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Kapitel

Der fünfte Tag brachte eine Verfärbung des Landes hin zum Gelblichen. Der Boden wurde sandiger, die Spuren der Vorausreitenden wieder deutlicher. Gleichzeitig jedoch sah diese Fährte anders aus als an den ersten Tagen. So, als hätte Hauptmann Gollberg das Reiten in militärischer Formation aufgegeben und seine Kompanie sich in eine wild dahinsprengende Horde verwandelt.

Fenna ließ bereits am späten Morgen halten und den Korporal Deleven die Spur genau untersuchen.

»Was ist denn los?«, erkundigte sich Leutnant Gyffs.

»Ich will sicherstellen, dass wir hier nicht der Fährte irgendwelcher … auf Einhörnern reitenden Affenmenschen auf den Leim gehen.«

Deleven berichtete, was er herausfinden konnte. »Die Anzahl der Reiter entspricht in etwa der der Ersten Kompanie. Vielleicht sind es zwei oder drei weniger. Und es sind beschlagene Pferde. Armeehufe, würde ich sagen. Es sind unsere Jungs.«

»Warum finden wir eigentlich nie Überreste eines Lagers?«, hakte Leutnant Fenna nach. »Die müssen doch auch Nachtruhen einhalten und Essen fassen, genau wie wir.«

»Aber sie machen ebenfalls kein Feuer, also kann man keine Feuerstellen finden. Und was Nahrungsabfälle oder andere Verrichtungen angeht, sind sie offensichtlich sehr erfahren darin, sich im Feindesland zu bewegen, und hinterlassen keine Spuren.«

»Aber das ergibt keinen Sinn! Sie hinterlassen doch eine gewaltige Spur! Wir folgen ihr seit Tagen! Jeder kann ihr folgen!«

Deleven wusste auf Fennas Bemerkungen nichts zu antworten. Stattdessen fragte Leutnant Gyffs nach: »Du sagst, es könnten zwei bis drei Reiter weniger sein. Aber wir haben nirgends Gräber oder tote Pferde gefunden.«

»Vielleicht haben sie die auch verborgen. Aber ich weiß es nicht, Leutnants. Leutnant Fenna hat recht, dass sie sich angesichts ihrer überaus deutlichen Hufspuren eigentlich die ganze Mühe sparen könnten.«

»Vielleicht ist es die Macht der Gewohnheit«, versuchte Gyffs eine Erklärung. »Vielleicht will der Hauptmann einen Drill aufrechterhalten, der seinen Leuten einfach geläufig ist. Dass sie eine Fährte durchs Land ziehen, ist ja normalerweise kein Bestandteil ihrer Erkundungsmissionen. Das machen sie nur unseretwegen.«

»Und das bringt sie in Gefahr«, brummte Fenna. »Mehr noch als uns, die wir nur eine bereits existierende Spur auffrischen.« Was machen wir, wenn wir sie nicht mehr finden?, hallte es ihm durch den Kopf. Was machen wir, wenn sie sich mitsamt ihres Wärmemagiers einfach Stück für Stück in Luft auflösen, bis nichts mehr von ihnen aufzuspüren ist? Aber solange es diese Huffährte gab, gab es auch die Kavallerie der Festung Carlyr noch.

Die Wagen rollten weiter, im tiefer werdenden Sand noch langsamer als ohnehin schon. Am Himmel zogen sich die Wolken zu vereinzelten Ballungen zusammen, und dazwischen begann Blau zu leuchten und sich auszubreiten. Ein blendendes Blau, dessen Sonne nirgendwo sichtbar war, sich vielleicht aufgelöst hatte, um das gesamte Firmament mit ihrer Essenz zum Gleißen zu bringen.

Die vier Kutscher hielten ihre Gesichter unter den Helmen gesenkt. Die Mitfahrer verbargen sich in den Schatten der Planen. Es wurde nicht wärmer, eher kälter. Aber die Helligkeit übertraf die der vorangegangenen Tage bei Weitem.

Es war in der Stunde vor der größten Mittagshelligkeit, als Leutnant Gyffs, Mails Emara und Korporal Deleven beinahe gleichzeitig voraus einen einzelnen Reiter erblickten. Die Luft flimmerte nicht, weil der Boden die Kühle nahender Nachtfroste ausatmete. Aber der Reiter bewegte sich in seinem eigenen Staub und war deshalb nur unvollständig auszumachen.

»Einer von uns?«, fragte Deleven.

