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Kapitel

Fenna entwickelte unentwegt Pläne. Es war, als wäre seine Befehlsverweigerung ein Damm gewesen, der nun, durch die Überwindung jener Irritation, geborsten war. Sein Gehirn raste wie das eines Besessenen.

»Wir sollten eine Art Fluchtwagen konstruieren«, überlegte er laut. »Mit dem wir auch auf Einhörnern reitenden Affenmenschen gut entkommen können. Ist es möglich, die Deichsel eines der Wagen so zu verlängern, dass wir acht Pferde vorspannen können anstatt vier?«

Diese Möglichkeit wurde zwischen den Wagen ausgiebig diskutiert und schließlich verworfen. Selbst wenn man eine Deichsel verdoppelte, war es immer noch fraglich, ob die Pferde dermaßen angeschirrt werden konnten, dass sie sich zu acht nicht gegenseitig behinderten. Auch war davon auszugehen, dass diese Pferde es einfach nicht gewohnt waren, in einer langen Reihe hintereinandergespannt zu sein. Da keiner in der Kompanie ein echter Pferdekenner oder erfahrener Kutschenlenker war, erschien das Risiko zu groß. Statt eines besonders schnellen Wagens hatte man so einiger Wahrscheinlichkeit einen besonders langsamen.

»Dann machen wir es anders«, erwog Fenna als Nächstes. »Wir leeren einen der Wagen komplett. Dadurch sind dessen Pferde ausgeruhter. Im Notfall können wir alle auf diesen Wagen steigen, um möglichst schnell Abstand zwischen uns und etwaige Verfolger zu bringen.« Diesen Vorschlag fand Leutnant Gyffs gut. Es brachte ohnehin nichts, so wenige Männer auf drei Wagen aufzuteilen. Also blieb von den Holtzenauen auf seinem Wagen als Kutscher alleine, während MerDilli zu den Leutnants stieg und Jonis in den Wagen von Korporal Deleven. Auch die Proviantkisten und Wasserfässer aus von den Holtzenauens Gespann wurden in die anderen beiden umgeräumt. Das ging alles sehr zügig vonstatten.

Kurze Zeit später wurde auf Fennas Intervention hin noch einmal nachgebessert: Stodaert stieg ebenfalls zu den Leutnants in den ersten Wagen, weil so alle drei Gespanne nun über je einen Fernwaffenmann verfügten, der entsprechend nach vorne freies Schussfeld hatte.

Wiederum kurz darauf hatte Fenna eine weitere Idee: Gyffs sollte das Kutschieren des ersten Wagens Stodaert überlassen und stattdessen Wagen zwei übernehmen, sodass sich Deleven als Korporal freier bewegen konnte. Außerdem wären dann beide Leutnants wieder besser verteilt, was im Falle eines Angriffs auf den ersten Wagen von Vorteil wäre. Aber Fenna traute sich schon gar nicht mehr, dies vorzubringen, weil Gyffs ihn schon genervt ansah, wenn er nur den Mund aufmachte. Es musste auch so gehen. Es gab keine ideale Verteilung von neun Mann auf drei Wagen, die allen Eventualitäten Rechnung trug.

Sie bewegten sich durch zähes Gelb. Die quälende Helligkeit des Himmels wurde langsam schwächer. Der Nachmittag verging. Mehrere Stunden waren sie nun schon seit der Begegnung mit Gerris Resea unterwegs, ohne irgendein Anzeichen einer nahen Schlacht entdecken zu können. Keine kreisenden Echsengeier oder andersgeartete Flugwesen. Keine fernen, gebrochenen Echos von Waffenklirren. Nichts. Das Land lag tot und dumpf. Niemand konnte sich mehr vorstellen, dass Hauptmann Gollberg und seine Reiter überhaupt noch am Leben waren.

Fenna betrachtete seine eigenen Kinder, sah in ihre angespannten Greisengesichter und dachte über jeden Einzelnen nach.

Die Untergebenen.

Die Schutzbefohlenen.

Soldaten.

Auf diesem Wagen: drei von jenen vieren, die sich seit dem ersten Tag ihrer Ausbildung kaum verändert hatten. »Scheusal« Kertz, weil er keine andere Wahl hatte, als zu bleiben, wer er war. Stodaert, weil er zu sehr auf seinem eigenen Rückgrat fußte, um aus seiner Haut zu können. MerDilli, der körperlich zu stabil und geistig zu träge war, um sich allzu weit zu bewegen.

