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Kapitel

Der freie Tag für die Truppe verging ohne besondere Vorkommnisse. Die Heilerin Ilintu entließ alle Manöververwundeten aus ihrer Obhut. Die Grünhörner von der Dritten traten beim Essenfassen und im Waschhaus ein wenig breitbeiniger und stolzgeschwellter auf als in den Wochen zuvor, aber es kam nicht zu Reibereien, auch nicht mit der Ersten, auch nicht zwischen Resea und Fenna. Der General und seine bezaubernden Damen waren abgereist. Die Dritte Kompanie hatte ihre erste Prüfung bestanden. Weiter war nichts.

Fenna kümmerte sich an diesem Tag eigenhändig darum, dass »Scheusal« Kertz neue Augengläser erhielt. Zu diesem Zweck sollte der Postreiter, der ohnehin jede Woche in der Festung vorbeikam, Angaben nach Fairai weiterleiten, die der Waffenmeister über die benötigte Gläserstärke ausgemessen hatte. Bis aus Fairai dann das neu geschliffene Ersatzglas eintraf, musste »Scheusal« Kertz sich mit dem behelfsmäßig zurechtgebogenen Gestell, dem einen Glas und einer Augenklappe begnügen – es war einfacher, das glaslose Auge ganz abzudecken, sonst irritierte es nur durch milchige Unschärfe das andere Auge. Kertz trug die Augenklappe mit unübersehbarem Stolz wie eine Kriegsverletzung.

Ansonsten gab es als weiteres freudiges Ereignis den schon von vielen herbeigesehnten zweiten Sold – vier weitere Taler zum Verprassen –, und am 3. Rauchmond begann die Reitausbildung durch Hauptmann Gollberg, seine Korporale und ausgesuchte Angehörige der Ersten Kompanie, die ihre eigenen Pferde zur Verfügung stellten.

Es bestätigte sich, was Fenna bereits von seinen Männern erfahren hatte: Deleven, von den Holtzenauen, Resea, Jonis und Stodaert waren ausgezeichnete Reiter, Emara war nicht ausgezeichnet, aber allemal sicherer und unbefangener auf einem Pferd als Fenna. Behnk, Teppel, Ekhanner, Garsid, Kindem, Kertz, MerDilli und Nelat hatten noch niemals zuvor auf dem Rücken eines Pferdes gesessen, und auf diese acht konzentrierte sich die Ausbildung. Gyffs war hervorragend im Umgang mit Pferden – neben Resea und Stodaert war sie die Einzige, die sogar Hindernisse auf einem Pferd sicher überspringen konnte. Fenna fand meistens irgendwelche Ausreden, sich zu drücken, aber dem Hauptmann Gollberg entging das nicht, und so zwang er den Leutnant dazu, ebenfalls Reitstunden zu nehmen. Von den sechs heftigen Stürzen, die es in dieser Woche gab, verursachte Fenna einen, MerDilli zwei und Kertz drei. Die leichteren Unfälle wie langsames seitliches Herunterplumpsen vom Pferd oder Mitgeschleiftwerden beim Auf- und Absteigen wurden gar nicht erst gezählt.

Am Ende der zehntägigen Ausbildung konnten sich alle Angehörigen der Dritten Kompanie einigermaßen gewandt auf Reittieren bewegen – bis auf Leutnant Fenna und »Scheusal« Kertz. Vor Kertz hatten die Tiere Angst. Gollberg führte dies auf einen »wohl sehr spezifischen Körpergeruch« zurück. Fenna wiederum konnte weiterhin seinen übertriebenen Respekt vor den Tieren, die er als »riesig« empfand, nicht abbauen. Wie auf dem Ritt von Ferbst zur Festung Carlyr konnte er sich zwar im Sattel halten, aber jedes Pferd verfiel unter ihm in eine unruhige Gangart und tat Fennas Steißbein alles andere als gut.

»Das könnte hoffnungslos sein«, scherzte Gollbergs Korporälin, »aber in der Armee soll man die Hoffnung ja nie aufgeben.«

Resea grinste hämisch über Fennas Unvermögen, während er selbst wie schwerelos über Balkenhindernisse hinwegsetzte und sich mehr in den Reihen der Ersten Kompanie aufzuhalten schien als in denen seiner eigenen.

In der zweiten Woche des Rauchmonds trieb Leutnant Gyffs die Fernwaffenausbildung der Dritten Kompanie voran, während Hauptmann Gollbergs Erste sich wieder ins Feindesland hineinbegab, um nach versprengten Überlebenden des Affenmenschenfeldzugs Ausschau zu halten.

Ein Plan reifte in Gyffs’ Kopf. In ihrem gemeinsamen Zimmer erzählte sie eines Abends Fenna davon.