Leutnant Gyffs kniff die Augen zusammen und hielt schließlich den Wagen an. Der Reiter oder die Reiterin mochte auf einem Pferd, einem Einhorn oder sogar auf einem von diesen Höckertieren, die in der Gegend von Diamandan geritten wurden, sitzen. Es war noch nicht zu erkennen. Ein einzelner Reiter war jedoch auf jeden Fall alarmierend. Eine Botschaft von Hauptmann Gollberg? Ein Unterhändler der Affenmenschen?

Die gesamte Wagenkolonne hielt an. Fenna kletterte hinten von Stodaerts Wagen, um nach vorne und hinten freie Sicht zu haben. Tadao Nelat, Sensa MerDilli und Alman Behnk gesellten sich ihm zu, ohne einen entsprechenden Befehl erhalten zu haben.

Alles wartete.

Die unsichtbare, wohl hinter Wolken feststeckende Sonne erhöhte ihre Strahlkraft noch weiter.

Der Reiter ritt auf einem Pferd, dessen Gangart müde wirkte. Der Reiter trug eine Uniform der Königin. Der Reiter war ein Mann. Der Reiter war Gerris Resea.

Resea grüßte schon von Weitem militärisch. Die Leutnants Gyffs und Fenna erwiderten den Gruß. Der Soldat Behnk unwillkürlich ebenfalls.

Resea kam näher. Er sah seltsam aus, trug keinen Helm mehr. Seine Haare waren an einer Schläfe blutverklebt. Sein linker Arm stand in ungesundem Winkel ab und zitterte die ganze Zeit.

Seine Stimme klang dünn und schnarrend, wie durch ein Blatt Papier hindurchgeblasen. »Soldat Resea, Erste Kompanie, Zweites Bataillon Festung Carlyr, macht Meldung. Die … Erste Kompanie ist … aufgerieben. Wir sind in einen Hinterhalt geraten. Hauptmann Gollberg hat sich verschanzt mit sechs oder … sieben weiteren Kavalleristen. Ich habe Befehl erhalten, Meldung zu machen. Meldung zu machen. Mein Pferd … war als einziges noch imstande, den Rückweg anzutreten. Die anderen Pferde sind tot. Hauptmann Gollberg wird die Wagen brauchen, um von dort aus zurückzukehren … oder weiterzukommen. Ohne Wagen und Pferde kommt er weder vor noch zurück. Er lässt Befehl ergehen an die Dritte Kompanie unter den Leutnants Fenna und Gyffs, unverzüglich aufzurücken. Ich habe … Befehl, weiterzureiten zur Festung, um den Oberst in Kenntnis zu setzen. Die dort noch stationierte Zweite Kompanie könnte niemals rechtzeitig hier sein, aber die Festung muss verstärkt werden. Der Feind …« Resea stockte, und für einen Augenblick sah es sogar aus, als würde er aus dem Sattel kippen, doch er fing sich mit einer schlenkernden Bewegung ab. »Der Feind … verwendet Magie.«

»Was genau ist passiert, Soldat Resea?«, fragte Leutnant Gyffs. Fenna bewunderte sie in diesem Moment für ihre Gefasstheit.

»Ich … kann es nicht sagen, Leutnant Gyffs. Der Wärmemagier Onjalban – er hob die Hand und senkte sie. Die Pferde … platzten unter ihren Reitern auf wie … Mehlsäcke voller Eingeweide. Dann wuchsen die Affenmenschen aus den Felsen. Bei den Göttern, ich habe die Affenmenschen gesehen!«

»Was genau ist passiert, Soldat Resea?«, wiederholte Gyffs schneidend.

Gerris Resea starrte sie an mit einer Mischung aus Abscheu und Entsetzen. »Sie haben uns umgebracht. Das ist passiert.«

»Wie viele Affenmenschen?«, fragte nun Fenna.

Resea wandte sich ihm zu. »Viele. Hundert oder zweihundert. Gollberg hält stand, er hält stand.«

»Soldat Resea«, sagte Fenna eindringlich, »du bist nicht mehr in der Lage, einen tagelangen Ritt zur Festung durchzuhalten. Du kommst auf einen unserer Wagen, wir schicken einen unserer Männer als Boten zur Festung.«

Gerris Resea riss mit der gesunden Hand sein Pferd am Zügel rückwärts. »Nein, das kommt … gar nicht infrage! Ich habe Befehl, Befehl vom Hauptmann! Ihr seid doch nur Leutnants! Ich werde nicht hierbleiben und abkratzen. Ihr werdet hierbleiben und abkratzen! Ihr werdet vorrücken und krepieren wie alle anderen auch!«

Er und sein Pferd verdrehten ihre Augen gleichzeitig ins Weiße. Dann galoppierten sie los, dicht an den Wagen vorüber, Behnk und Fenna beinahe über den Haufen reitend. Fenna wollte dem Davonstiebenden noch etwas hinterherrufen, doch er brachte nur ein tonloses »Alleine findest du doch niemals den Weg zurück« heraus.