Der Vierte, der sich nicht verändert hatte, steuerte den zweiten Wagen: Deleven. Er hatte einfach schon zu viel erlebt, um noch beeindruckbar zu sein. Sein Blutzoll war ungleich höher als der wahrscheinlich jedes anderen Soldaten der Festung Carlyr. Fenna fragte sich, wie wohl Delevens Albträume aussahen und mit wie vielen Stimmen sie schrien.

Dann waren da diejenigen, die kaum noch wiederzuerkennen waren, und zu denen zählte der Leutnant auch jene vier, die jetzt bereits Richtung Festung unterwegs waren: Behnk, der mit jedem Tag weiter dahinschwand, bis eines Tages vielleicht nichts mehr von ihm bleiben würde als sein großer Glückslöffel. Ekhanner, der in seiner Verwirrt- und Überfordertheit nicht mehr Zuflucht suchte in Rängen, Festungsummauerungen und festgefügten Tagesabläufen, sondern in den Göttern selbst. Nelat, der immer noch wie ein Mädchen aussah, aber nun wie ein ältliches, das niemand mehr zur Trauung führen würde. Emara, der keine roten Bäckchen mehr hatte wie zu Beginn, sondern der mit seinem lustigen Trachtenaufzug auch sein Lachen für immer abgelegt zu haben schien. Diese vier immerhin hatten eine echte Chance, unbeschadet aus dem Desaster namens Augenlicht hervorzutreten.

Dann gab es noch die, die jetzt dabei waren. Jonis, ein Kind immer noch, aber eines, das zu wissen schien, dass es unheilbar erkrankt war, und das mit großherziger Tapferkeit versuchte, einem den Abschied nicht allzu schwer zu machen. Und Teppel, der mit jedem Tag ein Jahr alterte, der jedem Abend lebendigen Leibes entgegenstarb, weil ihn nichts mehr hielt. Fenna fragte sich, warum Teppel nie über seine Frau gesprochen hatte, die Mutter seiner Söhne, die nun schon dreifach verlassen worden war. Fenna fragte sich auch, warum es einen Begriff gab für Kinder ohne Eltern, aber keinen für Eltern, die ihre Kinder verloren hatten. Vielleicht, weil dies im großen Plan der Götter eigentlich gar nicht vorgesehen war?

Und dann gab es noch Fergran von den Holtzenauen. Den Einzigen von allen, der sich wahrhaftig verbessert hatte. Der sich über seine Möglichkeiten und Fähigkeiten klar geworden war und sich nun in der Lage sah, Verantwortung zu übernehmen und hilfreich einzugreifen. Er schmerzte Fenna am meisten. Dass er sich freiwillig gemeldet hatte. Wo er doch in der Festung und außerhalb, in der Welt, in der es ein Chlayst gab, so vieles hätte ausrichten können. Was war denn die Mission Augenlicht angesichts einer Stadt wie Chlayst? Nur eine Eitelkeit. Der Größenwahn eines einzelnen Hauptmanns, der vom Feindesland in einer ihm angemessenen Härte bestraft wurde.

So rollten sie dahin durch das klebrige Gelb, folgten der Spur eines einzelnen Flüchtlings und dem Phantom einer Kompanie.

Und dann endete es.

Im Sand voraus bildeten sich Konturen.

Ohne Bewegung. Die Konturen wuchsen, weil die Kolonne der drei Wagen sich bewegte.

Zuerst sah es aus, als wäre dort vorne ein gigantischer schwarzer Drache gelandet. Die Männer hielten den Atem an.

Dann spaltete der Drache sich auf.

Es war eine Gesteinsformation, schwarz und unwirklich inmitten des gleichmachenden Gelbs. Die Sonne neigte sich bereits kurzatmig dem Abend zu. Die Steine warfen also Schatten, die ihre Höhe noch übertrafen.

Einer der Steine war keiner. Es war Onjalban, der beschriftete Mann. Er saß auf einem Tier, wie es selbst in der Bebilderthen Encyclica unserer Thierwelt nirgends verzeichnet war. Ein Einhorn womöglich. Aber genauso gut konnte es eine schlanke Kreuzung aus einem Panzerlöwen und einem Pferd sein. Das Tier besaß ein langes zotteliges Wüstenfell und panzerartige Verhärtungen an Flanken, Schläfen und Stirn.

Onjalban hob wie grüßend eine Hand.

Die Hand, die sich erhebt, muss herunterkommen.

Die Hand senkte sich wieder. Es war tatsächlich nur ein Gruß.

Die Wagen ruckelten näher. Sand knarzte in den Radnaben.

