber erstens hatte ich keinerlei Kenntnis darüber, wann Ihr wieder zurück sein werdet, und zweitens sagte mir der Oberst, ich sollte Euch nicht mit jeder Kleinigkeit behelligen. Ich versuche lediglich, die mir gestellten Aufgaben zu erfüllen.«

Gollberg musterte den Neuen. In seinem Kinn mahlte es. »Na schön, na schön, Leutnant, ich will Euch nicht gleich an Eurem ersten Tag allzu sehr ins Gebet nehmen. Wir haben in Carlyr einen etwas anderen Rhythmus als anderswo auf dem Kontinent. Bei uns geht es nicht so sehr darum, schnell, schnell! und zack, zack! zu sein. Bei uns geht es eher darum, dass wir uns im Klaren darüber sind, dass jede einzelne Aktion, die wir einleiten, von gewaltiger Tragweite für den gesamten Kontinent sein kann. Nirgendwo sonst gibt es eine Festung, die ein riesiges, unbekanntes Feindesland überwacht. Nirgendwo sonst gibt es diese Verantwortung. Nirgendwo sonst kann ein einziger Fehler derartig tiefreichende Konsequenzen nach sich ziehen. Deshalb machen wir hier oben einfach keine Fehler. Habt Ihr mich in dieser Hinsicht verstanden, Leutnant, äh …?«

»Fenna. Natürlich.«

»Gut. Leutnant Fenna. Ich denke, wir werden schon miteinander auskommen. Ich werde morgen Eure Truppe noch mal inspizieren und schauen, ob Ihr die richtige Wahl getroffen habt.«

Unwillkürlich runzelte Fenna die Stirn. Was sollte das denn? Wollte der Hauptmann seine Entscheidungen etwa wieder rückgängig machen und dadurch seine Autorität vor den Männern untergraben? »Jawohl, Hauptmann«, sagte er zögernd. »Wir beginnen bei Sonnenaufgang mit der Ausbildung.«

»Na, ich werde etwas später dazustoßen. Schließlich muss ich noch Oberst Jenko Meldung machen. Wir haben wieder Herausragendes entdeckt dort oben.«

»Darf ich neugierig sein, Hauptmann Gollberg?«

Das immerhin war die richtige Taktik. Der Hauptmann begann vor Selbstgefälligkeit im Fackellicht zu glühen. »Es gibt noch Überlebende. Wir finden immer wieder Anzeichen dafür. Stellt Euch vor: Im Regenmond bereits sind die kläglichen Überreste des Feldzuges durch Carlyr durchgekommen, und seitdem wird dieser Feldzug als gewaltige Niederlage verzeichnet. Aber auch heute noch – drei Monde später – können wir Anzeichen dafür finden, dass sich noch einige von uns da oben herumtreiben. Vielleicht muss die Geschichte des Feldzuges neu geschrieben werden. Vielleicht haben wir tatsächlich einen Teil des Affenmenschenlandes erobert.«

»Aber warum kommen die Überlebenden nicht zurück? Der Feldzug ist doch offiziell beendet.«

»Vielleicht wissen sie das nicht. Vielleicht halten sie eine Stellung, treu bis in den Tod. Sechshundert Mann sind zurückgekommen, getürmt, unter der Führung des Schwächlings Gayo. Aber 1400 Mann sollen gefallen sein? Das habe ich nie auch nur einen einzigen Augenblick lang geglaubt. Das ist nichts als Propaganda derjenigen, die von Anfang an gegen diesen Feldzug votiert haben. Ich sage Euch, Leutnant Fenna, da oben sind noch zweihundert, dreihundert unserer Jungs und Mädchen und machen den Affen den Sieg streitig.«

»Und was sind das für Anzeichen, die Ihr dort findet?«

»Tote Affenmenschen. Lagerfeuer mit frischem Menschenkot. Eine Schrift, in den Boden gekratzt: Den Toten keine Ruhe. Wir haben auch schon einen Menschen gesehen, aber er ist vor uns geflohen. Der Ärmste hat womöglich die Orientierung verloren oder den Verstand. Oder unsere Pferde haben ihn erschreckt.«

»Das ist ja alles kaum zu glauben. In Chlayst weiß man davon gar nichts.«

»Weil wir bisher keine Beweise vorlegen konnten. Obwohl ich den vornehmen Herren in Aldava liebend gerne frischen Menschenkot auf den Tisch schmeißen würde. Aber wir werden unseren Beweis bald haben. Deshalb setze ich meine Leute Tag und Nacht den Gefahren dieses Landes aus. Wir werden die Überlebenden aufspüren und die Geschichte dieses Feldzuges neu schreiben. Und jetzt entschuldigt mich bitte, Leutnant. Ich bin drei Tage und drei Nächte durch gelbes Gas geritten. Jemand aus Chlayst müsste eigentlich nachempfinden können, wie ermüdend das ist.«

»Selbstverständlich, Hauptmann.« Fenna salutierte, und Gollberg erwiderte den Gruß mit der Lässigkeit des Vorgesetzten. Dann kehrte Fenna in seine Unterkunft zurück. Die Unruhe im Hof dauerte noch an. Irgendwann kam Hauptmann Gollberg dann ins Offiziersquartier gestapft und bezog sein Zimmer auf der anderen Seite des Ganges.

Stille. Endlich Stille.

Über der Festung schrien Käuzchen.

Fennas Gedanken rasten noch und gingen in unruhige Träume über.

Er sah die Überlebenden vor sich, langhaarig, fransig und bärtig wie Affenmenschen. Verbarrikadiert in den Trümmern einer gescheiterten Eroberung hielten sie durch gegen schemenhafte Gegner. Die Luft war giftig wie in Chlayst.

Einer der Überlebenden sah aus wie »Scheusal« Jeo Kertz. Ein anderer war Gerris Resea.

Nirgendwo gab es mehr Kinder.