»Ich bin dafür, dass wir die Kompanie in zwei Züge aufteilen: einen Fernwaffenzug und einen Infanteriezug, beide unter der Leitung eines Korporals.«

»Über Korporäle haben wir schon einmal diskutiert. Aber wir konnten uns nicht wirklich auf Kandidaten einigen.«

»Inzwischen finde ich es ziemlich eindeutig. Resea muss Korporal des Fernwaffenzuges werden. Dieser Mann kann einfach alles: Er reitet am besten, er schießt am besten, er ist einer der effektivsten Kämpfer …«

»Er ist ein Arschloch.«

»Warum sagst du das immer wieder? Ohne ihn hätten wir das Manöver nicht gewonnen, er hat uns mehr oder weniger im Alleingang den ersten und auch den zweiten Punkt beschert!«

Fenna rieb sich mit beiden Händen das müde Gesicht. Die beiden Leutnants hatten den das Zimmer teilenden Vorhang beseitegeschoben, um besser miteinander sprechen zu können. »Wenn wir ihn zum Korporal ernennen, wird ihn das einerseits zwar stärker in unsere Kompanie einbinden, weil er dann Verantwortung übernehmen muss und nicht die ganze Zeit nur an sich selber denken kann – aber andererseits können wir ihm doch nicht allen Ernstes das Leben anderer Menschen anvertrauen! Das … kümmert ihn doch gar nicht, ob da jemand krepiert oder nicht! Er will … Gollberg oder Jenko beeindrucken oder jeden Weiberrock, dessen er ansichtig wird, aber niemals wird er sich um seine Männer kümmern, so wie du und ich das tun.«

»Du favorisierst also weiterhin Deleven.«

»Auf jeden Fall. Deleven ist viel ruhiger, abgeklärter. Dem würde ich sogar mein eigenes Leben anvertrauen, wenn es hart auf hart kommt.«

»Hm. Ich weiß ja nicht.«

»Wer soll denn den Infanteristenzug führen?«

»Garsid.«

»Da bin ich mit dir einer Meinung. Er ist sperrig, aber seit dem gewonnenen Manöver gibt er sich deutlich mehr Mühe. Er hatte anfangs Schwierigkeiten, eine weibliche Vorgesetzte zu akzeptieren.«

»Das ist mir nicht entgangen, das kannst du mir glauben, Eremith. Ich kann solche rückständigen Kerle eigentlich nicht ausstehen, aber es geht hier nicht um mich, sondern um die Kompanie, und Garsid scheint mir die richtige Mischung zu sein aus Erfahrung und Fähigkeiten.«

»Also gut. Korporal Garsid.«

»Und Korporal Resea. Bei Deleven werde ich das Gefühl nicht los, dass er etwas verborgen hält. Dass etwas Dunkles um ihn ist.«

Fenna hatte ihr nie erzählt von dem Schwertmann Vierter Rang, der mit der Bande von Malk Falanko geritten war und einhundert Menschen auf dem Gewissen hatte. Er schämte sich dafür, dies Gyffs zu verheimlichen, aber er konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass Nilocas Deleven ihm dies überhaupt nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut hatte. »Loa, ich werde mit einem Korporal namens Resea nicht klarkommen, das kann ich dir jetzt schon versichern.«

»Dann lass uns einen Kompromiss schließen: Wir teilen die Kompanie nicht in zwei gleich große Züge, sondern Reseas Zug wird kleiner als Garsids. So richtig gute Bogenschützen sind ohnehin nur Resea, Deleven und von den Holtzenauen. Dann nehmen wir noch Stodaert, Nelat und Ekhanner dazu, die sich in den letzten Tagen am deutlichsten gesteigert haben, und schon haben wir einen Sechserzug mit Bögen und einen Achterzug mit Schilden.«

Fenna ließ sich das durch den Kopf gehen. Schließlich nickte er. »Ich bin einverstanden. Aber unter zwei Bedingungen.«

»Ja?«

»Wir nennen Reseas Zug den Zweiten Zug, weil die Fernwaffenleute in Marschformation hinter den Infanteristen gehen.«

»Hinter den Infanteristen? Aber das verschenkt doch wertvolle Reichweite.«

»Kaum. Sie können über die Infanterie hinwegschießen. Aber die Infanterie kann so viel besser als Schutz für die Fernwaffenleute dienen.«

»Und du willst, dass Resea lediglich den Zweiten Zug bekommt.«

»So ist es.«

»Na gut. Und die zweite Bedingung?«

»Du bringst Oberst Jenko bei, dass wir eine Beförderungssolderhöhung für zwei unserer Männer brauchen.«

»Das wird überhaupt kein Problem.«

Gyffs kümmerte sich darum, und bereits am 22. Rauchmond wurden Garsid und Gerris Resea vor versammelter Dritter Kompanie von ihren beiden Leutnants Fenna und Gyffs feierlich zu Korporälen befördert. Der Schreiber Lement war anwesend, um die neue Struktur der Dritten Kompanie des Zweiten Bataillons schriftlich festzuhalten.

