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Kapitel

Die Dritte Kompanie verbrachte den ersten Tag nach der Rückkehr mit Nichtstun. Niemand bewegte sich mehr, als es unbedingt notwendig war, aus seinem Quartier heraus. Die Männer sprachen leise über das Vorgefallene, und sie staunten darüber, dass jeder von ihnen etwas anderes zu sehen geglaubt hatte. Andere Heldentaten, andere Peinlichkeiten, andere Missverständnisse, unterschiedliche Versionen von Korporal Garsids Tod. Der Riss, der noch unterwegs den Infanterie- vom Fernwaffenzug getrennt hatte, wuchs langsam wieder zu. Alle Infanteristen hatten mitbekommen, wie immerhin der Fernwaffenkorporal Deleven mit seinen Pfeilen zur Stelle gewesen war und ganze Arbeit geleistet hatte.

Leutnant Fenna ließ sich nicht blicken, den ganzen 12. Blättermond über. Er wurde wohl wegen seines Beines behandelt. Leutnant Gyffs tauchte ebenfalls nicht auf. Also tat man nichts, schlief viel, kurierte die vom Marschieren strapazierten Füße und genoss die Verpflegung, die das Leben in der Armee einem bot.

Am 13. Blättermond wurde Fenna im Lazarett von Hauptmann Gollberg aufgesucht. Unwillkürlich versuchte der Leutnant, im Bett Haltung anzunehmen, woraufhin Gollberg ihm ein »Liegt bequem« gestattete. Er wollte Fenna lediglich darüber in Kenntnis setzen, dass die Erste Kompanie nun aufbrach, um das neu angelegte Proviantlager zu nutzen.

»Und das Donnerwetter?«, hakte Fenna nach.

»Welches Donnerwetter?«

»Unsere Mission. Das Missgeschick, das uns unterlaufen ist. Wann bekommen wir dafür den Kopf gewaschen?«

»Es gibt Wichtigeres, Leutnant. Eure Mission war kein Misserfolg. Der Proviant wurde vergraben, die Raubiels und ihr Wagen beschützt. Dass Ihr Verluste hattet – wer könnte darüber weniger verwundert sein als ich? Ich habe bei einem meiner letzten Vorstöße sogar zwei Männer eingebüßt. Immerhin kennt Ihr jetzt das Land dort draußen. Und, was haltet Ihr davon?«

»Es ist … gefährlicher, als ich mit Worten auszudrücken vermag.«

Der Hauptmann nickte, brach in schallendes Gelächter aus und verließ das Lazarett lachend, bevor Ilintu schimpfen konnte. Die Heilerin mochte es gar nicht, wenn jemand, der nicht behandelt wurde, im Krankenbereich Krach machte.

Am Nachmittag besuchte Leutnant Gyffs das Lazarett. Sie sah schmal aus, eingefallen. Elender als Fenna.

Sie unterhielt sich mit Kindem und Jonis. Jonis wollte aus dem Lazarett entlassen werden, fühlte sich schon längst wieder dienstfähig. Und auch Kindem war verhältnismäßig guter Dinge. »Ich bin als Soldat nicht erledigt«, beteuerte er dreimal. »So, wie Ihr uns das Kämpfen beigebracht habt, Leutnant, ist der linke Arm sowieso nur zum Halten des Schildes da. Man könnte mir den Schild fest an den Oberarm binden. Dann kann ich mit rechts weiterhin ganz normal den Säbel führen.«

»Kindem, willst du den anderen Arm auch noch verlieren?«

»N – nein!«

»Aber genau das wirst du dich nun bei jedem Kampf fragen müssen. Werde ich den anderen Arm auch noch verlieren?«

»Aber … aber was soll ich denn sonst machen? In der Armee habe ich wenigstens Kameraden, die um mich herum sind. Welchen … normalen Beruf kann ich ausüben … mit nur noch einem Arm?«

Er erhielt keine Antwort. Leutnant Gyffs war überfragt. Mit dem Versuch eines aufmunternden Vorgesetztenlächelns eiste sie sich von dem Versehrten los und kam hinüber zu Fennas Bett. Dort musste sie sich am Gestell regelrecht festhalten.

