10

Kapitel

Am nächsten Morgen trat die Dritte Kompanie mit ihren neuen Frisuren zum ordnungsgemäßen Appell an. Garsid war der Einzige, der sich überhaupt nicht verändert hatte. Behnk, Emara, Teppel, Nelat und Stodaert sahen sich immerhin noch ähnlich. Ekhanner, von den Holtzenauen, Kertz, MerDilli, Resea und Jonis hatten sich deutlich verändert, und Deleven und Kindem sahen mit ihren nun leicht abstehenden Kurzflechtzöpfchen regelrecht kurios aus.

Fenna fand, dass nur einer der Männer sich zum Positiven verändert hatte: »Scheusal« Jeo Kertz, dessen notorisch fettige Haare nun nicht mehr ganz so sehr an schwarze Nudeln erinnernd in seinem Gesicht klebten. Ansonsten war es ein trauriger Anblick. Die beiden Klippenwälder waren wirklich zu bedauern.

Leutnant Gyffs schien sich jedoch an dem, was sie angerichtet hatte, nicht im Mindesten zu stören. Mit blecherner Stimme zog sie das Programm des Tages durch und quälte die Männer mit uderunischen Konditionsübungen, in deren Verlauf sie Bänke stemmen, Fässer wuchten, Seilspringen, Kniebeugen mit einem Stuhl in jeder Hand, Hochspringen und Abducken im Wechsel sowie kurze Hochgeschwindigkeitsläufe absolvieren und hart auf einen Mehlsack eindreschen mussten, bis die Hände aufgeschürft waren. Die Männer vermissten ihre Waffen, aber Gyffs enthielt sie ihnen vor wie unartigen Hunden ihre Lieblingsknochen.

Schon vor dem Mittag klappten Behnk, Teppel und Emara zusammen. Gyffs sagte ihnen in ruhigem Tonfall, sie müssten ihr Pensum eben nachholen, während die anderen sich ausruhen durften.

Am Nachmittag, unter glühender Sonne, knickten auch Ekhanner, Jonis, von den Holtzenauen, Kertz, Nelat, Resea und Kindem nacheinander ein. Zuletzt blieben nur noch Garsid, MerDilli, Deleven und Stodaert übrig.

»Von Tag zu Tag werden es mehr, die bis zum Ende durchhalten, ihr werdet schon sehen«, sagte Leutnant Gyffs. Die Männer waren zu Tode erschöpft. Gyffs und Fenna schickten sie schon weit vor dem Abend in die Freizeit. Das Nachholen des versäumten Pensums konnte Fenna Gyffs für diesen Tag ausreden, weil »es ja schließlich das erste Mal war. Ab morgen können wir dann ernst machen«.

In der Stunde vor Mitternacht verließ Fenna das Leutnantszimmer. Er bemühte sich nicht, unbemerkt hinauszuschleichen. Schließlich konnte man jederzeit die Latrine aufsuchen.

Der Mond schien milchig. Alle Konturen wirkten abgerundet. Fenna begab sich zum Waschhaus, in dem zu dieser Stunde niemand war. Kein Licht brannte. Die überall herumstehenden Bottiche wirkten wie geduckte Raubtiere.

»Ich dachte schon, Ihr würdet kneifen«, kam Reseas Stimme aus der Finsternis.

»Ich wollte dir Gelegenheit geben, es dir noch mal zu überlegen. Schließlich musstest du heute hundert Übungen machen und bist erschöpft, während ich nur zugeschaut habe.«

»So ist das halt. Die Ungerechtigkeit mit dem Kommandieren. Wollt Ihr nur quatschen oder Euch endlich stellen?«

