3

Kapitel

In jener Nacht lag Loa Gyffs noch lange wach. Und auch Fenna wälzte sich deutlich hörbar hinter den Wolldecken, die den Raum teilten, hin und her.

»Eremith?«

»Hmmm?«

»Mir leuchtet noch so Einiges an der Mission nicht ein.«

»Hmmm.«

Gyffs stützte sich auf ihre Ellenbogen hoch. »Wie kann Onjalban Gollbergs Kompanie führen? Woher kennt er den direkten Weg zwischen der Festung und dem Versteck der Überlebenden?«

»Hmmm. Er kennt den direkten Weg nicht. Aber er kennt die Gegend, wo das Versteck liegt. Also reiten sie erst mal bis dorthin, wo sie ihn gefunden haben. Und von dort aus kann er sich wahrscheinlich an Anhaltspunkten orientieren. So etwas wie die zwei Säulen.«

»Aber was ist, wenn das alles eine riesige, gewaltige Falle ist?«

»Eine Falle? Warum sollte ein Mensch Menschen in eine Falle locken?«

»Weil er ein Magier ist? Wer weiß, wie es im Kopf eines Magiers aussieht, der eine schreckliche Katastrophe überlebt hat! Weißt du, worüber ich nachgedacht habe? Dieses helle Licht, das den Feldzug vernichtet war, war doch nicht einfach nur ein Licht. Das war doch auch heiß. Das hat Menschen schmelzen lassen. Wie eine weiß glühende Feuersbrunst.«

»Ja und?«

»Onjalban ist ein Wärmemagier!«

»Ja, und? Denkst du, er hat den Feldzug vernichtet? Warum sollte er denn so etwas tun?«

»Das weiß ich auch nicht, Eremith. Aber wäre es denn nicht denkbar?«

»Im Zusammenhang mit Magie ist alles denkbar. Das ist ja gerade das Problem.«

Schweigen kehrte ein. Sandstriche der Stille.

Dann war es Fenna, der als Erster wieder sprach. »Weißt du, was an deiner Theorie nicht stimmig ist? Wenn Onjalban wirklich so mächtig wäre, dass er den ganzen Feldzug vernichten konnte – warum muss er dann so umständlich ein paar Leutchen in eine Falle locken? Warum hat er Gollbergs Kompanie, als sie ihn fand, nicht einfach mit einem Fingerschnippen in Flammen aufgehen lassen? Oder jetzt die Festung? Mit einem gleißenden Licht wie am Skorpionshügel – und niemand von uns wacht jemals mehr auf.«

»Ja. Vielleicht kann er das nicht alleine. Vielleicht braucht er die Hilfe dieser drei silberäugigen Wesen und des brennenden Mannes.«

»Selbst dann. Was gewinnen sie? Sie hätten Gollbergs Kompanie überwältigen können. Jetzt bekommen sie noch zwölf Männlein, ein Weiblein, vier Kutscher, sechzehn Pferde und vier Planwagen zusätzlich. Ist das die ganze Umständlichkeit wert?«

»Sie kennen jetzt den direkten Weg zur Festung.«

»Ach, als ob die Festung schwer zu finden wäre! Es gibt ja gar keinen anderen Weg nach Süden durch das Gebirge als mitten durch Carlyr hindurch!«

»Aber was ist, wenn er hier etwas tut? Gerade jetzt. Im Lazarett. Wenn er einen Bannzauber hinterlegt. Oder eine Art Fluch, der die Festung von innen zerstören wird.«

»Loa, kannst du mir einen Gefallen tun?«

»Ja?«

»Schlaf endlich und hör auf, wahnsinnig zu sein!«

»Ich bin nicht wahnsinnig!«

»Nein, aber – wenn du solche Angst vor Magiern hast …« Fenna verstummte. Er hatte eigentlich sagen wollen, dass sich zu Beginn des Feldzuges fünfzig Magier in der Festung Carlyr aufgehalten hatten und dass damals auch kein Schaden entstanden war. Aber die Theorie von Leutnant Sells war ihm gerade wieder eingefallen: der Feldzug gegen die Affenmenschen als geplantes Magiersterben. War es da nicht durchaus vorstellbar, dass ein überlebender Magier Rache an der Königin und ihrer Armee nehmen wollte? Jetzt stemmte auch er sich auf die Ellenbogen hoch. »Vielleicht hast du ja nicht ganz unrecht. Wir sollten argwöhnisch sein. Argwohn kann nicht schaden. Aber wir sind Soldaten. Wir tun, was man uns befiehlt. Und da muss ich ganz ehrlich sagen: Bevor man uns in die Felsenwüste schickt, um irgendeinen Quatsch zu machen, finde ich eine Mission wie diese, bei der wir vielleicht sechsunddreißig Menschen das Leben retten können, ziemlich großartig. Durchführen müssen wir ohnehin alles, was man uns befiehlt. Also, warum freuen wir uns nicht darüber, dass es eine wirklich spektakuläre, wichtige Mission ist, über die man auf dem ganzen Kontinent reden wird, anstatt uns über die Unwägbarkeiten die Köpfe zu zerbrechen?«

