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Kapitel

An diesem ersten Tag fuhren sie einem von allen gefürchteten Punkt entgegen: dem Schauplatz des Panzerlöwenangriffs, dem Todesort des Korporals Garsid.

Garsid schwebte wie ein Gespenst über dem Treck. Dieses Gespenst wurde von allen Gemütern erzeugt, bildete sich auf etlichen Gesichtern ab, drehte sich mit in den Speichen der Wagen, glitzerte im Sonnenlicht, schwankte im Heben und Senken der Pferdeköpfe.

Der Kahlrasierte aus Galliko, der mehr Affenmenschenerfahrung hatte als jeder andere von ihnen, die Leutnants eingeschlossen. Aber auch Garsid hatte als Soldat Carlyrs keinen einzigen Affenmenschen zu Gesicht bekommen. Vielleicht gab es sie gar nicht mehr. Vielleicht waren sie ausgestorben oder von Panzerlöwen gefressen worden.

Die Männer dösten wenig, schauten lieber nach vorne und hinten aus den Planwagen heraus, um nahende Feinde so früh wie möglich erblicken zu können. Die Wüste jedoch wirkte wie leer gefegt. Keine Echsengeier, die irgendwo kreisten. Keine Warane oder anderen Reptilien, die über den Boden züngelten. Nach wie vor keine Insekten, nirgends. Der Himmel war silberfarben und ruhig, Bewölkung und Firmament waren ineinandergerührt zu einer Art Mörtel. Der Weg war so eben und breit, dass die Wagen von Gyffs und Deleven nebeneinander fahren konnten. Von den Holtzenauen lenkte seinen hinter den von Leutnant Gyffs und Stodaert seinen hinter den von Korporal Deleven, sodass die Dritte Kompanie eine kompakte Kolonne bildete.

Dann, noch vor der Mittagsstunde, erreichten sie den ehemaligen Kampfplatz. Alle waren überrascht, dass sie schon so früh dort anlangten. Sie konnten sich noch zu gut daran erinnern, wie sie – das Ganze war ja erst neun Tage her! – sechs Stunden bis zur Abenddämmerung und dann noch einmal beinahe genau so lange als taumeliger Fackelzug durch die tiefe Nacht marschiert waren, um von hier aus zur Festung zu gelangen. Jetzt, mit den Wagen, schien das gar nicht weit weg gewesen zu sein.

Der Schauplatz war unverkennbar. Die Panzerlöwin lag immer noch hier, ein Skelett ummantelt mit Hornplatten. Sie hatte ihre Lage verändert wie in einem unruhigen Schlaf – größere Raubtiere hatten an ihr gezerrt und ihre Gliedmaßen in Unordnung gebracht, aber sie sah noch immer riesig und Ehrfurcht gebietend aus. Kein Fetzen Fleisch war ihr geblieben, keine Mumifizierung. Das Skelett war sauber abgenagt und glänzte reinlich unter dem silbrigen Himmel.

Um sie herum war die Erde aufgewühlt. Und da, dieser dunklere Fleck dort, mochte Garsids Blut sein oder dort drüben jener das von Ellister Gilker Kindem.

Die Männer und Loa Gyffs schauten nicht allzu lange hin, als würden sie hier eine Totenruhe stören oder eine Erinnerung, die in der Lage war, sie alle zu lähmen und niederzuwerfen. Alman Behnk rieb sich unbewusst den Arm. Eremith Fenna strich sich über den Schädel. Und alle fragten sich: Wenn es hier keine Insekten gab – wer nagte dann die Knochen so sauber?

Wind kam auf und wirbelte Staub über die Ebene.

Die zwei Säulen voraus begannen sich in den Hüften zu wiegen wie Tänzerinnen.

Der geballte Vierertreck ratterte weiter voran, durch Kies, Erde, trockenen Lehm und leichtes Geröll. Der Wind ließ die Planen Wellen schlagen und gegen die Wagenkästen klatschen. Mehrere der Männer grübelten darüber nach, weshalb die Armee weithin sichtbares Weiß für ihre Wagenplanen verwendete, anstatt auf die Idee zu kommen, die Wagen in Gelb- und Brauntönen zu tarnen.

Das weithin sichtbare Weiß bildete im Wind Figuren und Gesichter aus. Die sechzehn Pferde und vier Kutscher wurden mit schneidendem Sand beworfen. Leutnant Gyffs hielt kurz an, um sich in eine Decke zu hüllen, und fuhr dann mit hochgezogenen Schultern weiter. Sie erkundigte sich bei »Scheusal« Kertz, wie viel Schutz seine Augengläser bei einem Sandsturm boten, doch der erklärte ihr, dass alles – ob Regen, Staub oder Dreck – immer auch hinter die Gläser und in die Augen gelangte. »Und manchmal verfangen sich sogar Viecher dahinter und finden nicht mehr raus, das ist dann wirklich fies.«

Der Himmel verfinsterte sich über dem stürmischen Sand.

Der Treck folgte weiter den tanzenden Säulen.

Am Nachmittag rief Tadao Nelat eine von hinten kommende Bewegung aus. Er wollte schon einen Pfeil einlegen, aber Leutnant Fenna hielt ihn zurück. »Das ist Gollberg«, raunte Fenna heiser.

Zwei Sandstriche lang konnte sich dessen niemand sicher sein, zu unförmig und wütend war die Staubwolke, die sich dort hinter ihnen näherte, aber dann kristallisierten sich tatsächlich Reiter heraus. Der auf seinem Ross winzig wirkende Gollberg. Onjalban neben ihm. Die Korporale. Gerris Resea mitten im geordneten Pulk.