Der Kampf begann in vollkommenem Dunkel, und schon nach wenigen Sandstrichbruchteilen wurde Fenna klar, dass er einen großen Fehler begangen hatte. Was nun folgte, war nämlich kein männlich-ehrenvoller Faustkampf, sondern eher ein Tasten und Grabschen und Ringen, weil keiner der beiden in der Nacht in einem Bottich landen wollte. Schon nach kurzer Zeit waren beide ineinander verkeilt und ließen sicherheitshalber nicht mehr los. Muskeln spannten sich an, Gelenke quietschten. Atem rasselte. Füße rutschten auf seifigem Untergrund. Resea begann, Fennas Hals mit der Ellenbeuge abzuschnüren. Fenna spürte, wie die Blutzufuhr in seinen Kopf abgewürgt wurde, wie eine Ohnmacht oder sogar der Tod nach ihm schnappten. Er durfte nicht aufgeben, er durfte einfach nicht. Das würde ihn zurückwerfen hinter den staubigen Ritt nach Carlyr, weit hinter seine erste Begegnung mit der zukünftigen Dritten Kompanie. Das würde ihn sogar noch hinter den Giftsturm von Chlayst zurückwerfen, hinter das Lazarett, hinter die Kinder, als wäre dies alles vollkommen wertlos gewesen, umsonst geschehen, ein Gelächter trunkener Götter. Reseas Worte von gestern hallten durch seinen blutleeren Schädel: Das kann nicht passieren. Ich kann nicht verlieren. Er wusste sich nicht mehr anders zu helfen: Er riss seinen linken Arm frei und drosch Resea den Handballen gegen die Schläfe, so hart es nur irgend ging. Reseas Griff lockerte sich nicht. Fenna schlug noch mal zu. Resea winselte wie ein malträtiertes Tier, ließ aber immer noch nicht los. Ein dritter Schlag, ein vierter, ein fünfter. Endlich brach Resea zusammen. Fenna wollte ihn auffangen, strauchelte aber selbst. Beide krachten hart gegen Bottiche, rissen sie um, wurden von Restwasser durchnässt und umspült.

»Ich habe ihn umgebracht«, dröhnte es in Fennas Schädel. »Ich musste ihn töten. Jetzt ist alles vorbei. Selbst nach Chlayst werde ich nicht mehr zurückkehren können.« Er fühlte sich elend, fast bereit zum Weinen.

An der Tür war Bewegung von Licht. Eine Laterne. Ein Wachtposten. »Hallo? Ist da jemand?«

Zu Fennas Überraschung war es Reseas Stimme, die antwortete: »Ja.«

»Alles in Ordnung?«

»Ja. Ich … hatte schlecht geträumt und wollte mir den Schweiß runterwaschen. Dabei bin ich im Dunkeln über einen Bottich gefallen. Tut mir leid für den Lärm.«

Der Wachtposten verkantete sich argwöhnisch in der Tür. »Bist du alleine da drinnen? Da gehen doch keine Sauereien vor sich?«

»Wo denkst du hin? Ich bin von der Dritten. Wir wurden heute so gescheucht, dass ich sogar beim Waschen schon auf die Fresse falle.«

»Ja, das habe ich mitbekommen mit dem Scheuchen. Die Neue macht euch ganz schön Feuer unterm Arsch, was? Mein Beileid, Kamerad.«

»Danke, Kamerad.«

Der Wächter und seine Fackel zogen sich zurück.

Fenna traute sich wieder zu atmen. »Ist wirklich alles in Ordnung, Resea?«

Reseas Umriss tauchte vor der Mondlichttür auf wie ein Phantom. »Ja. Meine Mutter kann härter zuschlagen als Ihr. Aber ich denke, Ihr schuldet mir nun etwas, Leutnant. Wenn der Wächter uns beide entdeckt hätte, ware das ein Skandal geworden. Schließlich sind Duelle in der Festung Carlyr ausdrücklich verboten.« Geschmeidig und lautlos, als hätte der Kampf ihn überhaupt nicht beeindruckt, huschte Resea aus dem Waschhaus.

Fenna hatte Mühe, auf die Beine zu kommen. Seine Knie zitterten. Reseas Würgegriff hatte sich angefühlt wie die Umklammerung eines Ungeheuers. Wie war es möglich, dass der stutzerhafte Städter fünf harte Schläge gegen die Schläfe so gut weggesteckt hatte? Fenna hatte mit aller Kraft zugeschlagen, die ihm zu Gebote stand.

Was spielte Gerris Resea bloß für ein eigenartiges Spiel? Wollte er Offizier werden, indem er andere Offiziere kompromittierte und dann erpresste? Das ergab doch keinen Sinn!

Fenna beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken und sich nicht mehr auf derartige Dummheiten einzulassen. Er schlich sich aus dem Waschhaus wie ein Dieb. Auf dem Hof verspürte er eine große Lust auf die Heilerin Ilintu. Ihre nachvollziehbare Abweisung jedoch würde ihn mehr schmerzen als der erbärmliche Kampf im Waschhaus. So kreiste er ein paarmal wie ein Greifvogel um sich selbst und schlüpfte dann zu Leutnant Gyffs ins abgetrennte Zimmer. Gyffs schnarchte leise. Wenigstens von dort würden keine Fragen kommen.