Vier der schwarzen Felsen trugen weiße Flecken. Diese weißen Flecken waren Menschen. Die Dritte Kompanie erkannte Hauptmann Gollberg und drei der Frauen aus seiner Einheit. Alle vier waren nackt und mit den Köpfen nach unten an den Felsen befestigt – aus dieser Entfernung war noch nicht zu erkennen, wie. Fesseln oder Schnürungen waren jedenfalls keine zu sehen. Die vier lebten noch, denn ihre geschundenen Leiber und ihre geröteten Köpfe zuckten und wanden sich.

Gyffs ließ anhalten. Sie konnte und wollte nicht mehr weiter. Kein einziger militärischer Befehl, der einer solchen Situation angemessen war, fiel ihr ein. Die Männer zogen ihre Waffen, die drei Schützen legten ihre Bögen an, niemand verließ seinen Platz. Die Wagen standen dicht an dicht wie furchtsame Rinder. Die Pferde nickten nervös mit den Köpfen und zerrten leise an ihren Geschirren.

Niemand tat etwas, obwohl jedem die Hände zitterten.

Fenna und Gyffs wechselten einen kurzen Blick. Sie nickte. Er stieg ab und ging zu Fuß näher an die Felsen heran.

Er war der Befehlsverweigerer. Er war derjenige, der etwas gutzumachen hatte.

Wind kam auf und ließ Onjalbans lange Haare und seinen verwilderten Vollbart wehen. Zwischen den Haaren sah das Gesicht des Magiers ausgesprochen heiter aus. Fenna betrachtete Onjalbans Hände. Es stimmte, was Yinn Hanitz im Fieberwahn vorausgesehen hatte: Die Hand ist ohne Schrift. Vielleicht die einzigen Körperteile Onjalbans, die keine verschnörkelten Buchstaben und Zeichnungen aufwiesen, waren seine Hände.

Fennas Schritte knirschten wie durch Schnee. Was ist das nur für ein merkwürdiger Sand? Oder ist es gar kein Sand, sondern eher eine Art … Knochenmehl?

Er hatte eine Ahnung, wie die Gefangenen an den Felsen befestigt worden sein könnten, noch bevor er es mit seinen eigenen Augen bestätigt fand. Haken. Schwarze Haken aus Stein, gewachsenen Dornen gleich. Die Haken waren Bestandteile der Felsen, Requisiten einer womöglich uralten Opferstätte. Und es war kein einziger Tropfen Blut zu sehen.

»Vielleicht ein Wort zur Erläuterung vorneweg, Soldaten«, sagte der Magier. Zum ersten Mal hörten sie seine Stimme. Sie klang erstaunlich weich. »Ich bin kein Verräter. Im Gegenteil. Ich bin von der Königin und ihren Schergen gegen meinen Willen gezwungen worden, an einem absurden Feldzug teilzunehmen. Niemals war ich Soldat oder habe mich als einer gefühlt. Ich hatte in Wandry eine Frau und ein kleines Kind und wollte nichts anderes, als mein Leben in Ruhe mit meiner Familie in meiner Heimat zu verbringen. Aber meine Fähigkeiten wurden als kriegswichtig eingestuft. Irgendjemand in der Hauptstadt hat beschlossen, dass ich hergenommen und geopfert werden muss. Dabei hatte ich nie ein einziges kritisches Wort gegen die Königskrone geäußert. Ich fand mich wieder in einem Treck der Verdammten. Durch Eis und Irrwege kämpften wir uns voran und verloren an Substanz. Viele starben bereits unterwegs, andere wurden krank oder wahnsinnig. Ich kam durch, denn meine Magie hielt mich warm. Meine Magie war mein schützender Schild.«

Fenna war jetzt nur noch zehn Schritt von den Felsen entfernt. Er konnte den Schweiß des Wüsteneinhorns riechen. Hauptmann Gollberg regte sich. Seine Augenlider waren zugeschwollen, und eine vertrocknete kleine Zunge bewegte sich wie ein Insekt zwischen spröden Lippen.

Onjalban fuhr fort zu reden. »Dann stießen wir auf eine Ansiedlung der Affenmenschen. Das war noch ein paar Tagesreisen nördlich von hier. Die Menschen nennen diesen Ort Skorpionshügel, weil Kundschafter in früheren Zeiten darüber berichtet haben, dass es dort von Skorpionen wimmelt. Die Affenmenschen nannten diesen Ort Golkhor. Er existiert nun nicht mehr. Die magische Armee der Königin wollte ihn vernichten, aber durch diese ruchlose Tat wurde das Tor zur Quelle des Feuers weit, weit aufgestoßen, viel zu weit. Weiß glühende Qual versehrte uns alle mit sengendem Hauch. Ich überlebte natürlich. Wärme ist mein Element. Doch ich begriff nicht. Was war geschehen? Und warum? Zürnten die Götter unserer Verblendung? Dann wurde ich gefunden, und die Augen wurden mir aufgetan.« Onjalban schwieg. Es sah aus, als wäre er im Sattel eingeschlafen, aber vielleicht lauschte er auch nur einer besonders inbrünstigen Erinnerung hinterher.