»Und? Wie lange sollst du noch hier liegen?«, erkundigte sie sich schwer atmend.

»Genau genommen kann ich jederzeit aufstehen«, gab Fenna Auskunft. Er widerstand dem Wunsch, aufzuspringen und sie zu stützen. »Aber was wollen wir denn machen? Sollen wir die Männer schon wieder durch die Gegend scheuchen? Zwei bis drei Tage Auszeit nach einer solchen Strapaze sind doch angemessen.«

»Das mag sein. Aber wir müssen dennoch arbeiten. Zwei Dinge gibt es zu klären. Wir müssen einen neuen Korporal für den Infanteristenzug ernennen. Und ich habe mich mit Lement zusammengesetzt und seinen Bericht studiert. Soldat Teppel ist angesichts eines Angriffes in Ohnmacht gefallen. So etwas nennt man Feigheit vor dem Feind.«

»Er ist immerhin nicht desertiert.«

»Nein. Aber wahrscheinlich nur deshalb nicht, weil seine Beine nachgegeben haben. Wir können ihm das nicht durchgehen lassen. Das wäre alleine schon denjenigen gegenüber nicht gerecht, die alles gegeben haben.«

»Also, was schlägst du vor?«

»Drei Tage und Nächte Kerker bei Wasser und Brot.«

»Ich bin einverstanden.«

»Gut. Und der neue Korporal?«

»Ich weiß nicht. Jonis wäre eine gute Wahl. Emara wahrscheinlich auch. Aber ich finde, Kindem hat eine Auszeichnung verdient. Wenn er wirklich in der Armee bleiben kann.«

Gyffs beugte sich zu Fenna hinunter. »Ein einarmiger Korporal? Ist das dein Ernst?«

»Er hat gegen eine Panzerlöwin standgehalten. Das soll ihm erst mal jemand nachmachen.«

Gyffs lächelte. »Weißt du, wer noch vollkommen furchtlos war? Wen ich sogar zurückpfeifen musste, damit er nicht die Verfolgung aufnimmt?«

»Ich kann es mir denken.«

»Aber als Korporal …?«

»Nein. Das wäre zu gefährlich für seinen Zug.«

»Ja. Vielleicht hast du recht. Kindem. Weil er so ziemlich das Schlimmste schon hinter sich hat. Und sich davon nicht unterkriegen lässt.«

»Eben.«

»Soll ich Teppels Bestrafung alleine anordnen?«

»Nein. Ich habe jetzt lange genug herumgelegen. Ich komme mit.«

Der Soldat Breff Adirony Teppel trug seine formelle Rüge vor versammelter Mannschaft mit Fassung. Aber als Leutnant Gyffs ihn fragte, ob er noch etwas dazu zu bemerken habe, senkte er den Kopf und sagte: »Es tut mir leid, Leutnants. Ich weiß selbst nicht, was da mit mir los war. Aber ich glaube, dass mir das gegen Affenmenschen nicht passiert wäre. Es ist passiert … weil es so große, wilde Bestien waren. Das hat mir Angst gemacht!«

»Das nehmen wir zur Kenntnis«, nickte Gyffs streng. »Und wir gehen davon aus, dass du noch Gelegenheit bekommen wirst, diese Behauptung gegen Affenmenschen zu beweisen, Soldat Teppel.«

Teppel nickte und ging seine Strafe antreten. Sein alter Freund Ekhanner klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und wurde für diese kleine Missachtung der militärischen Haltung von seinen Leutnants nicht zurechtgewiesen.

Am 14. Blättermond kam die Priesterin Secesti erneut nach Carlyr, um das Totengebet zu sprechen. Korporal Garsid war so lange in der Kapelle aufbewahrt worden, in einfaches, helles Tuch gewickelt. Die Nächte waren kalt genug für einen Leichnam; sämtliche Soldaten von Garsids Kompanie hatten sich zur einen oder anderen Stunde eingefunden, um ein Gebet zu sprechen oder still ihres Kameraden zu gedenken.