Fenna konnte noch lange nicht einschlafen. Die toten, aufgeschichteten Kinder waren nun ihrer Haare beraubt. Hauptmann Gollberg ritt hinaus in eine Feuersbrunst und brachte nichts zurück außer Scapedo und Resea. Yinn Hanitz schrieb mit Blut seinen Namen an die Wand. Die Hand, die sich erhebt, muss herunterkommen. Die Luft zwischen den Wänden wurde stickig wie ein würgender Arm. Ein Gewitter bahnte sich an. Chlayst breitete sich aus. Die Heugabelmänner marschierten von Süden, aus einer Richtung, in der niemand Gefahren vermutet hatte. Ilintu entfernte sich wieder, weil Fenna keine Zeit und Ruhe fand, um nachzufassen. Leutnant Gyffs stellte sich zwischen sie und versperrte die Sicht auf frühere Ziele. Die hohen Klippen links und rechts der Festung hatten tagelang nur wohltuenden Schatten gespendet. Jetzt aber beengten sie die Festung wie etwas, das den Atem raubte. Der Würgearm eines einfachen Soldaten. Fenna spürte erneut, wie ihm die Sinne und das Leben schwanden, aber es war nur der Schlaf, der ihn schließlich doch übermannte.

Der restliche Sonnenmond erbebte unter Donnern und Blitzen. Sommergewitter suchten den Norden heim und gingen mit Hagelschauern und tiefe Pfützen hinterlassenden Wolkenbrüchen über der Festung Carlyr und der sie umgebenden Landschaft nieder. In den Bergen der Felsenwüste bildeten sich vergängliche Wasserfälle und Rinnsale. Der Boden spiegelte den tobenden Himmel. Alles funkelte und dampfte, wenn die Wolken der Sommersonne wieder ihr Recht einräumten.

Fenna und Resea begegneten sich täglich, als wäre zwischen ihnen nichts Bedeutsames vorgefallen. Resea schien sich sogar wieder mehr anzustrengen, bei Gyffs’ uderunischem Konditionsprogramm bis zum Schluss jeder Übungseinheit durchzuhalten.

Behnk verlor weiter an Gewicht. Kertz hielt jetzt seine Augengläser sauberer.

Hauptmann Gollberg und seine Erste Kompanie ritten zweimal aus und kehrten zweimal regennass mit leeren Händen zurück.

In der Zweiten Kompanie von Hobock & Sells grassierte ein fiebriger Schnupfen, sodass die Heilerin Ilintu neben Yinn Hanitz noch sechs weitere ihrer zehn Lazarettbetten belegt hatte. Fenna erkundigte sich nach wie vor täglich nach Hanitz. Ein beständiges Auf und Ab, das für Persönlicheres keinen Raum ließ.

In der Dritten Kompanie steckte sich niemand mit Fieberschnupfen an, auch deshalb nicht, weil Fenna und Gyffs die Regentage nutzen wollten, um das Marschieren unter erschwerten Umständen zu üben. So hielt die Dritte sich nur noch zu den morgendlichen – wenngleich verkürzten – Konditionsübungen in der Festung auf. Danach ging es nach Süden hinaus, entweder zu den von Fenna geleiteten Kampfübungen oder zu ausgedehnten Märschen durch prasselnden Regen und knöcheltiefen Schlick.

Die Männer wurden graufarben und mürrisch. Selbst ihre Mahlzeiten mussten sie im Regen einnehmen, und verwässerter Kartoffelbrei schlug allen aufs Gemüt.

Garsid wollte in diesen Tagen mit Leutnant Fenna unter vier Augen sprechen.

»Also, was gibt es, Soldat Garsid?«

»Leutnant, es schmeckt mir nicht, von einer Frau herumkommandiert zu werden. In Galliko gibt es so was nicht. Da tun die Weiber ihre Arbeit hinterm Herd und bei den Kindern und mischen sich nicht ins Kriegshandwerk drein, so wie wir ihnen nicht sagen, wie sie den Kindern die Brust zu geben haben. Das ist unnatürlich.«

»Unnatürlich? Selbst unser König ist eine Frau.«

»Ja, und? Die erteilt mir doch keine Befehle. Die ist nur ein … Sinnbild, wie eine Galeonsfigur.«

»Nein, Garsid, da irrst du dich. Die Königin ist die oberste Befehlshaberin der Armee des Kontinents. Alle Generäle tun nur das, was sie anordnet. Du trägst die Uniform der Armee der Königin. Du dienst also einer Frau.«

»Aber dagegen kann man nichts machen! Was kann ich dafür, dass die Königin ein schönes Weib ist? Soll ich deshalb nicht zur Armee gehen?«