»Wer hat Euch gefunden?«, fragte Fenna. Er hielt es für klug, in einer solchen Situation nicht auf eine ehrbezeugende Anrede zu verzichten.

»Sie haben mich gefunden«, antwortete der Magier und lächelte unter seinem Vollbart. »Die lebendigen Gottheiten. Die drei schönen Kinder des Himmels. Und der vierte. Der mächtigste Magier des Kontinents. Sie öffneten mir die Augen. Erklärten mir, wo die wahrhaftigen Feinde des Landes sitzen: in Aldava, unserer Hauptstadt, auf dem Thron. Dort werden Kriege erfunden, um das Land zu ermorden. Zuerst ging es gegen die Affenmenschen, doch leiden mussten vor allem die Magier. Bald wird es gegen die Riesen gehen, dann gegen die Untergrund- und die Schmetterlingsmenschen. Am Ende wird Krieg geführt werden gegen jedes einzelne Tier. Bis der Mensch nur noch sich selbst genügt, nur noch sich selber liebt und sich nur noch von seinesgleichen ernährt. Soldat, du bist Offizier, ist das nicht richtig?«

»Ich bin Leutnant«, bestätigte Fenna.

»Gut. Ich will, dass du meine Nachricht der Festung bringst:

Wenn vom Gebirg im Nordosten

die zweibeinig Schatten sich krallen,

wird wehren nicht Rüstung noch Posten:

Carlyr und Galliko fallen.

Dies ist alles, was ich für euch tun kann. Ich gebe euch damit Gelegenheit, Carlyr und Galliko zu evakuieren, um das Ausmaß des Schadens für die Zivilbevölkerung möglichst gering zu halten. Noch bevor dieses Jahr verstrichen ist, werden wir diese beiden Befestigungen in unseren Händen halten und darüber hinaus noch ein drittes Ziel im Herzen des Landes, das euch jetzt aber nicht zu interessieren braucht. Wir nehmen uns nur, was unser angestammtes Recht ist. Wir erklären der Krone unseren Ungehorsam. Der Kontinent gehört nicht den Menschen. Das war nur ein Missverständnis der Zeiten, geboren aus Schwäche und Zaghaftigkeit. Magie wird herrschen und Wesen von großer Schönheit.«

»Und Ihr seid in diesem ganzen Wahnwitz so etwas wie ein Heerführer?«

»Eigentlich bin ich nur ein Übersetzer«, antwortete der Magier. »Aber ich habe neue Fähigkeiten gewonnen. Ich habe nicht nur die Wahrheit über unser Land, sondern auch über mich selbst erfahren. Und ich werde diese Fähigkeiten gegen Galliko einsetzen. Ja.«

»Ihr könnt … Pferde zum Platzen bringen«, sagte Fenna geringschätzig.

»O nein! Ich habe die Tiere lediglich freigesetzt. Die Reiter haben sie zum Zerreißen gebracht, indem sie herrisch an den Zügeln zerrten.«

»Gibt es noch andere Überlebende als diese vier?«

»Keine mehr.«

»Und gab es jemals welche, die den großen Feldzug überlebten? Die Blinden in der Höhle?«

»Dafür entschuldige ich mich. Um die Festung Carlyr ihrer Reiterei zu berauben, musste ich mir diese kleine Unsachlichkeit ausdenken. Ich will keine lange Schlacht mit einer schmutzigen Belagerung. Eine Übernahme der leer stehenden Gebäude genügt mir vollkommen.«

Hauptmann Gollbergs Mund bewegte sich. Sein Kopf sah aus, als würde er vor lauter Blutzufuhr bald bersten. Er blubberte etwas hervor. Fenna konnte es kaum verstehen. Erst im Nachhinein gelang es ihm, die gutturalen Laute zu etwas Sinnvollem zusammenzufügen. »Bei den Göttern, Leutnant Fenna«, hatte Gollberg geröchelt, »bringt das Dreckschwein endlich um!«

Das war wieder ein Befehl. Eine direkte, im Klang vielleicht undeutliche, im Wortlaut jedoch unmissverständliche Anweisung eines Vorgesetzten. Dieser Vorgesetzte war nackt und kopfunter auf einen Felsen gespießt wie ein Insekt und offensichtlich nicht mehr Herr seiner Sinne. Er brabbelte mehr, als dass er sprach.