Der Hauptmann grüßte schon von Weitem. Leutnant Fenna grüßte zurück. Dann passierte die erste Kompanie die hinteren Wagen und schloss nach vorne zu Leutnant Gyffs auf.

»Alles ruhig so weit?«, fragte Gollberg.

»Der Wind gebärdet sich heute ein bisschen bockig, Hauptmann«, erwiderte Gyffs. »Wir hatten Euch so früh noch gar nicht erwartet.«

»Ach, wer kann denn schon lange die Füße stillhalten, wenn eine solche Mission ansteht! Der Wind ist normal für den Blättermond, im Nebelmond kann es sogar noch stürmischer werden. Also gut, Dritte Kompanie! Von jetzt an folgt Ihr nicht mehr irgendwelchen Geländepunkten, sondern einzig und allein unserer Spur. Wir werden darauf achten, für Wagen passierbare Wege zu finden.«

»Sehr wohl, Herr Hauptmann. Braucht Ihr jetzt schon Wasser zur Auffrischung? Wir haben genug dabei.«

Gollberg schüttelte nur den Kopf und grinste. Onjalban neben ihm saß sehr seltsam im Sattel, wie jemand, der eingeschlafen war.

Die Erste Kompanie gab ihren Pferden die Fersen und sprengte an der Wagenkolonne vorbei. Leutnant Gyffs vermeinte kurz Reseas spöttischen Blick auf sich zu spüren.

»Angeber«, sagte sie leise.

»Bitte, Leutnant?«, erkundigte sich Mails Emara hinter ihr.

»Nichts, Emara. Nichts.«

Langsamer, als sie sich genähert hatte, wie ein Trugbild, eine sich in sich zusammenziehende Sanderscheinung, verschwand die Erste Kompanie nach vorne, nach Norden, am Horizont.

Ansonsten bewegte sich an diesem ersten Tag um die Wagenkolonne herum kein einziges lebendiges Wesen.

Die Spur der ersten Kompanie hielt bis zur Abenddämmerung genau auf die beiden Felssäulen zu. Gyffs wollte das Risiko, die Spur aus den Augen zu verlieren, nicht eingehen, und ließ halten, eine Wagenburg bilden und Essenfassen. Soldat Behnk kümmerte sich darum, die mitgeführten Proviantpakete schmackhaft anzurichten, aber es wurde auch auf dieser Mission kein Lagerfeuer entzündet, und die Männer murrten und knurrten in Kälte, Dunkelheit und Unbehagen.

Korporal Deleven gesellte sich zu den beiden Leutnants. »Was passiert eigentlich, wenn der Wind die Spur der Ersten verwischt?«

»Ich denke«, antwortete Fenna, »dass Hauptmann Gollberg die Gegend gut genug kennt, um ein solches Problem vorhersehen zu können. Er wird dann den Weg, den wir einschlagen sollen, anderweitig markieren.«

»Mit Manöverflaggen vielleicht«, sagte der Korporal lächelnd und trollte sich wieder zu seinen Männern.

»Ach ja«, seufzte Gyffs, »das Manöver. Man ist fast versucht zu sagen: Das waren noch friedliche Zeiten.«

Fenna tippte sie an die Schulter und bedeutete ihr so, ihm zu folgen. Er selbst stellte sich mitten im Lager auf. »Männer, ich habe heute Morgen keine Rede gehalten, weil ich euch gestern Abend in der Mannschaftsmesse schon ein Ohr abgekaut habe. Aber mir geht etwas durch den Kopf, und ich will das mit euch teilen. Ich weiß, dass ihr euch hier draußen unwohl fühlt. Es ist kalt, es ist windig, es ist finster, es ist feindselig, und wenn wir nicht aufeinander achtgeben, wird das Land uns etwas antun wollen. Aber spürt ihr auch, dass etwas ganz Entscheidendes anders ist als bei unserer ersten Mission? Spürt ihr es nicht auch? Diesmal sind wir nicht alleine hier draußen! Wir sind nicht diejenigen, die den nördlichsten Vorposten des Königreiches verkörpern. Diese schwierige Aufgabe nimmt uns Hauptmann Gollberg mit seiner Ersten Kompanie ab. Wir sind zwischen ihm und dem sicheren Carlyr und in beider Schatten erstaunlich sicher und in Deckung. Dies ist nicht die vorderste Front. Wir sind nur die Nachhut, und alles Gebiet, durch das wir fahren, ist von Gollberg unmittelbar vorher gesäubert worden.«

Gyffs hörte einige Männer ein »Das ist wahr« murmeln. Zögerliche Zustimmung wurde hörbar und brach sich in den Herzen der Männer Bahn. Obwohl kein Feuer entzündet werden durfte, schien die Nacht um eine Nuance heller zu werden.

»Gut gemacht«, sagte Gyffs später zu Fenna.

»Manchmal bin auch ich noch zu etwas nütze«, brummte dieser.

Die Nacht blieb ohne Zwischenfälle.

Ebenso der folgende Tag.

Die Spur der Ersten Kompanie hielt geradlinig auf die zwei Säulen zu, bog dann aber weiter nach Westen ab als der Weg zum giftigen Fluss, den die Dritte Kompanie bei ihrer ersten Mission genommen hatte. Jetzt betraten sie also Neuland. Aber da sie nicht marschieren mussten, sondern Räder unter sich hatten, kam ihnen das Unbekannte verhältnismäßig angenehm vor. Auch, weil Gollberg den Weg vor ihnen zu ebnen schien.