Niemand bewegte sich. Die Staubwolke, in der Gerris Resea Richtung Süden raste, wurde kleiner und kleiner.

Leutnant Gyffs räusperte sich. »Ihr habt es gehört, Männer. Alles wieder auf die Wagen. Wir werden jetzt ein bisschen mehr Tempo machen. Vielleicht gelingt es uns, zum verschanzten Hauptmann durchzubrechen.«

Fenna blickte immer noch der Resea-Wolke hinterher. Er hatte dabei das Gefühl, dass es sein gesamtes bisheriges Leben war, das sich da entfernte und auflöste. Der wackere Soldat. Der wackere Soldat, der halb irre vor Angst in irgendeine Richtung raste, nur weg vom Feind und sich selbst.

Fenna bekam plötzlich eine Ahnung davon, weshalb er eigentlich hier war. Was seine Aufgabe war, nördlich von Carlyr, viel zu weit weg von Chlayst.

»Auf keinen Fall, Loa«, sagte er mit langsam an Festigkeit gewinnender Stimme. »Auf gar keinen Fall werden wir das tun.«

Die Stille zwischen diesem Satz und Gyffs’ Entgegnung mutete wie ein Knistern an.

»Du hast es doch gehört! Wir haben einen militärischen Befehl erhalten!«

»Überbracht … von einem einzelnen Soldaten, der uns noch nie ausstehen konnte. Woher willst du denn wissen, dass Gollberg tatsächlich einen dermaßen unsinnigen Befehl gegeben hat? Wir dreizehn Gestalten gegen einhundert bis zweihundert Affenmenschen? Wenn schon Gollbergs dreißig Elitekrieger nicht den Hauch einer Chance hatten?« Fenna hatte das Gefühl, eine Hürde genommen zu haben. Das Sprechen fiel ihm zusehends leichter. Sein Kopf klärte sich.

»Ja, glaubst du denn, dass Resea uns anlügt, um uns in den Tod zu reißen?« Leutnant Gyffs stand auf ihrem Kutschbock wie auf einer Tempelkanzel und predigte Fennas Gewissen. »Da bringst du aber ein paar Dinge durcheinander, mein lieber Leutnant Fenna! Ja, Resea fand uns nie besonders großartig, aber einen Grund, uns alle umzubringen, hat er doch wohl noch lange nicht! Bis zum Manöver hat er sich ordentlich für unsere Kompanie eingesetzt. Er ist ein schwieriger Mensch, aber als Soldat zuverlässig. Also ist Gollberg noch am Leben und schätzt die Lage so ein, dass wir ihm helfen können. Also vertraue ich auf Gollbergs Erfahrung.«

»Und wie lange ist das her, dass Gollberg mit seinen sechs oder sieben Mann gegen einhundert oder zweihundert Affenmenschen noch am Leben war? Wie lange war Resea zu uns unterwegs, Loa? Was bedeutet der Befehl eines Hauptmanns, der längst tot ist

Keiner der Soldaten wagte mehr zu atmen. Leutnant Gyffs stand auf ihrem Kutschbock, Fenna unter und hinter ihr neben seinem Wagen auf dem Sandboden. Beide Offiziere sprachen verhältnismäßig ruhig und beherrscht miteinander, aber die meisten der Männer hatten den Eindruck, dass gebrüllt wurde.

»Ein Befehl ist ein Befehl, da gibt es keine Klauseln. Denkst du denn, dass alle Befehle ihre Gültigkeit verlieren, wenn ein Offizier den Heldentod stirbt? Was für ein Chaos wäre das! Resea kann nicht länger als ein paar Stunden unterwegs gewesen sein, das Blut an seiner Kopfwunde war doch noch nicht einmal vollständig getrocknet! Jeder Sandstrich, den wir hier unnötig herumstehen und diskutieren, gefährdet allerdings tatsächlich das Leben von Hauptmann Gollberg und seinen Soldaten, da gebe ich dir recht!«