Fenna spürte, wie die Wüste rings um ihn zurückwich. Die Felsen mit den Gemarteten, die Wagen mit den Soldaten – alles entfernte sich, ließ in der ganzen weiten Welt nur noch ihn selbst und den Magier Onjalban. Dessen Hautbeschriftung sich zu verändern schien, während er sprach. Dessen Körper womöglich abbildete, was sein Mund sagte.

Fenna bewegte sich auf den Reiter und das zottelige Einhorn zu. Langsam, um das Tier nicht scheu zu machen, den Kopf leicht gesenkt. Das Tier war zweifelsohne schön zu nennen; seine Augen waren sanft und dunkelblau, von langen Wimpern beschattet. Sein längliches Gesicht war eine Mischung aus Rassepferd, Antilope und Raubkatze.

»Ihr sagt«, begann er beim Gehen, »dass ich Eure Nachricht überbringen soll. Nur ich allein? Ohne meine Männer?«

Onjalbans Bart verzog sich wieder, weil sein Mund lächelte. »Da meine Taktik darin bestand, möglichst viele Soldaten aus der Festung herauszulocken, wäre es doch wohl ziemlich widersinnig, wenn ich einen nicht unerheblichen Teil von ihnen einfach so wieder zurückkehren ließe, oder nicht?«

»Was habt Ihr mit ihnen vor?«

»Ich werde ihnen anbieten, meine Geiseln zu sein. Dies beinhaltet die Gastfreundschaft meiner Freunde, die durchaus den Tonfall, der in einer Soldatengarnison herrscht, an Freundlichkeit und Wärme übertreffen könnte. Aber selbstverständlich werden deine Männer sich weigern, es wird so etwas wie ein Gefecht geben, und am Ende hängen die Robustesten von ihnen an diesen Felsen und füttern die Wüste mit ihren Schreien.«

»Oder wir nehmen Euch gefangen, wie es unsere Pflicht ist, befreien unsere Kameraden und stellen Euch in der Festung Carlyr vor das Militärgericht, das Ihr verdient.«

»Aber ich bin niemals ein Militär gewesen. Ich bin nur ein Zwangsrekrutierter, der sich sämtlichen Eiden verweigerte und dennoch mitgeschleift wurde, weil es dem General im Winter so furchtbar kalt war. Nun bist du nahe genug gekommen, Leutnant. Einen Schritt weiter, und ich muss mir einen anderen als Überbringer meiner Botschaft aussuchen. Und es ist mir wirklich egal, wen.«

Fenna blieb stehen. Nur noch zwei Schritte trennten ihn von dem Reiter. Der Eigengeruch des Tieres war erstaunlich stark. Salzig, vergoren, ein wenig wie Senf.

Fenna sprang, um den Reiter vom Tier zu reißen. Der Sand klebte an seinen Schuhen, machte ihn schwer und langsam. Das Tier wich zurück, berührte Fenna dabei beinahe sanft mit dem gesenkten Stirnhorn. Fenna erwartete einen magischen Schock, spürte jedoch nur kühle, trockene Glätte.

Gleichzeitig befahl Loa Gyffs: »Schießt!«

Stodaert und von den Holtzenauen ließen die Sehnen los. Ihre Pfeile schwirrten auf Onjalban zu. Mit einer Gebärde, die aus dem Zurückreiten heraus ruckartig wirkte, wischte er sie aus der Luft.

Deleven jedoch hatte gewartet und schoss erst jetzt.

Sein Pfeil traf Onjalban links oben in die Brust, oberhalb des Herzens, unterhalb des Schlüsselbeins.

Onjalban stöhnte. Kippte im Sattel. Fenna war heran, das Reittier wendete nicht schnell genug. Fenna bekam den Magier zu greifen und riss ihn aus den fellverkleideten Steigbügeln. Es war wichtig, ihn schnell aus dem Geschehen zu eliminieren. Damit er die Pferde nicht freisetzen konnte. Damit er die Soldaten nicht freisetzen konnte.

Ein Geräusch ertönte, ein Pfeifen oder Sirren. Hinter den Felsen stürzten Affenmenschen hervor. Zehn, sechzehn, zweiundzwanzig. Vierzig.

Fennas Gesicht verzerrte sich zu etwas, das einem Grinsen ähnlich sah. Das immerhin, mit den verborgenen Kräften hinter den Felsen, war militärisch nachvollziehbar. Magie war unmöglich zu entschlüsseln. Aber Krieger, die aus einem Versteck hervordrangen – das war Grundausbildung. Leider waren es mehr, als zwischen den paar Felsen versteckt gewesen sein konnten. Fenna begriff, dass sich an den Hinterseiten der Felsen Öffnungen befinden mussten, die in die Tiefe führten, in einen Bau, ein unterirdisches Dorf, vielleicht sogar in eine Art Höhlenstadt.

