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Kapitel

Mit den zielgerichteten Übungen zum Gewinnen des Manövers begannen die beiden Leutnants Fenna und Gyffs am 14. Feuermond.

Vorausgegangen war am Abend zuvor ein Gespräch auf ihrem Zimmer.

»Ich weiß jetzt, wie wir Gollbergs Erste Kompanie fertigmachen können«, hatte Fenna zu Gyffs gesagt. Beide hatten in der Offiziersmesse noch etwas getrunken – Gyffs maßvoll, Fenna ein wenig über den Durst – und hatten sich dann auf ihr Zimmer zurückgezogen, um bei ihren strategischen Gesprächen nicht belauscht werden zu können. »Etwas, was Garsid neulich zu mir gesagt hat: Wir brauchen nicht Masse, sondern Klasse

»Wir haben beides nicht«, hatte Gyffs geseufzt.

»Ich weiß. Aber wir können aus unserer Not eine Tugend machen. Gollbergs Leute sind alle gleich. Wie hübsche Blumen, aufgereiht in einem ordentlichen Beet. Bei uns dagegen wächst alles durcheinander. Wir haben einen Kohlkopf, ein paar Veilchen, eine Rosenhecke, ein paar Beeren, sogar einen Baum. Damit werden wir sie fertigmachen.«

»Und wie?«

»Indem wir unsere Taktik maßschneidern wie die Klejahn ihre Uniformen. Behnk ist schwer und langsam – also soll er nicht schnell sein, sondern die Gegner behindern. Kertz ist grob und gefährlich – also soll er den Gegnern Angst einjagen. Zwei von uns sind richtig schnell: Nelat und Deleven.« Kurz hatte Fenna an Jamu Scapedo zurückgedacht, der beim Rennen der Schnellste von allen gewesen war, aber was nützte es, wenn diese Schnelligkeit sich gegen die Kompanie richtete? »Wir werden diese Schnellen von den Schwerfälligeren abschirmen und einen ganz eigenen, speziell auf unsere Kompanie zugeschnittenen Stil entwickeln, die Flagge zu erobern.«

»Diese Flagge«, hatte Gyffs mit nachdenklichem Blick gesagt, »wird doch gewiss nicht von diesem General mitgebracht. Das bedeutet, sie liegt irgendwo im Zeughaus herum.«

»Sicher.«

»Wenn wir sie uns ausleihen, könnten wir damit zu hantieren lernen. Ich glaube, ich habe eine Idee, wie wir den Hauptmann tatsächlich überrumpeln können.«

So gingen sie es an. Sie besorgten sich die Königskronenflagge aus dem Zeughaus und führten ihre Kompanie am 14. nach Süden aus der Festung, damit ihre speziellen Übungen nicht beobachtet werden konnten. Gyffs schärfte den Männern ein, dass die Flagge auch zu Übungszwecken nicht beschmutzt oder zerrissen werden durfte. »Die Flagge ist etwas Heiliges«, sagte sie immer wieder, »darum geht es bei Die Flagge erobern

Dann übten sie Spielzüge. Die Kompanie wurde in zwei Hälften aufgeteilt. Dabei gingen die Leutnants alphabetisch vor. Unter dem nur zu Übungszwecken so bezeichneten Korporal Mails Emara kämpften Behnk, Deleven, Ekhanner, Garsid, Jonis und Kertz. Die zweite Gruppe bestand aus Kindem, MerDilli, Nelat, Resea, Teppel und von den Holtzenauen und wurde von »Korporal« Bujo Stodaert koordiniert.

Diese alphabetische Zweiteilung funktionierte erstaunlich gut. Die beiden schnellsten – Deleven und Nelat – waren auf beide Gruppen verteilt, ebenso die beiden schon vor Tagen abgesprochenen »Korporale auf Probe«. Behnk und Kertz in einer Gruppe verhießen zwar Chaos, wurden aber durch Deleven und Garsid wieder aufgefangen und gelenkt, während in Gruppe Zwei MerDilli und Resea als Entsprechung für Deleven und Garsid Kampferfahrung vorweisen konnten. Fenna lenkte beide Gruppen in immer neuen Situationen gegeneinander, während Gyffs den Rest des Tages nutzte, um die Fernwaffenausbildung voranzutreiben.

In der letzten Woche vor dem Manöver, den letzten zehn Tagen des stellenweise geradezu unerträglich heißen Feuermonds, übten Nelat und Deleven unter Gyffs’ Kommando jenen Spielzug, der der Kompanie den Sieg bringen sollte. Zu diesem Zweck wurden beide Gruppen wieder zusammengefügt. Das, was Gyffs »die Mechanismen von Die Flagge erobern« nannte, war nun allen in Fleisch und Blut übergegangen. Nun kam es darauf an, jedem der vierzehn seine Rolle im Gesamtgefüge zuzuweisen, in einem simulierten und deshalb ins Unendliche verlangsamten Gefecht gegen Hauptmann Gollbergs vierzehn beste Kavalleristen.