»Sie verwenden Magie, Loa! Es ist … vollkommen überflüssig, da ebenfalls einfach so reinzureiten! Wir werden überhaupt nichts ausrichten können! Wir sind wie … dreizehn Tropfen Wasser, die in einen Brand geschüttet werden!«

»Aber das ist unser Beruf, Eremith! Das ist unsere Pflicht! Dreizehn Tropfen Wasser, eingesetzt an der richtigen Stelle zur richtigen Zeit, können einen Brand eindämmen und dann löschen!«

»Ach, das ist doch Unsinn. Das ist akademisches Gewäsch. Das hat man dir jahrelang eingetrichtert, damit du stolz darauf sein konntest, ein Wassertropfen zu sein. Ich werde das nicht zulassen. Ich werde unsere Männer nicht einfach so opfern.« Fenna spürte, wie sich sein Herzschlag wieder beschleunigte. Vierzehn Jahre. Vierzehn Jahre treuer Dienst an der Küste. Seite an Seite mit den anderen gegen den unsichtbaren Feind, der von innen tötete wie Onjalbans Magie, die die Eingeweide von Pferden zum Kochen und zum Platzen brachte. Vierzehn Jahre. Und nun stellte er alles infrage.

»Wir haben gar keine andere Wahl, als dem Befehl Folge zu leisten«, sagte Gyffs mit nun ruhiger werdender Stimme. Ihre inneren Dynamiken schienen stets gegenläufig zu sein. »Resea reitet nach Carlyr und überbringt Gollbergs Befehle. Wenn wir dann zurückkommen und sagen, wir sind einfach umgekehrt und haben Gollberg im Stich gelassen, kommen wir alle vor das Kriegsgericht und werden hingerichtet wegen Feigheit vor dem Feind.«

»Also sterben wir so oder so? Ist es das, was du damit sagen willst?«

»Nein. Wenn wir vorrücken, sterben wir nicht unbedingt. Wir haben dann immerhin eine Chance, kämpfend zu überleben. Wir sind doch Soldaten, verdammt noch mal, wir sind im Kämpfen ausgebildet, wir sind nicht … die Raubiels und ihre Sippschaft. Und wenn Gollberg tot ist, laden wir eben seine Leiche auf. Und dann geht es zurück, mit von mir aus Tausenden von Affenmenschen im Rücken, aber wir werden schneller sein als sie mit unseren Pferden und unseren Wagen, und wir werden unseren Auftrag erfüllt haben, soweit es in unserer Macht stand, und dieser Stolz wird uns Flügel verleihen.«

Fenna blickte kopfschüttelnd zu Boden. »Flügel, Loa, haben in diesem Land leider nur die anderen. Ich wünschte, du hättest … Chlayst erlebt. Es gibt Dinge, die kann man einfach nicht bezwingen. Da bietet auch eine Uniform keinerlei Schutz mehr und keinen Halt. Magie ist so etwas. Die Pferde platzen auf. Die Hand, die sich hebt, muss herunterkommen. Yinn Hanitz hat versucht, uns alle zu warnen mit seinem Gebrabbel. Keine Ahnung, wo er das alles herhatte, aber ich wünschte mir jetzt, ich hätte damals mehr achtgegeben auf das, was er sagte. Das ist der Endpunkt, Loa. Der Umkehrpunkt. Die Erste Kompanie gibt es nicht mehr. Das gesamte Erste Bataillon gibt es auch nicht mehr, schon seit Längerem. Und das Neueste ist jetzt, dass es uns, die Dritte Kompanie, ebenfalls nicht mehr gibt. Nun geht es nur noch darum, Alman und Mails und Jovid und Sensa und Jeo und Nilocas und Ildeon und Breff und Fergran und Bujo und Tadao das Leben zu retten.«

Auch Loa Gyffs schüttelte nun den Kopf, langsam, beinahe mild gestimmt. »Eremith, du verstehst das einfach nicht. Du hast in vielem recht. Ja, du hast recht, es gibt keine Logik mehr. Ja, du hast recht, es gibt da draußen, direkt vor uns, eine ungeheure Übermacht, die mit dem Verstand nicht mehr zu erfassen ist. Ja, du hast recht, wir sind hier falsch. Aber es ist unsere Aufgabe, hier zu sein. Weil wir uns alle freiwillig gemeldet haben. Weil wir diese Uniformen nicht einfach nur spazieren tragen, sondern sie uns auch durch entsprechenden Einsatzwillen verdienen mussten. Weil wir, und das wisst ihr alle, Männer, Soldaten sind.«

»Weil wir Idioten sind«, sagte Fenna leise.