Gyffs ließ sich aufs Bett zurückfallen. »Stimmt schon. Wir müssen eben die Augen offen halten. Mehr können wir nicht tun.«

»Ja, aber nicht jetzt. Jetzt schließen wir unsere Augen und ruhen uns noch einmal aus.«

Selbstverständlich beklagte sich der frischgebackene Korporal Ellister Gilker Kindem am Morgen darüber, an dieser Mission nicht teilnehmen zu dürfen. »Wenn wir sowieso die ganze Zeit nur auf einem Wagen fahren, ist es doch gar nicht so anstrengend! Ob ich hier herumliege oder auf einer Wagenfläche – ist das nicht vollkommen egal?«

»Korporal«, sagte Fenna geduldig, »es geht darum, dass Ihr, wenn Ihr an einer Mission teilnehmt, voll einsatzfähig sein müsst. Das heißt: nachts Wache halten, kämpfen, wenn es zum Kampf kommt, marschieren und rennen, wenn marschiert und gerannt werden muss. Das ist Euch augenblicklich noch nicht gegeben. In etwa zwölf Tagen werden wir wieder hier sein. Ich erwarte also, dass Ihr im Nebelmond in der Lage seid, Euren Korporalsposten anzutreten.«

»Jawohl, Leutnant!«

Fenna wechselte einen langen Blick mit Ilintu.

»Was kannst du mir über Onjalban sagen?«, fragte er sie. »Was für einen Eindruck machte er auf dich?« Der Wärmemagier hatte das Lazarett bereits verlassen und suchte sich in Begleitung Hauptmann Gollbergs gerade ein Pferd aus. Der Haupthof der Festung dröhnte von den vier Kutschen, die angespannt wurden. Dabei war die Erste Kompanie noch gar nicht auf den Beinen, lediglich Hauptmann Gollberg überwachte den Aufbruch der Dritten.

»Nicht viel«, antwortete die Heilerin. »Er spricht wenig, ist sehr in sich gekehrt.«

»Feindselig?«

»Nein. Eher schwach, ausgelaugt. Trockenheit und Unterkühlung.«

»Hast du etwas von seiner Magie gespürt? War sein Körper ungewöhnlich … warm, oder wurde ein Gegenstand heiß, den er berührte?«

Ilintu sah Fenna forschend in die Augen. »Nichts dergleichen.«

»Und hast du ihn schon letztes Jahr untersucht, als der Feldzug aufbrach?«

»Ich habe damals nur wenige Männer in meinem Lazarett gehabt. Die meisten kamen im Vollbesitz ihrer Kräfte aus irgendwelchen Garnisonen und brauchten keine Untersuchung. Onjalban war nicht bei mir, ich könnte mich sicherlich noch an ihn erinnern. Warum fragst du so viel? Traust du ihm etwa nicht?«

»Ich glaube, Gyffs traut ihm nicht. Und ich hätte gern gewusst, ob Onjalban sich seit dem letzten Jahr verändert hat.«

»Gyffs hat auch noch eine Frage«, ertönte die Stimme von Leutnant Gyffs vom Eingang her. Ilintu ging ihr entgegen, denn offensichtlich wollte Leutnant Gyffs mit ihren staubigen Schuhen nicht durch das Lazarett latschen, wie Fenna das immer tat. »Die offizielle Version lautet, dass Onjalban vor den Männern des Hauptmanns Reißaus nahm und von ihnen überwältigt wurde. Zeigt sein Körper irgendwelche Spuren eines Kampfes?«

»Sein Körper zeigte viele Spuren von Kämpfen. Kratzer und Blutergüsse, unter der ganzen Tätowierschrift stellenweise kaum auszumachen. Ja, einiges davon sah noch frisch aus.«

»Gab es eine Kopfwunde, die ihn mehrere Stunden lang bewusstlos hätte machen können?«