Die vierzig Krieger waren beeindruckend, das musste Fenna sich eingestehen. Sie waren groß, beinahe so groß wie Ellister Gilker Kindem, der jetzt nicht hier war, um dies alles mit anzusehen. Dichtes schwarzes, silbrig schimmerndes Fell bedeckte ihre muskulösen Arme und Beine. Sie trugen Brustrüstungen aus lose übereinanderliegenden Panzerlöwenhornplatten, gezackte Helme wie von Perlmutt und wadenlange Röcke, die aus fransigen Tüchern gebunden waren. Ketten aus Talern und Kupferstücken klirrten an Handgelenken, Hälsen, Fußknöcheln und Ohrmuscheln. Die Gesichter waren unter den scharfkantigen Helmen nicht zu sehen. Die Arme der Angreifer reichten bis zum Boden, und zum schnelleren Vorankommen liefen sie nicht nur auf ihren Fußsohlen, sondern auch auf ihren Handrücken. Die Geräusche, die sie dabei machten, waren ein heiseres, hustendes Bellen.

»Nachladen und erneut schießen!«, rief Gyffs unbeeindruckt. »Auf Onjalban schießen!«

»Das sind Frauen!«, sagte Jovid Jonis in ehrfurchtsvollem Tonfall.

»Das sind zu viele!«, konterte von den Holtzenauen.

»Rückzug!«, brüllte Leutnant Fenna aus Leibeskräften. »Rückzug zur Festung! Ihr müsst Bericht erstatten!« Er stürzte mit Onjalban in den aufstiebenden Sand, riss sich hoch, zückte seinen Säbel und hieb den ersten Affenmenschen nieder. Fünf weitere kamen genau auf ihn zu. Die anderen schwärmten zu den Wagen hin aus.

Die Pferde scheuten. Der unbeladene Wagen, den Fergran von den Holtzenauen steuerte, machte sich selbstständig. Von den Holtzenauen strauchelte nach hinten ins Wageninnere, als sein Gespann zur Seite drängte und durchging.

Leutnant Gyffs hing das Wort »Angriff!« zwischen den Lippen fest. Sie waren, ohne Leutnant Fenna, nur zu acht. Die Angreifer waren fünfmal so viele, körperlich überlegen, den sandigen Untergrund gewohnt, wild, zu allem entschlossen, womöglich unempfindlich gegenüber Schmerzen. Onjalban war vielleicht als Magier ausgeschaltet, aber Fenna konnte ihn nicht als Geisel nehmen. Fenna wurde gerade überrannt.

Eremith.

Er hatte »Rückzug!« gerufen. War es da nicht sinnlos, einen gegenteiligen Befehl zu geben? Würde dies die Kompanie nicht wieder in zwei ungleiche Teile reißen?

»Rückzug!«, schrie nun also auch Leutnant Gyffs. »Rückzug!«

»Aber der Leutnant …«, widersprach Korporal Deleven.

»Der Leutnant hat einen Befehl gegeben! Wir müssen Bericht erstatten! Carlyr und Galliko stehen auf dem Spiel!« Zu viele Worte. Die vordersten Affenmenschen hatten die Wagen schon beinahe erreicht. Gyffs begann, den ihren zu wenden. Alles geschah viel zu langsam, denn die Affenmenschen wurden durch den Sand nicht gebremst.

Fennas Säbel schürfte Blut. Zwei der Angreifer waren nun genau vor ihm, ihre Arme so lang, dass er an ihre Körper nie herankommen würde. Weiter links warf einer etwas: eine Art Keule, die sich im Flug wohlausbalanciert um sich selbst drehte. Fenna hörte Onjalbans Stimme, flach und heiser von unten: »Es ist sinnlos, Leutnant. Ich kann noch hundert mehr rufen. Oder zweihundert.«

Fenna wandte sich von den Gepanzerten ab, obwohl das bedeutete, dass er die Schläge nicht abwehren konnte. Er musste Onjalban töten. Er war Offizier, es war seine militärische Pflicht. Solange der Magier aufseiten des Feindes stand, würde dieser immer einen Vorteil haben, in allen Gefechten, die da noch folgen mochten. Er musste ihn töten. Fenna hob die Hand mit dem Säbel. Doch die Hand, die sich erhob, kam nicht herunter. Fenna konnte sich nicht mehr bewegen. Onjalban hielt ihn fest, mit einer fließenden Bewegung seiner unbeschrifteten Finger.