»Hm?«

»Nichts. Ich verweigere diesen Befehl. Ich verweigere ihn einfach.«

»Dann bringst du mich in eine schwierige Situation.«

»Ich weiß.«

»Wir alle haben einen Treueeid geleistet. Du auch.«

»Ich weiß.« … den Befehlen meiner Vorgesetzten stets und in jedem Falle Folge zu leisten … Ich gelobe, solange ich diese Uniform trage, den Feinden des Kontinents entgegenzustehen bis zu meinem letzten Atemzuge … Ich gelobe, der Festung Carlyr Treue zu wahren … unterstelle ich das Schicksal meines Leibes wie meiner Seele dem Gut und Erbe der Krone, der Einigkeit und des Kontinents … Die Kinder brannten jetzt vor Fennas innerem Auge dermaßen hell, dass der gesamte Himmelskreis zu glühen schien. »Ich habe sogar mehrere Eide geleistet. Erst in Chlayst, dann in Carlyr.«

»Und was willst du, dass ich jetzt tue, Eremith? Dass ich dich wegen Meuterei und Befehlsverweigerung festsetzen lasse und du gefesselt auf einem der Wagen mit uns zu den Affenmenschen fährst, ohne die Möglichkeit zu haben, dich gegen Übergriffe wehren zu können?«

Fenna seufzte aus tiefstem Herzen. »Gib mir die Männer mit, damit ich sie zurückbringen kann. Sie werden nicht verurteilt werden. Wenn ich ihnen den Rückzug befehle, ich als Leutnant und Vorgesetzter, unterstehen sie meiner Order und tragen keine Schuld. Du kannst meinetwegen weiterfahren mit einem der Wagen und versuchen, Gollberg da rauszuhauen.«

»Ich alleine.«

»Du alleine, du und dreizehn Mann, du und dreißig Mann, du und das gesamte tote Erste Bataillon. Es würde keinen Unterschied machen.«

Loa Gyffs dachte nach. Ihre Wangen bewegten sich dabei wie kauend. »Das führt alles zu nichts. Ich mache dir einen Gegenvorschlag, Eremith.«

»Ja?«

»Ich nehme nur diejenigen der Männer mit, die sich freiwillig melden.«

»Gut. Das ist gerecht. Die anderen bringe ich nach Carlyr zurück. Ich denke, dass dort gute Männer benötigt werden, denn der Feind scheint offensichtlich über Fähigkeiten zu verfügen, die niemand ihm zugetraut hätte.«

Leutnant Gyffs nickte. Sie räusperte sich. »Also, Männer? Ihr habt es gehört. Die Dritte Kompanie wird sich jetzt spalten. Die beiden Kommandooffiziere gehen aufgrund ihrer unterschiedlichen Dienstauffassungen von nun an getrennte Wege. So etwas kommt vor. Das ist das Wagnis, das man eingeht, wenn man eine militärische Einheit mit einer Doppelspitze versieht. Wer von euch will mit hängendem Kopf den Rückzug antreten und Hauptmann Gollberg, seine Soldaten und die Überlebenden, falls es jemals welche gegeben hat, umzingelt von Feinden sich selbst überlassen? Wer also will die Augen verschließen vor der Wahrheit dieses Landes und jeglicher Konfrontation mit dem grausamen Feind aus dem Wege gehen? Und wer will stattdessen mit mir kommen, unseren Auftrag erfüllen, die Mission Augenlicht zu einem Ende führen, auf das man stolz zurückschauen kann, und sich unter den Blicken von Hauptmann Gollberg und Oberst Jenko und später jedes Generals und unserer Königin höchstselbst Ruhm und Ehre verdienen und Unsterblichkeit?«

Die Männer, die nicht bereits ausgestiegen waren, schauten aus den Wagen wie seltsame Früchte, die auf staubigen Planen wuchsen. Zuerst meldeten sich nur »Scheusal« Jeo Kertz und Sensa MerDilli. Dann aber, zu Fennas Überraschung, auch Jovid Jonis und Korporal Deleven. Und nachdem Deleven sich gemeldet hatte, hoben auch Bujo Stodaert und Fergran von den Holtzenauen die Hände.

»Von den Holtzenauen?«, fragte Fenna ungläubig.

Der junge Adelige lächelte entschuldigend. »Die Männer, die jetzt weitermachen, werden meine bescheidenen Kenntnisse dringender nötig haben als die, die umkehren. Tut mir leid, Leutnant Fenna.«

Fenna fand nun nur noch Alman Behnk, Mails Emara, Ildeon Ekhanner, Breff Adirony Teppel und Tadao Nelat auf seiner Seite. Aber das waren immerhin fünf. Fünf Kinder, die nicht zu brennen brauchten.