In der Abenddämmerung wurde das Land ringsum langsam welliger und hügeliger, und Fledermäuse tauchten auf. Ganze Schwärme von ihnen, die sich ballten und zusammenzogen und in abstrakten Mustern über den bedeckten Himmel tobten.

»Wenn es hier keine Insekten gibt – was jagen diese Fledermäuse dann eigentlich?«, fragte Soldat Teppel, und niemand wusste darauf eine zufriedenstellende Antwort.

Als die Männer die Wagenburg aufstellten und sich um die Pferde kümmerten, trat Leutnant Gyffs zu Leutnant Fenna und führte ihn ein Stück abseits. »Irgendetwas stimmt hier nicht, Eremith.«

»Wieso? Bislang läuft doch alles glatt.«

»Hat Gollberg denn nicht gesagt, er braucht keinen Proviant von uns, weil er sich noch von dem Lager bedienen will, das wir am 8. angelegt haben? Wir haben jetzt aber einen ganz anderen Weg eingeschlagen! Wir kommen an diesem Lager überhaupt nicht mehr vorbei!«

»Hm. Vielleicht hat Onjalban sich erinnert, wo es stattdessen Wasser und Nahrung geben könnte.«

»Und Gollberg vertraut diesem Mann, der möglicherweise überhaupt nicht mehr richtig zurechnungsfähig ist? Das ergibt doch keinen Sinn, Eremith. Das ist doch keine akzeptable Strategie! Selbst wenn Onjalban nichts Böses im Schilde führt und sich einfach nur irrt, wird die gesamte Erste Kompanie da draußen ohne Wasser und Proviant verrecken!«

»Na, nun mach mal halblang, Loa. So schnell verreckt man nicht. Wir sind doch dicht hinter ihnen. Selbst am Scheitelpunkt der Reise sind wir höchstens zwei Tage entfernt. Sie brauchen nur ihren eigenen Spuren zu folgen, um uns und den Proviant der Wagen zu finden.«

»Das stimmt. Aber wenn wir überfallen und aufgerieben werden, ist die Erste von ihrer Versorgung abgeschnitten.«

»Das mag sein. Aber was willst du mir damit sagen? Dass wir uns dagegen zur Wehr setzen müssen, überfallen und aufgerieben zu werden? Das dürfte ja wohl jedem von uns ohnehin klar sein, auch schon in eigenem Interesse. Nein, nichts hat sich geändert. Gollberg hat uns eingeschärft, seiner Spur zu folgen, weil er ahnte, dass er bald vom uns bekannten Weg abweichen wird. Er folgt Onjalbans Anweisungen, wir folgen ihm. So einfach und überschaubar ist das alles.«

Gyffs war nicht beruhigt, aber sie spürte, wie der Disput zwischen den beiden Offizieren wieder Unruhe in die Mannschaft brachte. Deshalb ließ sie es fürs Erste damit bewenden.

Während der ersten Nachtwache – Korporal Deleven, Teppel und Ekhanner – schwirrte die Luft über der Wagenburg von Tausenden und Abertausenden von Fledermäusen. Die Pferde waren unruhig, und ab und zu ließen sich Fledermäuse auf die Tiere fallen, um ihnen Schnitte zuzufügen und Blut aus ihnen zu lecken. Aber das blieb überschaubar, es waren höchstens ein Dutzend kleine Attacken, und die drei Wachhabenden hatten die Situation einigermaßen unter Kontrolle.

In der zweiten Wachschicht jedoch entschied von den Holtzenauen, der als Kutscher seine Mitwächter MerDilli, Jonis und Behnk koordinierte, die Leutnants zu wecken. Gyffs kam schnell zu sich; Fenna dagegen, der sich zum ersten Mal seit längerer Zeit im Traum wieder in den trostlosen Giftgassen Chlaysts herumgetrieben hatte, war nur schwer wach zu bekommen.

»Was ist denn los?«, fragten die beiden Leutnants.

»Die Fledermäuse haben sich verzogen«, gab von den Holtzenauen Auskunft. Sein Gesicht sah in der Dunkelheit fahl und unförmig aus. »Aber die Pferde sind vollkommen außer sich. Ab und zu raschelt es draußen im Gelände, aber im Dunkeln ist einfach nichts zu erkennen, Leutnants. Ich habe das Gefühl, wir sind umzingelt, aber ich weiß nicht, wovon!«

»Eher etwas Kleineres als Affenmenschen«, ergänzte Jovid Jonis. »Aber was ist, wenn es viele kleine Wesen sind? Haihunde oder so was?«

»Verdammt!«, entfuhr es Fenna. Er drehte sich um sich selbst und versuchte, in der Nacht etwas anderes zu sehen oder zu hören als seinen eigenen Pulsschlag. Mit einem Bein hing er immer noch in Chlayst fest.

»Es geht nicht anders: Wir müssen Fackeln entzünden«, sagte Gyffs. »Wir können nicht riskieren, blind in die Zange genommen zu werden, von wem oder was auch immer.«

»Fackeln machen uns allerdings zu einem attraktiveren Ziel für Drachen, Affenmenschen und wer weiß was noch«, gab Fenna zu bedenken.

»Weiß ich. Aber wenn sich irgendetwas anschleicht und über die Pferde herfällt, haben wir alle ganz schlechte Karten.«

Fenna stimmte zu. Die vier Wachhabenden und die beiden Leutnants entzündeten Fackeln, die ihre Träger jäh blendeten. Dennoch war im aufscheinenden Licht rund um das Lager tatsächlich Bewegung zu sehen.