Der Grablegungsritus der Priesterin Secesti, so eindrucksvoll er beim ersten Mal noch gewesen war, erwies sich nun als reine Routine. »Im Glanze der Krone bist du zu den Schatten gefallen, aus den Reihen deiner Kameraden hat dich dein Geschick herausgebrochen, aus den Augen der Königin hat dich ein Sturmwind gerissen, das Alter und die Ruhe bleiben dir verwehrt. Garsid, der du ein Korporal gewesen bist der überdauernden Familie Carlyr – Senchak wird dich nicht vergessen, und wir werden dich ebenfalls nicht vergessen. Du bist gefallen als Korporal, deinem Zug vorausgehend, hast deinen letzten Atemzug getan als Korporal, bist dem Tod entgegenmarschiert als Korporal der Infanterie und wirst in Ewigkeit weitermarschieren in den Reihen der Helden, die vor dir gegangen sind und dir nachfolgen werden. Senchak empfängt deinen Geist, gürtet dich neu in Waffen aus silbernem Licht und erfrischendem Tau und führt dich jener Bestimmung zu, die zu erfassen allein den Göttern vorbehalten ist.« Beinahe genau dieselben Worte hatte die Priesterin auch bei der Beerdigung der beiden Kavalleristen gesprochen.

Garsids Leichnam wurde auf dem Schattenfriedhof in die Erde gesenkt. Es gab dort nun dreiundzwanzig schmucklose Grabstellen, für etwa dreißig weitere war noch Platz.

Die Grünhörner waren unruhig. Besonders die Formulierung »du bist gefallen als Korporal, deinem Zug vorausgehend« stieß ihnen sauer auf. »Das klingt ja, als würden wir bald alle draufgehen«, murrte Sensa MerDilli, und niemand widersprach ihm. Auch dass die Priesterin nichts Persönliches über Garsid zu sagen hatte, enttäuschte. Aber die Soldaten der Dritten mussten sich eingestehen, dass auch niemand von ihnen mehr über Garsid wusste, als dass er aus Galliko stammte und einer von ihnen gewesen war. Selbst seine beiden Zimmergenossen aus Raum I, Nelat und Behnk, hatten keinerlei Kenntnisse von Angehörigen, Vorleben, Besitztümern, Interessen.

Leutnant Fenna beschloss, sich bei Oberst Jenko in dessen Büro erkundigen zu gehen. »Besitzt die Armee eigentlich Unterlagen über die Angehörigen ihrer Soldaten?«

»Ihr fragt wegen Korporal Garsid, nehme ich an? Nun. Das ist ganz unterschiedlich. Ich habe hier zum Beispiel eine Leutnant Gyffs, über die weiß ich eine ganze Menge. Vater, Mutter, sechs Geschwister, eine Heimatadresse und eine Stationierungsadresse auf der Akademie Uderun. Und dann habe ich hier einen Leutnant Fenna. Nichts. Keine Eltern, keine Frau, keine Kinder. Wie vom Himmel gefallen, der Mann.«

Fenna lächelte. »Zu meinen Eltern habe ich keinerlei Kontakt mehr. Sie waren … dagegen, dass ich zum Militär gehe.«

»Aber wie kann man denn dagegen sein?«

»Mein Vater ist kein besonders gesetzestreuer Mensch. Mehr will ich darüber nicht sagen müssen. Es geht mir tatsächlich um Garsid.«

»Tja, und Garsid ist wirklich einer der wenigen, über den ich gar keine Unterlagen habe.«

»Dann kann man das nicht ändern. Er hat einmal von seiner Frau gesprochen, aber keiner von uns kennt ihren Namen. Ich habe noch eine Frage, bezüglich Soldat Kindem.«

»Ja?«

»Können wir einen einarmigen Mann zum Korporal ernennen?«

Oberst Jenko dachte einen halben Sandstrich lang mit geschürzten Lippen nach. Dann antwortete er: »Spricht eigentlich nichts dagegen. Zumal es sein Schildarm ist, nicht wahr?«

»Ja.«

»Er kann also noch kämpfen, und er kann weiterhin marschieren. Der Verlust eines Beines wäre für einen Infanteristen eher das Ende, ha! Ich überlasse das also Euch. Wenn er ein tüchtiger Mann ist, wenn er den Korporal Garsid ersetzen kann …«

»Er verfügt nicht über Garsids Erfahrung mit Affenmenschen. Aber er hat sich im Kampf gegen eine Panzerlöwin bewährt. Wer weiß, welchen Schaden sie noch hätte anrichten können, wenn er sich ihr nicht in den Weg gestellt hätte.«

Indem er dies dem Oberst so referierte, verfestigte sich Fennas Entschluss, Kindem zu befördern. Auch Gyffs hatte nichts mehr dagegen.