Teppel wurde von der geworfenen Keule mitten im Gesicht getroffen. Blut sprühte über Deleven und Jonis. Fluchend versuchte der Korporal, die aufsteigenden Pferde niederzuhalten und in eine sinnvolle Richtung zu zwingen. »Das schaffen wir nie und nimmer«, knirschte er zwischen den Zähnen hervor, während Teppel nach hinten in den Wagen stürzte wie ein Baum, in dem eine Axt steckte.

Von den Holtzenauens leerer Wagen war der einzige, der schon in Fluchtrichtung gewendet war. Die Pferde sorgten von ganz alleine dafür, während von den Holtzenauen sich mühsam auf den Kutschbock zurückkämpfte.

Gyffs’ Wagen wurde von drei Affenmenschen angesprungen. Einer durchriss rechterhand die Plane und klammerte sich mit Oberkörper und Ellenbogen fest. Mit verzerrtem Gesicht stemmte Sensa MerDilli sich diesem Oberkörper entgegen und drängte den zappelnden Affenmenschen zurück, bis dieser mit seinen Beinen unter das rollende Rad geriet. Kreischend wurde der sich festklammernde Oberkörper vom Rand der Ladefläche hinabgerissen. Die beiden anderen kamen von hinten. MerDilli machte sich lang und stach einem von ihnen vor die Brust, während Stodaert haarscharf an ihm vorbeischoss und den zweiten am Helm erwischte. Beide Angreifer ließen sich jedoch nicht so einfach aufhalten und enterten vom Heck her den Wagen.

Loa Gyffs peitschte zum ersten Mal in ihrem Leben Pferde. Sie waren immer noch viel zu langsam, selbst zu Fuß waren die Angreifer schneller als sie. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Leutnant Fenna von drei Affenmenschen gleichzeitig zu Boden gerissen wurde. Der Sand waberte an dieser Stelle hoch wie Rauch. Onjalban schien immer noch zu leben, er tat irgendetwas mit seiner Hand.

Fenna spürte die Hiebe in seinem Rücken und wie der Sand näherkam und sich um ihn schloss. Jetzt konnte er ganz deutlich die Haare der brennenden Kinder riechen. Dieses Detail war ihm lange entfallen gewesen.

»Ich lege mich zu euch«, dachte er. »Dann leidet ihr wenigstens nicht allein.«

Korporal Deleven bekam den Wagen nicht gewendet. Die Pferde sprangen in leidenschaftlicher Panik gegeneinander, anstatt in eine einträchtliche Richtung zu ziehen. »Runter!«, befahl Deleven Jovid Jonis. »Wir müssen den Wagen wechseln. Zu Gyffs!«

»Aber … Breff! Was machen wir mit Breff?«

»Der ist tot, Junge. Die Keule steckt in seinem Gesicht.« Deleven konnte nicht mehr abwarten. Er schoss einem der Affenmenschen in den Bauch, sprang vom Kutschbock und verfeuerte seine sämtlichen Pfeile auf alles, was sich bewegte und nicht nach Pferd, Wagen oder Uniform aussah. Mehr als zehn Affenmenschen stürzten in den unterschiedlichsten Haltungen aus vollem Lauf zu Boden, aber da waren immer noch zwanzig oder dreißig oder vierzig weitere, die vorher noch nicht da gewesen waren, die immer näher kamen. Der Bogen war leer. Den nächsten Gegner griff Deleven mit dem Säbel an. Der Kampf bestand nur aus sechs heftigen Bewegungen, aber Deleven war vollkommen außer Atem, als der Affenmensch endlich zu Boden sank. Jonis folgte ihm so zögerlich, dass er über sechzig Schritt entfernt war, als er endlich vom Wagen sprang. Zwei Affenmenschen hielten auf den Jungen zu. Deleven beeilte sich, Jonis durch den zähen Sand zu Hilfe zu eilen, und er bemerkte erst jetzt, dass er Teppels Blut im Auge hatte.

Stodaert schrie auf, als der Affenmensch ihn mit einer Klinge berührte, die ausgefranst war wie ein behauener Feuerstein. MerDilli rang mit dem zweiten Enterer. Aber jetzt war »Scheusal« Kertz an der Reihe. Er sprang waagerecht gegen MerDilli und seinen Gegner, sodass beide beinahe aus dem Wagen geschleudert wurden – nur dass Kertz MerDilli im letzten Augenblick noch festhielt. MerDilli übergab sich beinahe, so sehr rüttelte ihn dies alles durch. Der Sand rollte unter ihm, die Wolken wogten oben. Kertz hievte ihn hinein und kümmerte sich dann nicht weiter um ihn. Stodaert war in Bedrängnis, und Kertz hackte auf Stodaerts Gegner ein, bis dieser nicht einmal mehr zucken konnte und die gesamte Wagenplane als zerschnittene rote Fetzen flatterte. Das Gesicht des Affenmenschen war immer noch von seinem maskenartigen Helm verdeckt, aber niemand wagte es, den zerstückelten Leichnam zu berühren. In Gyffs’ Rücken kehrte andächtige Ruhe ein. Sie konnte sich umblicken.