Die Dritte Kompanie hielt sich zu diesem Zweck hauptsächlich außerhalb der Festung auf, im sonnenverdorrten südlichen Gebirgsvorland.

Fenna und Gyffs verkörperten Gollbergs Leute, indem sie von einem Grünhorn zum anderen liefen und allen Gegnern somit dieselben zwei Gesichter gaben. Behnk und Teppel bekamen ihre Rollen ebenso zugeteilt wie Deleven und Nelat und alle, deren Schnelligkeit irgendwo dazwischen lag.

Der Staub der Ebene wurde ihnen zu einer Art Kriegsbemalung, die sie abends stolz in die Festung zurücktrugen, als hätten sie in einem Feindesland Beute gemacht.

Am 22. Feuermond entließ die Heilerin Ilintu Yinn Hanitz aus ihrer Behandlung und somit aus der Obhut der Festung Carlyr.

In den letzten Wochen waren Hanitz’ wirre Visionen wieder abgeklungen, er hatte viel geschlafen, ausreichend gegessen, schließlich seine Umgebung und die Grünhörner, die ihn ab und zu besuchen kamen – von den Holtzenauen, Nelat und Ekhanner – immer aufs Neue wiedererkannt. Ilintu sagte zu Fenna: »Ich kann nicht ausschließen, dass ein Schaden bleiben wird, aber wie auch immer: Den kann er bei sich zu Hause, im Kreise seiner Familie, sicherlich besser auskurieren als hier.«

Fenna verabschiedete den Rekruten, indem er ihm fest die Hand drückte und ihm die andere Hand auf die Schulter legte. »Es tut mir immer noch leid, was passiert ist, Yinn. Ich wünschte, ich könnte es ungeschehen machen.«

Yinn Hanitz lächelte ins Ungefähre. »Gebt auf Euch acht, Leutnant«, sagte er sehr, sehr leise.

»Wie bitte? Ich habe das leider nicht verstanden …«

»Gebt auf Euch acht, Leutnant. Da gibt es eine Hand …«

»Ja?«

Hanitz betrachtete die Hand des Leutnants, die immer noch auf seiner Schulter lag. »Ich weiß nicht. Worüber haben wir gesprochen? Macht es gut, Leutnant. Tut mir leid, dass ich als Soldat nicht gut genug war.«

»Du hattest drei Punkte in den Kämpfen, Yinn. Du warst nicht im Mindesten nicht gut genug

»Das wisst Ihr noch? Ich selbst habe es vergessen.«

»Und beim Laufen warst du Zweiter, als der … Unfall passierte. Du wärst am Ende einer der Punktbesten geworden. Es ist ein Jammer, aber vielleicht versuchst du es in einem oder zwei Jahren noch einmal.«

»Ja. Wenn es die Festung Carlyr dann noch gibt.«

Mit diesen Worten ging Yinn Hanitz. Fenna sah zu der Ostmauer hinüber und konnte den Blutfleck immer noch sehen, als einen Schatten über der Patina des Alters.

Zwei Tage später, am 24. Feuermond, beging die Festung den Geburtstag der Königin Thada mit einem abendlichen Besäufnis.

Fenna sprach sowohl Wein, Bier als auch diversen Kräuterschnäpsen in reichlicher Menge zu, während Gyffs sich lieber enthielt. Die Soldaten der Zweiten Kompanie ließen sich volllaufen bis zur Besinnungslosigkeit. Die Grünhörner der Dritten hatten von Gyffs jeder einen einzelnen Trunk erlaubt bekommen, mussten sich also alle zusammenreißen. Hauptmann Gollbergs Soldaten prahlten mit der Wichtigkeit ihrer Missionen jenseits der Gebirgskette. »Es gibt Überlebende da draußen, und niemandem außer uns scheint das zu kümmern!« – »Das heißt niemanden außer uns, du Schwachkopf!« – »Warum schickt die Königin nicht schon längst ein gut ausgerüstetes Fünfhunderterregiment in Schwarzwachsrüstungen dort rauf, holt unsere Leute raus und macht reinen Tisch?« – »Weil sie im Osten mit Furbus und Chlayst und im Westen mit Wandry und Skerb alle Hände voll zu tun hat, du Schwachkopf!« – »Ach, sind da etwa auch Soldaten abgeschnitten? Gibt es da Magier, die nicht mehr zurückfinden, ja?« – »Wer weiß, wo es überall Magier gibt, die nicht mehr zurückfinden …« – »Ich höre immer Magier, Magier, Magier! Eine schöne Scheiße haben die Magier uns genützt! Eine schöne Scheiße!« – »Das heißt: eine Schöne scheißen, du Schwachkopf!« – »Halt doch endlich mal dein Maul!« – »Ich bin ja der Meinung«, meldete Leutnant Sells sich zu Wort, mit bereits auffällig schwerer Zunge, »dass der Affenmenschenfeldzug überhaupt kein Fehlschlag war.«