Am 15. Blättermond, als die Festung ein nur spärlich mit Laubgirlanden geschmücktes und von der scheppernden Blasmusik der Zweiten Kompanie untermaltes Bachmufest feierte, wurde dem bettlägerigen Armamputierten die Entscheidung verkündet. »Ich bin sprachlos«, gestand er seinen vor dem Bett stehenden Leutnants. »Und ich glaube, dass ›Scheusal‹ Kertz es ebenso verdient hätte.«

»Wir haben Kertz’ Tapferkeit zur Kenntnis genommen. Aber wir halten dich für den geeigneteren Korporal.«

»Ich verspreche Euch, dass ich Euch nicht enttäuschen werde, Leutnants. Ich werde mit meinem einen Arm härter üben als vorher mit zweien. Ich werde ein ganz neuer Ellister Gilker Kindem sein, stärker und umsichtiger denn je!«

Fenna und Gyffs wechselten einen raschen Blick. Kindems Diensteifer war schon beinahe zu viel des Guten. Aber vielleicht ging ja alles mit rechten Dingen zu. Vielleicht hatte er im Kampf einfach nur Blut geleckt und das Gefühl, noch eine Rechnung mit dem Feindesland offen zu haben.

Der Schreiber Lement notierte die neue Struktur der Dritten Kompanie des Zweiten Bataillons und übergab sie an die Festungsleitung.

DRITTE KOMPANIE, ZWEITES BATAILLON

FESTUNG CARLYR

Leutnants:     Fenna, Eremith
     Gyffs, Loa
      
Erster Zug (Infanterie):     Korporal Kindem, Ellister Gilker
     Behnk, Alman
     Emara, Mails
     Jonis, Jovid
     Kertz, »Scheusal« Jeo
     MerDilli, Sensa
     Teppel, Breff Adirony
      
Zweiter Zug (Fernwaffen):     Korporal Deleven, Nilocas
     Ekhanner, Ildeon
     Nelat, Tadao
     Stodaert, Bujo
     von den Holtzenauen, Fergran

Den Abend des Bachmufestes verbrachten die Leutnants Fenna, Gyffs, Hobock und Sells in der Offiziersmesse, alle vier angetrunken und in melancholischer Stimmung.

»Die Festung wird immer leerer«, nörgelte Hobock. »Gollberg ist fast immer weg. Und bei euch hat jetzt das Sterben angefangen.«

»Das Sterben ist nicht ansteckend«, lallte Fenna. »Es ist auch kein Gas, das sich überallhin ausbreitet. Es war ein Unglücksfall, der sich nicht mehr … der sich nicht mehr wiederholen wird!«

»Oha!«, merkte Leutnant Sells auf. »Wärst du bereit, das mit einer Wette zu besiegeln?«

»Dass keiner mehr draufgehen wird unter meinem Kommando? Das wette ich jederzeit! Und weißt du auch, warum? Weil es sich Scheiße anfühlt, wenn einer abkratzt. Ich will das nicht mehr. Ich habe das jetzt einmal mitgemacht und beschließe für mich: Nimmermehr!«

»Nimmermehr. Ich halte einen ganzen Mondessold dagegen.«

»Wogegen?«

»Dass ihr keinen Mann mehr verliert. Und ich will sogar gnädig sein: Ich sage nicht, für immer, ich sage nur: bis Ende des Jahres.«

»Das sind noch viereinhalb Monde, Eremith«, warnte Gyffs, die zum ersten Mal in ihrem Leben mitgesoffen hatte und sich jetzt schon elend fühlte und verkatert und schuldig und unzulänglich als Offizierin. »Das würde ich nicht wetten. Wir wissen ja nicht, was für Aufträge noch kommen.«