»Sind das nur Schatten, die sich bewegen?«, fragte Behnk atemlos.

»Nein, das ist irgendein Viehzeug«, widersprach von den Holtzenauen, der seine Fackel fauchend herumschwenkte. »Ratten oder kleine Echsen.«

»Vielleicht sind es Fledermäuse, die aus dem Schwarm gefallen sind«, mutmaßte Fenna. »Ich gehe mir das mal ansehen.« Er meldete sich auch deshalb freiwillig, weil jeder Schritt ihn aus Chlayst hinaustrug.

»Sei vorsichtig!«, mahnte Gyffs hinter ihm. Ihre Fackel ließ sie selbst heller erscheinen als alles Gelände ringsum. Es stimmte, dass eine solche Beleuchtung exzellente Ziele schuf.

Fenna bewegte sich vorwärts und nahm seinen eigenen flackernden Lichtradius mit sich. Die Nacht war nicht windstill, die Fackelflamme verlängerte sich unentwegt in eine Richtung. Fenna folgte dieser Richtung, ohne darüber nachzudenken, bis ihm auffiel, dass er sich verhielt, als sei er in Chlayst. Den Wind im Rücken zu haben ist eine gute Vorgehensweise in einer von Giftgas verseuchten Stadt, aber angesichts von Tieren der Felsenwüste war es eher fahrlässig, seinen eigenen Geruch vor sich herzutragen. Sofort änderte er die Richtung, was nicht nur bei Gyffs ein Stirnrunzeln hervorrief.

Zuerst sah er nichts. Durch den stetigen Wind, der wie Zugluft wehte, warf die Fackel ein verhältnismäßig ruhiges Licht ohne tanzende Schatten.

Dennoch hatte Fenna den Eindruck, dass einige Geröllsteine sich bewegten. Er blieb stehen. Die Steine ebenfalls. Es mochte eine Täuschung gewesen sein, hervorgerufen durch die eigene Bewegung und die funzeligen Randbereiche des Lichtscheins.

Fenna beruhigte sich mit dem Gedanken, dass Haihunde lauter waren als das, was hier raschelte und die Pferde scheuen ließ.

Schließlich hatte er sich mit seiner Fackel mehr als dreißig Schritt vom Lager und der Wagenburg entfernt. Er stand nun alleine leuchtend im Dunkel. Ein nächtlich jagender Drache konnte ihn nun auflesen, bequem, mit sanftem Flügelrauschen.

Fenna schauderte. Was für ein Land! König Rinwe hatte recht daran getan, die Felsenwüste niemals erobern zu wollen.

Dann sah er es. Steine, groß wie Fäuste, bewegten sich seitlich auf knöchernen Beinen. Es waren Tiere, die genau wie die Felsen aussahen. Krebse oder Krabben, die kein Wasser zum Leben brauchten. Fenna zählte mehrere Dutzend von ihnen. Langsam, jeden Geröllstein, den er passierte, nun mit Argwohn betrachtend, kehrte der Leutnant zu seiner Kompanie zurück.

»Das ist – für mich jedenfalls – etwas Neues«, berichtete er. »Da draußen rotten sich Felsenkrabben verschiedenster Größe zusammen, die massivsten scheinen tellergroß zu sein. Die Frage ist nun: Sind das Fleischfresser, oder weshalb sind die Pferde so ängstlich?«

Eine rasche Umfrage ergab, dass keiner der Männer mit diesen Tieren vertraut war. Garsid und sein Wissen wurden erneut schmerzlich vermisst. Und auch der Schreiber Lement oder die Raubiels.

»Die Frage ist: Sind wir schon umzingelt, oder rücken die Viecher nur aus einer Richtung vor?«, formulierte Leutnant Gyffs. »Das sollten wir herausfinden.«

»Und dann?«

»Verlegen wir das Lager irgendwohin, wo es nicht so … wimmelt.«

Fenna war einverstanden. Die Leutnants und Korporal Deleven erkundeten den Umkreis des Lagers. Die Krabben waren schon fast überall, aber in nördlicher Richtung schien es noch einen Durchschlupf zu geben.

Hastig wurden die Pferde angeschirrt. Das war gar nicht einfach, denn die Tiere waren so nervös, dass sie sogar auf die Hinterbeine stiegen. Die vier »Kutscher« taten ihr Bestes, um die Wagen anschließend nach Norden aus dem Krabbengebiet zu führen. Die Soldaten eskortierten sie mit blakenden Fackeln in den Händen und müdigkeitsbleichen Gesichtern.

»Wir müssen vorsichtig sein«, raunte Fenna Gyffs zu. »Was ist, wenn die Krabben uns absichtlich in eine bestimmte Richtung drängen, um uns … ihrem Muttertier oder so was in der Art in die Scheren zu führen?«

»Ihr Götter, Eremith! Wie schlau können Krabben schon sein? Mach uns nicht alle verrückt mit deinen Ideen!«

»Ich weiß auch nicht. Aber es gibt keine Erfahrungswerte. Weiß denn überhaupt jemand mit Sicherheit, was es hier gibt und was nicht? Wir müssen mit allem rechnen, mit allem.«

»Also wird man langsam wahnsinnig.«

»Wahrscheinlich.«

Beide dachten an Onjalban, der beinahe ein Jahr in diesem Land überlebt hatte. Das musste ihn eigentlich den Verstand gekostet haben. Andererseits war er ja vorher schon magisch beschriftet gewesen.