»Genau das ist die Antwort auf deine Frage: Sollst du deshalb auf irgendetwas verzichten? Warum denn? Wo liegt überhaupt der Unterschied? Wenn Leutnant Gyffs ein Mann wäre – wäre der Regen jetzt weniger nass, deine Kleidung weniger klamm, deine Haut weniger aufgescheuert vom nassen Zeug, dein Magen weniger leer, deine Füße weniger müde? Denk mal ein bisschen nach, bevor du mich mit diesem Unfug belästigst, und jetzt marsch, marsch zurück ins Glied!«

Fennas Zusammenarbeit mit Gyffs gestaltete sich kompliziert, aber nicht hoffnungslos. Meistens ließ er sie einfach machen. Mit ihrer Prinzipienreiterei und der ihr in Uderun eingebläuten Korrektheit brachte sie ihn so manches Mal zur Weißglut, aber er dachte in den Nächten viel darüber nach und kam zu dem Schluss, dass es sich nicht lohnte, dagegen aufzubegehren. Der Unterschied zwischen einer Akademieoffizierin aus Uderun und ihm selbst war kleiner, als er sich das anfangs eingeredet hatte. Sie hatte noch keine Erfahrung, das war aber auch schon alles. Die soldatischen Regeln jedenfalls beherrschte sie besser als er. Und was war Erfahrung schon wert? Außer den wenigen Überlebenden des Affenmenschenfeldzuges gab es niemanden auf dem Kontinent, der echte Erfahrung in einem Krieg gegen die Affenmenschen besaß. Und da dieser Feldzug eine Katastrophe gewesen war, konnte man dieser Erfahrung keinen besonderen Wert beimessen. Dann gab es einige Offiziere, die Erfahrungen im Kampf gegen Skerber und Wandryer Freibeuter hatten, aber auch dies war ohne Belang für die Lage in der Festung Carlyr. Dann gab es einige Offiziere, die nun gegen die Heugabelmänner vorrückten, aber auch dieser Kampf gegen eine bewegliche, marodierende Horde war nicht zu vergleichen mit der Ausgangssituation angesichts der Affenmenschen, die einen Landstrich von der Größe der Klippenwälder beherrschten. Betrachtete man eine Karte des Kontinents, sah man, dass das Land der Affenmenschen etwa ein Achtel der gesamten bekannten Welt ausmachte. Ein unüberschaubar riesiges Gebiet. Auch Fennas eigene Erfahrungen in Chlayst waren zu spezifisch, um dabei behilflich zu sein.

Fenna fühlte sich nutzlos, von Tag zu Tag mehr.

Vielleicht war es die sengende Sonne, die die Festung selbst an den Regentagen in einen wasserdampfenden Backofen verwandelte und ihn erneut dankbar sein ließ für die Schatten spendenden Klippen links und rechts, die er immer wieder so beargwöhnt hatte. Oder vielleicht waren es die schleppenden Fortschritte der Grünhörner. Oder die allgemeine, stagnierende Festungsatmosphäre mit dem immer wieder sinnlos ausreitenden Gollberg und seinen Matsch aufwirbelnden Mannen. Oder die Tatsache, dass die Affenmenschen überhaupt nicht angriffen, nie angriffen, wenn man sich die Geschichte der Festung Carlyr betrachtete. Oder die Feststellung, dass es zwischen ihm und Ilintu überhaupt nicht vorwärtsging. Was auch immer: Fenna fühlte sich, als sei er nach Carlyr abgeschoben worden, um an den gravierenden, sich überall ereignenden Veränderungen des Kontinents keinen Anteil mehr haben zu können.

Durch Postreiter kamen Neuigkeiten in die Festung. In Furbus hatte ein königliches Bataillon gegen die Heugabelmänner gekämpft und war zurückgeschlagen worden. In Wandry war der Stadtkapitän bei einer geheimnisvollen Detonation ums Leben gekommen. Wandry hatte sich daraufhin ebenso von den Gesetzen der Königin losgesagt wie Skerb, und anstatt einer schwelenden Rivalität zwischen diesen beiden Städten tobte nun ein offener Krieg in der Glutsee. Ein seltsamer Prediger namens Janther Gringarioth Lessett zog durchs Land und scharte Anhänger um sich im Namen einer neuen oder vielleicht auch uralten Religion des Einen Gottes, die den Anspruch der rinweschen Königslinie auf den Thron nicht akzeptierte. In der Nähe des Lairon-Sees hatte eine Schwarzwachsmine der Königin geschlossen werden müssen, nachdem sie von mehreren Horden Aufständischer attackiert worden war.

Nur hier oben blieb alles ruhig.

Das magische Feuer jenseits der Felsenwüste brannte mit waberndem Hauch.

So kam der Feuermond.