»Na und?«, schrie Fenna. »Denkst du, ich habe Angst wegen dem bisschen Geld? Das bedeutet mir gar nichts! Aber dass meine Leute nicht mehr sterben, das bedeutet mir was. Also schlag ein, Teny Sells, du altes Festungsmäuslein. Euch werd ich’s zeigen!«

Sells und Fenna waren kurz davor, die Wette mit Handschlag zu besiegeln, doch Hobock ging dazwischen. »Lass gut sein, Teny. Diese Wette ist nicht gerecht.«

»Warum ist die nicht gerecht?«

»Weil, wenn wieder jemand stirbt, verliert Eremith doppelt. Einen Mann und seinen Sold. Das ist nicht gerecht.«

»Na, na schön, dann wetten wir eben andersrum!«, ließ Teny Sells nicht locker. »Wenn keiner mehr stirbt, krieg ich seinen Sold, und wenn einer draufgeht, kriegt er meinen.«

»Lass einfach gut sein, Teny. Einfach gut.«

Die vier schwiegen eine Weile und tranken gegen das Betrunkensein an.

»So langsam verstehe ich«, sagte schließlich Fenna übertrieben artikuliert. »Ich verstehe, was die Leistung war.«

»Die Leistung? Die Leistung von wem?«

»Von Hauptmann Gayo. Serian Gayo. Beim großen Feldzug. Bisher habe ich immer gedacht: Ist doch keine Leistung. Zu fliehen. Abzuhauen. Während andere da oben vielleicht noch aushalten. Aber jetzt verstehe ich das. Selbst auf dem Rückweg kratzt man noch ab. Dass er das überhaupt geschafft hat, dass er an all den Löwen vorbeigekommen ist, an den Drachen und den Dingern, den …«

»Echsengeiern und Haihunden«, half Gyffs ihm aus.

»Genau. Dem ganzen Gekläffe und Gefletsche. Dass man da überhaupt rauskommt und findet die richtige Richtung und verliert nicht jeden Tag hunderttausend Mann. Ich hab das nicht hingekriegt.«

»Du hast hunderttausend Mann verloren?«, fragte Sells schwankend.

»Ich hab … hunderttausend Mann verloren. Hundert… tausend Korporale.« Fenna salutierte und stach sich dabei beinahe ein Auge aus.

Hobock lachte, dann wurde er schlagartig wieder ernst und traurig.

Das Bachmufest forderte etliche Opfer. Dabei war das Fest gar kein loderndes Rauschen mit einem zentralen Feierplatz auf dem Haupthof. Es ähnelte eher einem Schwelbrand, der sich zusehends vereinzelte, weil niemand sich dazu berufen sah, ihm Einhalt zu gebieten. Die Festung Carlyr hatte innerhalb des letzten Mondes drei Mann verloren und ein vierter Soldat einen Arm. Es herrschte das Gefühl, dieses Unglück mit Hilfe von Alkohol hinfortspülen zu müssen, nicht aus Spaß, sondern geradezu aus Pflichtbewusstsein.

Je länger der 15. Blättermond sich in die Nacht hineinzog, desto mehr Soldaten kotzten und pissten irgendwohin oder wurden von Vorgesetzten oder Wachhabenden in hilflosem Zustand aufgefunden. Von der Zweiten Kompanie erwischte es vier Soldaten, von der Dritten Kertz, Emara, MerDilli, den frisch aus dem Lazarett entlassenen Jonis und von den Holtzenauen. Von den Holtzenauen hatte sogar dermaßen viel über den Durst getrunken, dass Ilintu ihn zur Beobachtung im Lazarett behielt. Das Prekäre an der Situation war, dass die meisten Vorgesetzten ebenfalls besoffen waren. Sämtliche Leutnants schnarchten übel riechend in der Offiziersmesse, Hauptmann Gollberg war mit seiner Kompanie noch nicht zurück. Also oblag es Oberst Jenko höchstpersönlich – unterstützt lediglich von einem ebenfalls nüchtern gebliebenen Korporal der Zweiten Kompanie und von dem nur leicht schwankenden Korporal Deleven von der Dritten – diesen »peinlichen, unmännlichen Schweinestall«, wie Oberst Jenko sich ausdrückte, so gut es ging, auszumisten. Die Volltrunkenen wurden entweder zu Ilintu oder ins Waschhaus zur Rosskur verfrachtet. Einer aus der Zweiten, der Oberst Jenko einen »sauertöpfischen Fettsack« genannt hatte, landete sogar in einer Zelle.