Nach einer halben Stunde des Tastens und Stolperns durch schuttartiges Geröll ließ Leutnant Gyffs halten. »Das muss jetzt reichen. Sonst finden wir morgen Gollbergs Spur nicht mehr wieder. Die zweite Wachschicht erkläre ich hiermit für beendet. Es übernehmen Leutnant Fenna, Stodaert und Nelat. Haltet die Augen offen – ihr wisst nun, worauf es zu achten gilt.«

»Die Pferde werden wieder unsere Augen, Ohren und Nasen sein«, sagte Fenna. Tatsächlich waren die Tiere jetzt ruhiger als noch inmitten der Felskrabben.

Fenna wachte mit Stodaert und Nelat.

Nach einer halben Stunde etwa deutete Nelat nach Norden und wisperte: »Leutnant, könnt Ihr das auch sehen?«

Fenna, der immer noch ein gigantisches Muttertier der Felskrabben befürchtete, strengte seine Augen an. Aber es war kein Schatten unter Schatten, auf den Nelat ihn hatte aufmerksam machen wollen, sondern es waren Lichter. Etliche kleine Lichter in ziemlicher Entfernung.

»Fackeln«, stellte Fenna fest. »Das muss Gollbergs Kompanie sein.«

Er versuchte, die Lichter zu deuten. Bewegten sie sich hektisch, wie in einem nächtlichen Gefecht? Nein. Ihre Muster waren denen der Dritten Kompanie vor etwa einer Stunde ähnlich: Die meisten Lichter bewegten sich kaum, und einige umkreisten die Peripherie. »Sie haben dasselbe Problem wie wir«, sagte der Leutnant lächelnd. »Sie werden von Steinkrebsen belästigt. Wahrscheinlich rücken auch sie bald in einer gemeinsamen Richtung ab.«

Doch das geschah nicht.

Stattdessen bewegten sich nach einigen Sandstrichen auch die innen verharrenden Lichter und verteilten sich außen.

»Was machen sie?«, fragte Nelat. »Halten sie jetzt alle Wache?«

»Ich kann es nicht erkennen.« Die beiden beobachteten weiter, während Bujo Stodaert kerzengrade die anderen Himmelsrichtungen im Auge behielt.

Nach einer Weile konnten Fenna und Nelat kleine Bewegungsmuster bei den Lichtern ausmachen. Sie schienen in komplizierten Mustern eine Art höfischen Tanz aufzuführen.

»Ich glaube, sie bekämpfen die Krabben«, sagte Fenna schließlich. »Es sieht so aus. Sie gehen von Tier zu Tier und erschlagen es.«

»Schrecklich«, entfuhr es Nelat. »Es steht doch noch nicht einmal fest, dass die Krabben überhaupt gefährlich sind.«

Fennas Gedanken rasten. Er dachte nach über die Unterschiede zwischen Gollbergs Erster und seiner und Gyffs’ Dritter. Gyffs und er waren sich schnell einig gewesen, dass ein geordneter Rückzug aus dem Krabbengebiet das Beste wäre. Gollberg dagegen ließ Säbel zücken und auf das Getier eindreschen. War Gollberg der bessere Offizier angesichts der Gefahren der Felsenwüste? Ein Handelnder eher als ein Ausweichender, Zögernder? Sollte die Dritte Kompanie sich an ihrem unmittelbaren Vorgesetzten ein Beispiel nehmen? Aber was wäre dadurch gewonnen? Mindestens einer der Männer wäre im Dunkeln ausgerutscht und von den Krabben angefallen worden. Mindestens zwei hätten sich ihre Säbel an echten Steinen zerbrochen oder zumindest beschädigt. Mindestens drei hätten sich an ihren Fackeln die Finger versengt. Alle hätten über die Unerbittlichkeit dieses Landes gejammert. Niemand hätte irgendeinen Vorteil davongetragen.

Nein, es war besser so. Auf alles gefasst sein. Auf alles achten. Nichts und niemandem vertrauen. Die Leutnants ständig in Sorge, vielleicht schon zu sehr, stellvertretend für alle. Aber vermeidbare Verluste wurden umgangen. Ein einziger Augenblick der Unachtsamkeit genügte schon, und ein kampferprobter Korporal namens Garsid war auf ewig verloren.

Fenna spürte dennoch die Verpflichtung, seinen Hauptmann vor der Kritik eines einfachen Soldaten in Schutz zu nehmen. »Gollberg kennt sich hier besser aus als wir«, sagte er. »Wahrscheinlich ist es sinnvoll, solche Krabbennester auszuheben. Aber im Gegensatz zu uns hat er Erfahrung darin, wie man das am besten anstellt.«

Sie schauten noch weiter den Lichtern zu. Es war gleichzeitig beruhigend und beunruhigend, diese Fackeln beim Tanzen zu beobachten. Beruhigend daran war, mit eigenen Augen sehen zu können, dass man nicht alleine war in dieser Gegend. Beunruhigend jedoch war, dass die Verbündeten dennoch dermaßen weit voneinander entfernt waren, dass bei einem Notfall keine der beiden Kompanien der anderen rechtzeitig würde beistehen können.

Und dann gab es noch einen weiteren erschreckenden Moment nach etlichen Sandstrichen des Beobachtens: Für einen kurzen, unwirklich scheinenden Augenblick waren die fernen Fackeln nicht mehr zu sehen. Sie verloschen von links nach rechts, um kurz darauf von links nach rechts wieder anzugehen.

»Was war das denn?«, hauchte Tadao Nelat mit vibrierender Stimme.