»Überhaupt kein Fehlschlag?«, begehrte sofort einer aus der Ersten auf. »Wisst Ihr denn überhaupt, was Ihr da redet, Leutnant? Wir haben mehr als tausend Mann verloren, und wir finden da oben pausenlos Leichen und Spuren von armen, verwirrten Seelen!«

Leutnant Sells hob bedeutungsvoll einen Finger. »Ja, aber wissen wir denn, was das Ziel des Feldzugs war? Vielleicht bestand das Ziel darin, da oben am Skorpionshügel ein Feuer zu entzünden, das niemals verlöscht! Und, warst du schon mal am Skorpionshügel, mein Junge? Seid ihr schon so weit raufgeritten bei euren tollen Rettungsmissionen? Nein, seid ihr nicht! Da brennt etwas, man kann es spüren, wenn die Sonne sinkt, und das hat hingehauen, das hat ganz und gar geklappt. Und noch etwas. Noch etwas, meine Herren!« Leutnant Hobock versuchte, Leutnant Sells wieder auf den Stuhl zurückzuziehen, doch Leutnant Sells riss sich los. »Die Magier sind alle tot. Das ist gut, oder etwa nicht?«

»Was willst du damit sagen, Teny?«, fragte Fenna, ebenfalls lallend.

»Na, nu, die Königin hat fünfzig Magier zusammengetrommelt, aus allen Himmelsrichtungen und Höhenlagen. Fünfzig von denen! Was für eine Ansammlung an Macht. Und die sind jetzt alle tot. Was, wenn das der Plan war? Eine groß angelegte Magiervernichtungsaktion.«

»Aber warum denn bloß? Die Magier waren doch auf unserer Seite«, zweifelte einer der Soldaten der Ersten.

»Warum denn bloß?«, äffte Sells ihn nach. »Weil Magier eine Gefahr sind! Eine Gefahr für uns alle! Wer weiß denn, wie es bei denen im Oberstübchen aussieht? Welchen Hass oder welche Verachtung sie mit sich herumtragen für uns Normalsterbliche? Ich sage: Traue keinem Magier! Ich hab mal einen gesehen, der konnte ein Blatt Papier zusammenknüllen, ohne sich überhaupt im selben Raum aufzuhalten wie das Blatt Papier. He, wie soll man so einem trauen können, he? Wie?«

Die Diskussion ging noch lange weiter, wurde aber zunehmend zusammenhangsloser. Irgendwann stimmte man gemeinsam ein grölendes Lied an – Unter dem Flieder sehen wir uns wieder –, dann brach erneut Zank aus, man schubste sich sogar, dann erzählte einer einen Witz – Kommt ein Untergrundmensch zum Oberst –, und alles lachte wiehernd durcheinander.

Leutnant Loa Gyffs hörte sich aufmerksam alles an und machte sich in Gedanken Notizen. Hauptmann Gollberg und der Oberst waren nirgendwo zu sehen; sie tranken, wenn überhaupt, in Jenkos Büro. Von den Soldaten der Dritten Kompanie rührten nur zwei keinen Alkohol an: Gerris Resea, der düster um sich schaute und dabei auch viermal den Blick mit Gyffs kreuzte, und Ildeon Ekhanner, der von Tag zu Tag mehr in seinem Glauben aufging, bei jeder sich bietenden Gelegenheit betete und für sich selbst Fastenregeln aufstellte, die ihm wahrscheinlich auch das Trinken untersagten.

Gyffs musste Fenna stützen, damit dieser überhaupt in ihre gemeinsame Unterkunft zurückfand. Mitten auf dem Hof hatte Fenna die Idee, ein Tänzchen mit ihr wagen zu wollen, doch es gab nirgends Musik, also konnte sie ihm diesen Blödsinn ausreden. Sie brachte ihn ins Bett, zurrte die Vorhänge besonders fest zu, lauschte seinem Geschnarche, das in sich dermaßen unruhig war, dass jeder Atemzug anders klang als der vorhergehende, und lag noch die halbe Nacht wach, in Gedanken bei Uderun und dem gestrengen Reitlehrer, der nur zu ihr immer auffallend nett gewesen war.