»Am Kopf habe ich nichts feststellen können, nein.«

»Danke. Eremith, ich will euer sicherlich sehr anregendes Gespräch nicht unterbinden, aber wir müssen Kutscher aus unserer Kompanie auswählen.«

»Warum das denn? Ich dachte, wir bekommen vier Kutscher mit!«

»Dachte ich auch erst, aber es sollen wohl keine Zivilisten in Gefahr gebracht werden. Die Mission Augenlicht wird als ausgesprochen gefährlich eingestuft. Unsere Männer bibbern schon wie Gelee. Sie sind nicht alle so bereit wie Korporal Kindem.«

Fenna drückte sich an Ilintu vorbei. Für einen Moment überlegte er, ob er ihr einen Abschiedskuss auf die Wange drücken sollte, einfach so, vor Gyffs und Kindem und den beiden Erschöpftesten aus Gollbergs Kompanie, die ebenfalls zur Beobachtung im Lazarett verblieben waren – aber schon im nächsten Augenblick kam ihm dieser Affekt albern vor. Was würde Ilintu davon halten? Womöglich würde sie ihm eine schallende Ohrfeige verabreichen, und das durchaus zu Recht.

Draußen klapperten Hufe und Räder. Stallknechte schirrten an, Lagerbedienstete beluden, gedämpfte Anweisungen rufend, die Wagen mit Proviantmitteln. Fenna sah Gollberg und Onjalban in einem Stall und ging auf sie zu, doch Gollberg kam ihm allein entgegen. Fenna hatte den Eindruck, der Hauptmann würde den Magier vor ihm abschirmen.

»Hauptmann, mir ist die Verproviantierung noch nicht so ganz klar«, wandte sich Fenna salutierend an seinen Vorgesetzten. »Wir führen genug in unseren Wagen mit – aber wovon ernährt sich die Erste Kompanie?«

»Das Proviantlager, das Ihr im Feindesland angelegt habt, war großzügig für zwei Missionen berechnet. Dies ist die zweite.«

»Verstehe. Ausgezeichnete Planung, Hauptmann.«

»Sollten wir auf dem Rückweg übrigens Proviant entbehren können – zum Beispiel, falls wir doch weniger Überlebende vorfinden als angestrebt –, werden wir das Versteck wieder bestücken. So schlagen wir mehrere Fliegen mit einer Klappe und halten das entferntere Hinterland weiterhin offen für unsere Erkundungsvorstöße.«

»Sehr wohl, Hauptmann!«

»Findet Ihr vier geeignete Kutscher in Eurer Kompanie?«

»Leutnant Gyffs ist bereits zugange. Das dürfte kein Problem werden.«

Tatsächlich war das Aussuchen nicht weiter schwierig: Korporal Deleven, Stodaert, Jonis und von den Holtzenauen waren abgesehen von Leutnant Gyffs selbst die besten Reiter der Dritten Kompanie. Jonis sollte aufgrund seiner bei der letzten Mission erlittenen Verletzungen eher noch ein wenig geschont werden, also erklärte Gyffs sich bereit, den vordersten der vier Wagen eigenhändig zu lenken.

Schwieriger war das Einteilen der Männer pro Wagen, weil damit gleichzeitig auch sinnvolle Wachgruppen gebildet werden sollten.

Gyffs entschied sich für »Scheusal« Kertz und Mails Emara als Besatzung ihres Wagens. Emara hatte gute Augen und konnte nach vorne als Späher wertvolle Dienste leisten, während Kertz mit seiner draufgängerischen Furchtlosigkeit unter der direkten Kontrolle eines Leutnants am sichersten aufgehoben war.

Den zweiten Wagen steuerte Korporal Deleven, und er bekam Breff Teppel und Ildeon Ekhanner zur Begleitung. Da die Infanteristen aufgrund von Korporal Kindems Fehlen bei dieser Mission auf einen Korporal verzichten mussten, ordneten die beiden Leutnants das vermutlich schwächste Glied der Kompaniekette – Teppel – dem sicheren Fernwaffenkorporal Deleven zu.

Wagen drei wurde gelenkt von Fergran von den Holtzenauen und zusätzlich bemannt mit MerDilli, Jonis und Behnk. Dies war sozusagen ein Infanteriewagen, kutschiert von einem Fernwaffenmann. Außerdem waren MerDilli, Jonis und von den Holtzenauen bereits während der ersten Mission in einer – und zwar Leutnant Fennas – Wachgruppe eingeteilt gewesen und deshalb bestens aufeinander eingespielt.