»Keine Ahnung«, sagte sein Leutnant. Etwas Massiges musste sich von links nach rechts durch ihrer beider Blickfeld geschoben haben. Es konnte ein weit entfernter Drache gewesen sein, ein nicht ganz so weit entfernter Affenmensch auf einem Einhorn, ein riesiges Felskrebs-Muttertier oder auch nur eine wenige Hundert Schritt entfernte Eule auf nächtlichem Jagdflug. Alles Gefährliche und Unerhebliche war im Feindesland denkbar, und solange es sich nicht noch einmal zeigte, weigerte sich Leutnant Fenna einfach, in irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen auszubrechen. Die Männer brauchten ihren Schlaf, der nun ohnehin durch die nächtliche Lagerverlegung gestört worden war.

Der Schatten zeigte sich kein zweites Mal. Nach einer weiteren halben Stunde verloschen die fernen Fackeln von Gollbergs Lager und ließen die Nacht zurückschwappen in ihr Bett unter den tiefen Wolken.

Fenna übergab die Wache an Gyffs, Kertz und Emara und schlief, unruhig wie selten, von Umzingelungen träumend und von Yinn Hanitz, der dringlich und eiternd auf ihn einredete, aber kein einziges Wort war zu verstehen.

Am dritten Tag gab es diesmal immerhin kein Gasfeld zu durchqueren.

Die Spur der Ersten Kompanie wiederzufinden war gar nicht so einfach, aber unter Zuhilfenahme der Richtung, in der Fenna und Nelat in der Nacht die Fackeln gesehen hatten, gelang es schließlich Korporal Deleven, die Fährte der Vorhut auf dem felsigen Geläuf auszumachen.

Die Dritte Kompanie folgte in der unermüdlichen Ganggeschwindigkeit der Zugtiere und legte beinahe überhaupt keine Pausen ein. Die Reihenfolge der Wagen hatte sich etabliert: vorne links Leutnant Gyffs, leicht nach hinten versetzt rechts daneben Korporal Deleven, links hinter Gyffs der Wagen, den von den Holtzenauen lenkte, und wiederum rechts dahinter Stodaert, Fenna und Nelat. Leutnant Fenna gewöhnte sich daran, falschherum zu fahren und nach hinten Ausschau zu halten. Am ersten Tag hatte ihm das noch widerstrebt, denn es bedeutete, blindes Vertrauen zu Leutnant Gyffs und den anderen zu haben. Aber es ereignete sich nichts Bedeutsames, was das blinde Vertrauen einfacher machte.

Die Landschaft zog vorüber wie erkaltete Schlacke. Windböen wehten knisternden Sand gegen die Planen, aber nirgendwo Vögel oder auch nur Fliegen. Die Dritte Kompanie fuhr durch bizarr geschichtetes Ödland, eine kleine helle Raute in einer Welt aus Grau und Braun.

Gollbergs breite Spur blieb über weite Strecken unsichtbar. Entweder war der Boden zu fest, oder der Wind hatte bereits frischen Sand über die Spur gestreut. Aber Leutnant Gyffs vertraute darauf, dass der Hauptmann eine Richtungsänderung deutlich gekennzeichnet hätte. Also fuhr sie einfach geradeaus und folgte den Einschnitten im Gelände, die für Wagen passierbar waren. Tatsächlich fanden sie die Spur der Kavallerie so etwa alle halbe Stunde wieder, und das genügte, um wenigstens einigermaßen beruhigt zu sein.

Am späten Nachmittag schließlich trafen sie auf eine soldatische Kennzeichnung: ein paar aufgeschichtete Steine linkerhand, markiert mit einem Ausriss aus dem Taschentuch eines Offiziers. Gyffs ließ anhalten und die Gegend absuchen. Korporal Deleven fand die Fährte wieder, die an dieser Stelle beinahe im rechten Winkel nach links abbog. Voraus war nichts Ungewöhnliches zu erkennen.

»Gollberg kennt dieses Land besser als wir«, sagte der weibliche Leutnant zu ihren Männern. »Entweder voraus ist eine Gefahrenstelle, oder ein Drache oder so was ist dort niedergegangen. Wir können ihm vertrauen, dass sein Weg der richtige ist.«

Die Spur führte nur eine Meile nach links, bog dann wieder nach rechts ab, dann noch mal nach rechts und schließlich nach links auf die ursprüngliche Richtung. Die Erste Kompanie hatte etwas umritten, etwas, was für die Dritte nicht zu erkennen war. Die Männer diskutierten über Drachen, Affenmenschenlager und Haihundrudel. Niemand erwähnte das Wort »Panzerlöwen«.

In der Abenddämmerung flammte der Himmel ungewöhnlich feuerrot auf. Fenna vermeinte den Brand, der auch in der Festung manchmal die Luftwege reizte, deutlicher riechen zu können. Er fühlte sich verwirrt und kränklich, hatte stechende Kopfschmerzen und dann wieder eine verstopfte Nase. Einige der Männer sahen ebenfalls mitgenommen aus. Vielleicht gab es Gasfelder in diesem Land, die schwerer zu sehen und riechen waren als das, was sie bei der Raubiel-Mission zu durchqueren hatten.

Von den Holtzenauen, MerDilli, Jonis und Behnk hatten die erste Wache, alle anderen legten sich hin. Es war empfindlich kalt geworden. Die Männer sehnten sich nach einem prasselnden Lagerfeuer, aber selbst dann, wenn die Leutnants eins gestattet hätten, wäre nirgendwo Brennholz zu finden gewesen.