Dann wechselte der alte Teppel doch noch auf die Seite der Freiwilligen über. Sein langjähriger Freund Ildeon Ekjanner schien das nicht verstehen zu können. Die beiden diskutierten kurz und heftig, Ekhanner rief die Namen der Götter an, doch Teppel ließ sich nicht mehr umstimmen. »Meine Söhne haben auch nicht gekniffen. Und eigentlich«, sagte er zum Abschluss, »wenn ich ehrlich bin, ist so ein Himmelfahrtskommando vielleicht genau das Richtige für mich.« Ildeon Ekhanner fielen keine Entgegnungen mehr ein.

Vier, zählte Fenna. Vier Kinder, die nicht zu brennen brauchten. Dafür lohnte es sich doch, den eigenen Kopf in die unerbittliche Hanfschlinge des Kriegsgerichts zu stecken. Auch für einen einzelnen Soldaten hätte sich dies bereits gelohnt. Fenna würde sich dieser Verantwortung nicht entziehen. Er stand zu seiner Entscheidung, dass Gollbergs Befehl entweder fehlerhaft übermittelt oder komplett irrsinnig war. Und dennoch war etwas Gravierendes falsch gelaufen. Sieben Kinder hatten freiwillig den Scheiterhaufen gewählt. Wie hatte das passieren können?

Fenna ging zu Jovid Jonis hin. »Was wird aus deinem Mädchen, Jovid? Wie war noch einmal ihr Name?«

»Mara Wesener, Leutnant. Ich werde nicht fallen. Wir werden den Hauptmann da raushauen und Euch vielleicht noch vor der Festung wieder einholen.«

»Und wenn ich dich darum bitten würde, mir deine Aufzeichnungen mitzugeben, würdest du sagen, das sei unnötig, weil du sie ja selbst nach Carlyr bringen kannst?«

»Nein, meine Aufzeichnungen und Skizzen könnt Ihr natürlich gerne haben. Bei Euch sind sie sicherlich in guten Händen.« Jonis reichte dem abtrünnigen Leutnant einen Stapel Papiere voller flüchtiger, aber bereits auf den ersten Blick gekonnt wirkender Kohlestiftzeichnungen. Fennas Kehle war mit einem Mal zu eng, um ein Bedanken zu gestatten. Er ging zu Deleven.

»Korporal. Ihr überrascht mich.«

»Ich habe es Euch doch erläutert, Leutnant. Ich habe mich nun einmal entschieden, ein königlicher Soldat zu sein. Das kann man nicht einfach anzünden und auslöschen, wie es einem gefällt. Aber ich beneide Euch nicht. Ihr müsst die Entscheidung für andere mittreffen. Ich lasse in diesem Fall einfach jeden aus meinem Zug selbst entscheiden.«

»Ja. Und das ist, wie ich schon sagte, gerecht so.«

Fenna stand nun direkt unterhalb von Leutnant Gyffs Kutschbockkanzel. »Loa«, sagte er nur. »Ich habe das Gefühl, dass ich einen Fehler mache. Dass ich an deiner Stelle gehen und dich nach Carlyr schicken sollte. Du bist doch noch so viel jünger als ich.«

»Dann komm doch einfach mit, Eremith! Komm mit, lass die Dritte Kompanie beisammen, und wir vergessen das Ganze einfach. Eine Diskussion zwischen Offizieren, nichts von Bedeutung. Lement ist nicht hier und hat nichts mitgeschrieben.«

»Du hast mich wieder nicht verstanden. Ich will dich nach Carlyr schicken mit den anderen, die überleben dürfen. Du gibst einen viel passenderen Hauptmann Gayo ab als ich.«

»Weißt du, was der General Urcharin Zoydenak einmal über eine solche Situation geschrieben hat?«

»Nein.«

»Er schrieb: Es gibt keine Feigheit vor dem Feind. Im Angesicht des Feindes sind jegliche Gesetze außer Kraft gesetzt. Feigheit gibt es nur im Davor und Danach, niemals jedoch im Währenddessen.«

»Wie starb dieser tolle Mann?«

»Alt und hochbetagt im Bett.«

»Schlau von ihm. Aber wie viele Männer hat er in den Tod geschickt? Ich bin einfach niemand, der danach noch ruhig schlafen könnte.«