DRITTE KOMPANIE, ZWEITES BATAILLON

FESTUNG CARLYR

Leutnants:     Fenna, Eremith
     Gyffs, Loa
      
Erster Zug (Infanterie):     Korporal Garsid
     Behnk, Alman
     Emara, Mails
     Jonis, Jovid
     Kertz, »Scheusal« Jeo
     Kindem, Ellister Gilker
     MerDilli, Sensa
     Teppel, Breff Adirony
      
Zweiter Zug (Fernwaffen):     Korporal Resea, Gerris
     Deleven, Nilocas
     Ekhanner, Ildeon
     Nelat, Tadao
     Stodaert, Bujo
     von den Holtzenauen, Fergran

Gerris Resea nahm seine Beförderung mit unbewegter Miene entgegen. Weder schien er sich zu freuen noch sonderlich überrascht zu sein. Fenna konnte sich nicht erinnern, schon einmal jemals einer Beförderung beigewohnt zu haben, für die der Beförderte nicht einmal ein Achselzucken übrig zu haben schien. Gyffs immerhin war stolz auf ihren Lieblingssoldaten Resea.

Der frischgebackene Korporal Garsid hingegen war immerhin ordentlich aufgeregt. Er schien die Möglichkeit, beim Militär befördert zu werden, bislang noch nicht im Mindesten in Betracht gezogen zu haben. Vor einem Mond noch hatte Garsid sich despektierlich über das gesamte Uniformtragen geäußert. Fenna wäre beinahe eine Wette eingegangen, dass Garsid bald aus der Armee austreten würde. Aber dann hatten die Vorbereitungen auf das Manöver den kampferprobten Gallikoner wohl doch in ihren Bann gezogen, und seit dem Manöversieg wirkte er wie ausgewechselt: Er war mit Feuereifer bei der Sache und glaubte daran, dass seine Kompanie etwas taugte. Dafür wurde er jetzt ausgezeichnet, und er dankte sowohl Fenna als auch Gyffs, die sich in seinen Augen wohl bewährt hatte.

Auch die übrigen Grünhörner waren stolz auf die ersten beiden Unteroffiziere, die aus ihren Reihen hervorgegangen waren. Nilocas Deleven ließ nicht erkennen, ob er enttäuscht darüber war, nicht berücksichtigt worden zu sein. Einzig der ehrgeizige Bujo Stodaert wirkte ein wenig wie jemand, der ein persönliches Getroffensein zu überspielen versucht.

Alman Behnk äußerte sich besorgt über die neuerliche Einteilung der Kompanie in Züge. »Das wird ja immer komplizierter! Wenn man sich jetzt korrekt melden möchte, muss man dann sagen Regiment Festung Carlyr, Zweites Bataillon, Dritte Kompanie, Erster Zug oder Erster Zug, Dritte Kompanie, Zweites Bataillon, Regiment Festung Carlyr?«

»Das Erstere ist richtig«, antwortete Fenna nachsichtig lächelnd. »Die Information über das Regiment ist die wichtigste. Alles Weitere ordnet sich dem unter.«

Leutnant Gyffs’ Steckenpferd – der Fernwaffenzug – wurde mit nagelneuen Langbögen aus Bergulmenholz von den Südhängen der Steinwüste ausgerüstet. Einzig Deleven bekam einen Kurzbogen aus hesselyscher Eibe. Das verringerte zwar seine Reichweite, aber bei den Übungen hatte sich gezeigt, dass Deleven mit einem Kurzbogen doppelt so schnell nachladen, zielen und schießen konnte als die anderen mit ihren Langbögen. Gyffs, die den Fernwaffenzug auch weiterhin unter ihre Fittiche nehmen wollte, beabsichtigte, diesen zusätzlichen Schuss im Ernstfall als Überraschungsmoment einzusetzen.

Oberst Ibras Jenko ließ sich am 24. Rauchmond die neu strukturierte Dritte Kompanie vorführen. Der Fernwaffenzug gab ein paar Übungsschüsse auf Strohziele ab, und Korporal Resea und die Soldaten Deleven und von den Holtzenauen trafen mit jedem ihrer Schüsse. Der Infanteristenzug präsentierte unter Korporal Garsids Kommando ein paar Formationen zum Schutz des Fernwaffenzuges und stürmte einmal beherzt gegen einen überhaupt nicht vorhandenen Feind vor.

Oberst Jenko war zufrieden und stimmte mittelfristig einer Aufstockung der Dritten Kompanie auf die ansonsten üblichen dreißig Mann zu.

Dann, am 25. Rauchmond, hielt zum ersten Mal, seitdem Eremith Fenna hier Dienst tat, der Tod Einzug in der Festung Carlyr.