Fenna wurde geweckt, als die erste Wachschicht beendet war. Er hatte nicht das Gefühl, ein Auge zugetan zu haben. Mit dem morgigen Tag würden sie ihren bisherigen Rekord, was das Vordringen ins Feindesland anging, überschreiten. Ab morgen waren es mehr als drei Tage hin und zurück. Fenna spürte, wie allein schon diese Vorstellung seine Knochen frösteln ließ.

Die Wache blieb ereignislos, aber Fenna verlor sich schier in seltsamen Überlegungen. Er dachte nach über die Stimme Onjalbans. Wie sie wohl klingen mochte. Er hatte sie nie gehört. Hatte Onjalban sich Gollbergs Soldaten überhaupt durch Worte mitgeteilt oder vielmehr durch die Beschriftung seines Leibes?

Die Wachschicht war vorüber, Leutnant Gyffs übernahm. Auch sie sah in dieser Nacht spitzgesichtiger und kleiner aus als jemals zuvor. Die beiden Leutnants vermieden jeglichen Augenkontakt.

Bibbernd lag Fenna in seiner Decke und lauschte dem Knistern des Sandwindes und den Magengeräuschen der Pferde. Zum ersten Mal gelang es ihm nicht mehr, sich an die Straßen von Chlayst zu erinnern. Ihm war, als wäre alles von erstarrter Schlacke und wirbelnden Sandwolken vereinnahmt worden.

Die Nacht zog sich hin, als hätte die Sonne ihre Pflicht vergessen.

Dann endlich graute trübe der vierte Tag.

Nach einem kargen, kalten Frühstück setzte sich die Kolonne abermals in Bewegung.

Und schon am frühen Morgen zeigte der Himmel diesmal Anzeichen von Leben. Es waren Echsengeier in verschiedenen Größen – der Gewaltigste von ihnen erinnerte mit seinen weit gebreiteten Lederschwingen bereits an einen Drachen. Sie strebten aus unterschiedlichen Himmelsrichtungen dem Norden entgegen und führten auch noch kleinere Vögel mit sich, die ein schwarzes Gefieder hatten und wie Raben aussahen, nur mit längeren, im Flug angewinkelten Storchenbeinen.

Jovid Jonis machte eifrig Skizzen und notierte auch viel mit kratzender Feder. Er versuchte, was das Dokumentieren der Landschaft anbelangte, die Aufgaben eines Kartenmachers mit denen eines Schreibers wie Lement in Einklang zu bringen.

»Gefällt mir gar nicht«, sagte der vor ihm auf dem Kutschbock sitzende Fergran von den Holtzenauen.

»Was denn?«

»Diese Vögel. Die fliegen alle dorthin, wo wir auch hinfahren. Wo Gollberg ist. Und was wollen die Viecher da, wenn nicht Beute machen?«

Von den Holtzenauens Wagen war der einzige ohne einen Vorgesetzten an Bord, deshalb konnte niemand dieses Gespräch unterbinden.

»Sind das denn … Aasfresser?«, fragte Alman Behnk bang.

»Na klar«, knurrte Sensa MerDilli. »Echsengeier. Wonach hört sich das denn an? Wenn wir jetzt im Süden wären, in den trockenen Sonnenfeldern oder zwischen Targuzwall und Silberner Krone, und wir würden Schwärme von Geiern auf einen ganz bestimmten Kurs zusteuern sehen, dann wüssten wir, was es dort zu erwarten gibt.«

»Geier bilden keine Schwärme«, widersprach Jovid Jonis. »Höchstens dort, wo das Aas liegt.«

»Na und?«, schnauzte MerDilli. »Das sind eben Echsengeier, die sind anders.«

MerDilli war es auch, der beim mittäglichen Essenfassen laut sagte: »Es ist eine verdammte Schinderei, bei dieser Kälte nichts Warmes essen und trinken zu können.«

»Leutnant Gyffs und ich essen und trinken ebenfalls nichts Warmes, Soldat MerDilli«, entgegnete Leutnant Fenna drohend.

MerDilli knickte sofort ein. »Ich meine ja nicht, dass Ihr uns schindet, Leutnant. Es sind … die Umstände. Dieses Land.«

»Dieses Land, ja.« Fenna blickte sich um. »Und wir alle konnten wählen. Wir konnten zu Hause bleiben bei Muttern am warmen Kamin – oder wir konnten Soldaten werden in der Festung Carlyr. Und wir alle haben dieselbe Entscheidung getroffen. Und Hauptmann Gollberg und Oberst Jenko ebenfalls.«

Die Männer schlürften ihr Quellwasser, kauten ihre Brot- und Keksrationen, ihre Hartwurst und ihren Schnittkäse. Der Himmel war wieder leblos. Nur die Wolken führten darin ihr strudelndes Ballett auf.

Im Laufe dieses vierten Tages passierten sie vier weitere Wegmarkierungen der Ersten Kompanie, allesamt aus aufgeschichteten Steinen plus Stofffetzen bestehend und allesamt dazu angefertigt, auf leichte Richtungsänderungen hinzuweisen auf einem Boden, der zu steinig war für Spuren. Was sie allerdings weder an diesem noch dem vorherigen Tag gefunden hatten, waren Anzeichen für Gollbergs vermeintlichen nächtlichen Kampfschauplatz gegen die Steinkrebse. Es war schwer abzuschätzen, ob Gollbergs Trupp einen oder bereits zwei Tage Vorsprung hatte, aber irgendwelche Überbleibsel eines unruhigen Lagers hätten bei strikter Verfolgung der Spur doch zu sehen sein müssen.