»Ich auch nicht, Eremith. Deshalb schicke ich ja niemanden, sondern gehe selbst mit.«

»Ja. Also, wie machen wir es? Ich denke, ein Wagen wird uns genügen. Wir nehmen Stodaerts Wagen, Stodaert kann bei Deleven mit aufsteigen, der fährt ja sonst ganz alleine.«

»Ihr habt niemanden, der ein Kutscher ist.«

»Wir werden das schon hinbekommen. Wir sind zu fünft, können uns abwechseln, uns gegenseitig überwachen und voneinander lernen.«

»Es ist auch wirklich nicht weiter schwierig. Das sind gute Tiere.«

Beide vermieden es, sich in die Augen zu sehen. Dies war ein ganz eigentümlicher Moment zwischen ihnen. Wie hatte es nur so weit kommen können? Die Dritte Kompanie war in zwei unregelmäßig gezackte Stücke auseinandergebrochen, obwohl die beiden Leutnants sich doch stets so viel Mühe gegeben hatten, nie vor versammelter Mannschaft zu streiten. Fenna hatte wieder das Gefühl, dass sie beide Elternteile darstellten.

Durch Gyffs ging ein Ruck. »Komm mit«, sagte sie. »Ich will noch ein paar Worte mit dir unter vier Augen wechseln.«

Sie führte Fenna am Arm abseits der haltenden Wagen. Die Pferde wirkten ruhig, es drohte also keine unmittelbare Gefahr. Fenna machte ein einigermaßen dummes Gesicht, als Gyffs ihn so wegführte.

Als sie beide außer Hörweite der anderen waren, straffte sie sich und sagte: »Ich weiß, wie du denkst und fühlst, Eremith. Ich weiß, dass du dir Vorwürfe machen wirst. Jetzt im Augenblick hast du vielleicht noch das Gefühl, einen Teilsieg errungen zu haben, aber schon in wenigen Stunden wirst du dir denken: Warum habe ich nicht ausdauernder gekämpft? Warum habe ich ihr nicht zur Not eins über den Schädel gegeben, um sie von diesem Irrsinn abzuhalten? Deshalb möchte ich, dass du eines weißt: Wir trennen uns nicht im Streit. Im Gegenteil. Ich bin dir ausgesprochen dankbar dafür, dass du die schwierige Aufgabe übernommen hast, einigen unserer Männer das Leben zu retten.«

»Was? Aber willst du damit sagen, dass …«

»Dass ich auch nicht glaube, dass wir Erfolg haben werden. Natürlich nicht. Aber ich bin nach wie vor der Meinung, dass wir als Soldaten nicht das Recht haben, freie Entscheidungen zu fällen. Wir sind in unsere Pflicht eingebunden. Und wenn man fahnenflüchtig werden muss, um Leben zu retten, muss ich leider zugeben, dass ich dazu nicht den Mut habe. Ich stamme aus einer Militärfamilie. Mein Großvater und mein Vater waren bei der Armee, und die Enttäuschung meines Vaters darüber, eine Tochter zu haben, milderte sich erst, als Frauen der Weg in die Akademien erleichtert wurde. Ich kann diese Familientradition nicht dadurch sabotieren, dass ich vorm Feind in die Knie gehe. Ich kann die Mission Augenlicht nur bis zum bitteren Ende in die Tat umsetzen. Also danke ich dir und scheide nicht im Groll.«

»Aber, Loa! Loa, Loa, Loa! Das ändert doch alles! Begreifst du denn nicht? Bis eben dachte ich noch …, dass du tatsächlich an einen Sieg oder eine Rettung oder was auch immer glaubst. So wie auch Gollberg es tun würde oder Oberst Jenko. Ich dachte, es hat gar keinen Sinn, lange mit dir zu räsonieren, denn die militärische Etikette ist ohnehin auf deiner Seite. Aber wenn wir wirklich einer Meinung sind, dass dieser Befehl ein Irrwitz ist, dann … sollten wir uns nicht trennen. Ich werde mit dir kommen.«

»Wie bitte? Aber das widerspricht doch jetzt wieder allem, wofür ich dir gerade gedankt habe!«

»Nein, nein. Wir werden Behnk, Emara, Ekhanner und Nelat tatsächlich zur Festung zurückschicken, unter irgendeinem Befehl. Was weiß ich: Sie sollen Resea eskortieren oder, falls Resea unterwegs von Haihunden angefallen wird, sicherstellen, dass die Festung Nachricht von den Vorgängen erhält. Wir schicken die vier nach Hause, das hat unser Disput gebracht. Aber ich werde mit euch kommen. Wir tüfteln an einer Methode, wie wir alle lebend hier herausbekommen.«

»Glaubst du an Wunder?«

»Nicht an Wunder. Aber an unsere Jungs. Und vielleicht an ein kleines Quäntchen Glück. Es kann ja nicht überall nur Chlayst sein.«

So leiteten sie es in die Wege.