Den letzten Wagen sollte Bujo Stodaert steuern, begleitet von Leutnant Fenna und Tadao Nelat. Dadurch gab es an der Spitze und am Ende jeweils einen Leutnant, was einerseits die Kompanie wie mit zwei Buchstützen zusammenhalten sollte, andererseits aber auch Leutnant Gyffs bei Situationen, die schnelle Entscheidungen erforderten, die alleinige Befehlsgewalt übertrug. Fenna war der Meinung, dass Gyffs sich diesen Status während des Panzerlöwenvorfalls verdient hatte, ganz im Gegensatz zu ihm selbst.

Die beiden Züge – Infanterie und Fernwaffen – waren diesmal durchmischt, was militärisch gesehen eigentlich keinen Sinn ergab, was aber verhindern sollte, dass sich eine Trennung der beiden Züge wie beim Angriff der Panzerlöwinnen wiederholte. Außerdem stand der Infanteriezug ohne Korporal da, was eine Durchmischung nachgerade erforderlich machte.

Hauptmann Gollberg betrachtete die diesbezüglichen Entscheidungen und Begründungen der beiden Leutnants durchaus mit Wohlwollen. Auch die Soldaten der Dritten Kompanie rissen sich unter den prüfenden Augen ihres Bataillonshauptmannes sichtlich zusammen und fielen ihren Leutnants durch beinahe schon übertriebene Zackigkeit und den einen oder anderen »Huah!«-Ruf auf.

»Also, Leutnants«, rief Gollberg dann die Offiziere seiner Dritten Kompanie zu sich. »Der Plan ist klar? Wir überholen Euch, bevor Ihr die zwei Säulen passiert habt. Sollten wir uns noch einen weiteren Tag verzögern, brecht Ihr die Mission nicht ab, sondern fahrt auf dem Euch bekannten Weg am Fluss weiter hügellandwärts. Erst wenn Ihr am gesamten zweiten Tag bis zur Abenddämmerung immer noch nichts von uns sehen konntet, habt Ihr die Erlaubnis, zur Festung zurückzukehren.«

»Jawohl, Herr Hauptmann!«, bestätigten Fenna und Gyffs im Gleichklang.

»Aber das wird nicht nötig sein. Wir werden in einigen Stunden ebenfalls aufbrechen. Und dann, meine lieben Leutnants, holen wir mit vereinten Kräften unsere tapferen Jungs und Mädchen aus der Hölle!«

»Jawohl, Herr Hauptmann!« Fenna blinzelte über Gollberg hinweg zu Onjalban hinüber, der wieder ins Lazarett zurückzugehen schien. Zu gerne hätte Fenna ein paar Worte mit diesem geheimnisvollen Mann gewechselt, allein der Zeitplan ließ das nicht zu. Er ärgerte sich jetzt darüber, dass er sich nicht während der Nachtruhe ins Lazarett geschlichen hatte, um den Wärmemagier auszufragen. Fenna war sich noch nicht einmal sicher, wie Onjalban überhaupt aussah. Die langen Haare, der Vollbart und die Tätowierungen schienen alles zu verhüllen.

Die Leutnants und der Hauptmann salutierten sich zu. Dann stiegen Fenna und Gyffs auf ihre jeweiligen Wagen; Gyffs nahm auf dem vordersten Kutschbock Platz. Stodaert und von den Holtzenauen hatten sich ausgiebiger als sie und Deleven mit den Pferden vertraut gemacht, mit ihnen gesprochen und sie beruhigend gestreichelt. Aber es würde auch so gehen. Auf der Akademie hatte Loa Gyffs bereits als Kadett einen Kurs im Lenken von Fahrzeugen belegt.

Sie gab das Kommando. Das Tor nach Norden öffnete sich zum zweiten Mal innerhalb dieses Mondes für die ausrückende Dritte. Diesmal jedoch musste niemand marschieren, das war wirklich weitaus angenehmer.

Die Torposten salutierten. Die Wachhabende auf dem Nordturm desgleichen.

Die vier Wagen rumpelten durch das Tor. Leutnant Fenna schaute nach hinten zur F & L hinauf, aber Oberst Jenko schlief wohl noch. So sehr vertraute er seinen inzwischen allesamt feindeslanderfahrenen Soldaten.

Das Tor schloss sich hinter dem vierteiligen Treck.

Die Felsenwüste der Affenmenschen hatte sie wieder.