Fenna war nur zu bereit, an Sinnestäuschungen zu glauben.

Dazu kam, dass Tadao Nelat auf einmal vermeinte, einen Affenmenschen gesehen zu haben, und damit die ganze Kolonne in Aufregung versetzte.

»Wie sah er denn aus?«, wollte Leutnant Fenna wissen.

»Groß. Grau. Mit beinahe glatter Haut.«

»So wie diese Felsen da?«

»Ja. Ziemlich genau so.«

»Aber er hat sich bewegt?«

»Ja. Glaube ich zumindest. Ich meine, wir haben uns bewegt … der Wagen hat geruckelt …«

Vegetation tauchte auf, die erste seit zwei Tagen. Es handelte sich um eigenartig verkrüppelte, laublose Bäume, die ihre Zweige anklagend dem Himmel entgegenreckten. Man mochte sie für verwunschene, verwachsene Menschen halten. Doch auch sie bewegten sich nicht. Nicht einmal ihre Zweige zitterten im Wind.

Am späten Nachmittag war es Korporal Deleven, der Leutnant Gyffs meldete, etwas gesehen zu haben. »Ein Flackern, Leutnant. Eine Art Licht, wie Wetterleuchten. Dasselbe habe ich auf der Raubiel-Mission auch schon einmal wahrgenommen, in der Nacht am frisch angelegten Proviantlager.«

»Wo denn, Korporal? Ich kann nichts entdecken.«

»Weit voraus, dort drüben. Zweimal hat es geflackert.«

»Aber es ist doch noch hell.«

»Ich habe es dennoch gesehen. Ich irre mich bestimmt nicht.«

Die meisten, auch Fenna, starrten jetzt nach vorne. Nichts flackerte, und man diskutierte angeregt darüber, wie gut ein Wetterleuchten am helllichten Tag überhaupt zu erkennen war. Das war dann auch das Ergebnis des angestrengten Ausschauhaltens: dass Deleven sich wohl nicht geirrt hatte, aber es nichts weiter gewesen war als ein fernes Unwetter.

Bis zur Dämmerung fragten sich nun alle, wie das wohl sein musste, in diesem Land von einem blitzetobenden Unwetter heimgesucht zu werden. Ängste schossen ins Kraut. Unabhängig voneinander dachten die beiden Leutnants darüber nach, ob es nicht besser für die Moral der Truppe wäre, wenn die Männer mit Marschieren beschäftigt waren, anstatt den ganzen Tag herumzusitzen und Zeit und Luft für Spukgeschichten zu haben.

Beim Aufschlagen des Nachtlagers wurde die allgemeine Unruhe diesmal von Mails Emara angefacht. »Wisst ihr, Jungs, warum wir diesmal nichts zu sehen und zu hören kriegen? Keine Haihunde, keine Drachen, keine Kleinechsen, nichts? Weil sich etwas zusammenbraut! Etwas Großes!«

»Es gibt eine ganz einfache Erklärung dafür, warum wir diesmal nichts zu sehen bekommen«, setzte Leutnant Gyffs den Männern geduldig auseinander. »Hauptmann Gollberg ist hier durchgeritten. Und dieser Trupp ist nicht nur größer als unserer – doppelt so groß, was die Mannstärke angeht –, sondern reitet auch schneller, wirbelt mehr Staub auf, macht mehr Geräusch, ist also einfach weitaus interessanter als wir. Gollberg zieht alles neugierige und gierige Leben hier an – und was er nicht anzieht, verscheucht er nachhaltig. Deshalb bleiben wir in seinem Kielwasser und Windschatten unbehelligt, und das ist doch ausgesprochen in Ordnung so.«

Die Grünhörner schnatterten noch ein wenig, wurden insgesamt aber merklich ruhiger.

»Du bist eben die Mutter der Kompanie«, sagte Fenna anschließend scherzend am Rande des Lagers zu Gyffs und fing sich dafür einen Hieb gegen die Schulter ein.

»Diese Fehlmeldungen müssen aufhören, Eremith«, sagte Gyffs ernst. »Wenn jetzt jeder bei jedem zuckenden Schatten einen Affenmenschen ausruft oder einen nahenden Wirbelsturm, haben wir es hier bald mit nackter Panik zu tun.«

»Wir können den Männern nicht den Mund verbieten, Loa. Eine dieser Fehlmeldungen könnte vielleicht keine Fehlmeldung sein.«

»Ja, das weiß ich auch. Aber wir müssen den Deckel draufhalten, damit sich die Männer nicht gegenseitig mit ihrer Schwarzseherei anstecken.«

»Auf dieses Land passt kein Deckel. Ihr Götter, es kann einfach alles passieren! Niemand hat jemals erforscht, was für Lebewesen oder sonstige Gefahren es hier gibt.«

»Hast du Angst?«

»Natürlich habe ich Angst. Du etwa nicht?«

Loa Gyffs blieb ihm die Antwort schuldig. Stattdessen musterte sie Fenna aus der Dunkelheit heraus, als versuche sie zu ermessen, ob im Ernstfall überhaupt noch Verlass auf ihn war.

Auch er stellte sich diese Frage, später, während seiner Wachschicht und in der langen Schlafpause danach.

In der Luft lag ein seltsames Geräusch, das wie ein fernes Singen klang, aber wahrscheinlich nur vom Wind herrührte, der durch irgendwelche Gesteinsformationen pfiff.

Ansonsten war die Nacht bar jeglicher Bewegung.