Behnk, Emara, Ekhanner und Nelat bekamen den Wagen zugeteilt, der bislang von Stodaert gelenkt worden war. Um unter den vieren so etwas wie eine Befehlshierarchie zu etablieren, wurde Tadao Nelat von Leutnant Gyffs zum Interimskorporal ernannt.

»Ich erwarte, dass ihr euch durch nichts aufhalten lasst«, schärfte ihnen Leutnant Fenna zum Abschied ein. »Vermeidet Kämpfe und gefährliche Wesen. Haltet nachts unbedingt Wachen, tagsüber auf dem Wagen könnt ihr jederzeit Schlaf nachholen. Folgt unserer eigenen Spur, sie ist noch frischer als die Gollbergs. Sollte Reseas Hufspur unterwegs von der Räderspur abweichen, gebe ich euch freie Hand, ob ihr ihr ein paar Meilen folgen wollt, um zu sehen, ob Resea irgendwann das Bewusstsein verloren hat oder eingeschlafen ist und dann dort irgendwo herumliegt. Sammelt ihn ein, wenn es euch möglich ist. Aber lasst euch nicht auf stundenlange Umwege ein, euer Proviant ist knapp bemessen. Wenn ihr Resea nicht finden könnt, kehrt wieder auf die Räderspur zurück. Wenn die Räderspur auf Felsen nicht mehr zu sehen ist oder vom Wind verwischt wurde, orientiert euch am Gelände. Es ist dasselbe wie auf dem Hinweg. Nach einigen Tagen kommt das Felsenwüstengebirge in Sicht und die zwei Säulen, und dann ist alles einfach.« Die Worte sprudelten aus Fenna nur so hervor. Die vier Angesprochenen nickten müde und machten dabei die Gesichter von Kindern, die von ihren Eltern nachts alleingelassen werden. Fenna drückte Tadao Nelat noch Jonis’ gesammelte Skizzen in die Hand und bat ihn, sie Oberst Jenko zu übergeben.

Auch Gyffs hatte das Bedürfnis, noch ein paar Worte an die Männer zu richten. »Ich weiß, dass ihr alle verunsichert seid wegen des Disputs, den wir beiden Leutnants hatten. Aber es war alles klar, und es ist auch weiterhin alles klar. Die zur Festung Zurückfahrenden haben die wichtige Aufgabe, den Oberst über alles Geschehen in Kenntnis zu setzen und unterwegs den Soldaten Resea, der ohne nennenswerten Proviant unterwegs ist und deshalb wohl gehörige Schwierigkeiten bekommen wird, zu unterstützen. Die weiter nach Norden Fahrenden werden – angeführt von ihren beiden Leutnants – im Rahmen des Machbaren ihr Bestes geben, um Hauptmann Gollberg zu befreien. Leutnant Fennas Worte vorhin waren etwas unbedacht gewählt: Die Dritte Kompanie existiert, auch wenn sie sich aufteilt. Aufteilung ist nichts Neues, ihr seid ja auch in zwei Züge unterteilt. Nun gibt es also eine missionsbedingte Aufteilung. Keine große Sache also. In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein gutes Gelingen im Namen der Königin.«

Stodaert ließ sich sogar zu einem »Huah!« hinreißen, von den Holtzenauen nickte immerhin, Deleven lächelte. Dann ruckelte der von Interimskorporal Tadao Nelat gesteuerte Heimkehrerwagen Richtung Süden davon.

Die anderen verteilten sich neu auf die verbliebenen drei Gespanne.

Fenna stieg zu Gyffs in den ersten Wagen, um mit ihr Pläne schmieden zu können. Außer ihnen beiden fuhr nur noch »Scheusal« Kertz mit.

Stodaert stieg bei Deleven und Teppel zu.

Von den Holtzenauen bildete mit MerDilli und Jonis im dritten Wagen die Nachhut.

Reseas frischer Fährte nach Norden folgend, fuhr die nur noch aus zwei Leutnants, einem Korporal und sechs Soldaten bestehende Dritte Kompanie einem unbekannten Schlachtfeld entgegen.