»Unsere Leutnants sind eine Schande. Allesamt!«, schimpfte Oberst Jenko, als er Bedienstete zum Aufwischen von Kotzpfützen durcheinandertrieb.

»Ich möchte mir die Freiheit herausnehmen zu widersprechen«, entgegnete Deleven mit schwerer Zunge. »Im Sinne der Götter, im Sinne Bachmus, ist es gut, das Fest ausreichend zu begehen. Das wird der Festung Glück bringen.«

»Glück, Korporal?« Oberst Jenko lachte, ohne dass sein Gesicht auch nur die geringste Spur von Heiterkeit zeigte. »Glaubt Ihr etwa, eine Festung zu leiten, hat auch nur das Geringste mit Glück zu tun? Ich kann mich nicht auf Glück oder Unglück herausreden, wenn die Königin mich zur Rede stellt. Meine Aufgabe ist es, in dieser Festung das Funktionieren zu garantieren. Und eine solche Sauerei wie dieses Fest wird es hier nicht noch einmal geben, das kann ich Euch versprechen!«

Deleven schwieg, auch weil er sauer aufstoßen musste.

Der Oberst redete sich jedoch von ganz alleine in Rage. »Wisst Ihr, Korporal Deleven, was Glück ist? Glück ist, dass Hauptmann Gollberg nicht in diesem Augenblick zurückkehrt und verfolgt wird und wir die Zinnen bemannen müssen mit Soldaten, die so sternhagelvoll sind, dass sie von ganz alleine in den Hof stürzen. Das ist pures, reines Glück! Aber selbst wenn wir jetzt angegriffen würden, müssten wir funktionieren können. Und wenn fünf Sechstel aller Leute ausfallen, wird eben das verbliebene Sechstel die ganze Wucht abfangen müssen. Das seid Ihr und ich und die Handvoll anderer Pflichtgetreuer, die uns noch zur Seite stehen.«

»Ilintu.«

»Zum Beispiel. Ilintu. Und die Schreiber. Ha! Und Sowis, mein gramgebeugter Adjutant. Das wird ein Gefecht, Korporal, das wird ein Gefecht!«

Der folgende Tag war einer des allgemeinen Ausnüchterns. Niemand bellte laute Kommandos. Alles schien zu schlurfen und der Sonne auszuweichen.

Die Dritte Kompanie begnügte sich mit zwei kurzen Laufübungen und anschließend einem gründlichen Säubern und Ausbessern ihrer Uniformen und Ausrüstung. Soldat Teppel kam nach Absitzen seiner dreitägigen Haftstrafe aus dem Kerker frei und gliederte sich wieder in den Infanteristenzug ein. Korporal Kindem machte an diesem Tag erste Schritte aus seinem Lazarettbett, aber Ilintu befand ihn immer noch für zu schwach, um bereits entlassen zu werden. Der Infanteristenzug wurde deshalb weiterhin von den beiden Leutnants geleitet.

Leutnant Fenna stieg an diesem Tag zweimal auf den Nordturm, um ins Land jenseits der Felsenwüste Ausschau zu halten. Hauptmann Gollbergs Kavallerie war nun schon seit dem 13. dort draußen, seit drei Tagen also. Länger als jemals zuvor, mit ihrer Streckenplanung auf den von der Dritten vergrabenen Proviant vertrauend. Aber dies war das feindliche Land. Garsid war dort umgekommen. Und die zweiundzwanzig anderen, die nun im immerwährenden Schatten ruhten, wahrscheinlich ebenfalls.

Auch am 17. Blättermond stieg Fenna zweimal auf den Turm.

Am 18. sogar viermal. Oberst Jenko war nun ebenfalls dort oben anzutreffen, sein breites Gesicht von Sorgenfalten gezeichnet.

Dennoch waren beide nicht auf dem Posten, als Gollbergs Erste Kompanie in der frühesten Morgendämmerung des 19. tatsächlich zurückkehrte.

Und den Überlebenden mit in die Festung brachte.