Jonis stand alleine gegen zwei. Deleven war zu weit weg, sein Wagen kenterte gerade. Wo war Teppel? Von Fenna war nichts mehr zu sehen – dunkle, haarige Leiber begruben den Leutnant im empfänglich weichen Sandgemenge. Hauptmann Gollberg rüttelte verzweifelt und augenrollend an seinen eigenen Händen. Sein Mund war ein klaffendes Loch. Hatten ihm diese Ungeheuer etwa die Zähne herausgebrochen?

Zwanzig oder dreißig der Affenmenschen nahmen die Verfolgung auf. Sie rannten einfach den beiden Wagen hinterher. Von den Holtzenauen war in guter Fahrt und wurde immer schneller, aber Gyffs hatte drei Mann an Bord, unverhältnismäßig viel Proviant und zusätzlich noch den Leichnam eines Affenmenschen. Die Verfolger würden sie einholen. Und was war mit Deleven und Jonis? Sie konnten die beiden doch nicht … und Fenna?

»Ihr Götter!«, ächzte Leutnant Gyffs. Ihr fiel nichts anderes mehr ein.

Jovid Jonis tat etwas, was ein Soldat niemals tun sollte: Er hob abwehrend beide Hände, als wollte er sagen: »Nicht so schnell, wartet doch, können wir nicht über alles reden?« Die beiden Affenmenschen hatten Keulen mit Köpfen, die nicht fest waren, sondern um eine Achse rotierten. Damit droschen sie Jonis’ Schädel zu Brei wie eine Wassermelone. Deleven kam viel zu spät. Einen der beiden Mörder konnte er noch umbringen. Der andere jedoch parierte jeden Hieb, sprang dabei im Zickzack um Deleven herum und verwickelte ihn in absurde Aktionen. Affen konnten schneller und geschickter sein als Menschen. Deleven kam auch nicht mehr an Jonis’ Halskette mit dem Bildnis der Nara Wesener heran. Es ging nicht mehr, nichts. Er war zu alt geworden, um noch Atem zu finden. Deleven sank auf die Knie und hieß die klingelnd rotierende Keule des überlegenen Affen willkommen, die sein Denken ersetzte.

Hauptmann Gollberg stieß einen lang anhaltenden, schrillen Schrei aus, als er seine Verstärkung davonfahren sah, verfolgt von siegreichen Feinden. Er schrie, bis sein Mund voll Blut war, das ihm schwer und schwärzlich in Nasenlöcher und Augen lief.

Leutnant Gyffs hörte diesen Schrei und hielt ihn für das Heulen eines Wüstenuntiers.

Die Verfolger kamen näher.

Stodaert schoss und schoss, bis auch er keine Pfeile mehr hatte, aber es gelang ihm lediglich, zwei der elf Verfolger aufzuhalten.

»Scheusal« Kertz wollte vom Wagen springen und die »Viecher alle zur Strecke bringen«, doch Leutnant Gyffs verbot ihm diesen Freitod.

MerDilli sagte, dass sie im Kampf eine Chance hätten, zu viert gegen neun, das wäre doch schaffbar, nach all den Tricks, die die Leutnants ihnen beigebracht hätten.

Gyffs lächelte verzweifelt. So, wie es aussah, würde von den Holtzenauen als Einziger von ihnen allen mit dem Leben davonkommen.

Doch genau von diesem kam schließlich die vorläufige Rettung. Der junge Adelige hatte sein Gespann nun wieder vollends unter Kontrolle, und er bremste es ab, bis es zu Gyffs’ zurückfiel. Die Besatzung von Gyffs’ Wagen konnte somit in rasender Fahrt auf von den Holtzenauens Fahrzeug umsteigen, das bedeutend leichter war, und dessen Pferde auch ausgeruhter waren. MerDilli schaffte das Überklettern als Erster, dann Stodaert wackelig, einmal mit dem Bein beinahe zwischen zwei rasende Räser geratend, doch mit MerDillis Hilfe hinübergerissen, dann Kertz mit einem blinden Sprung, die Augen hinter den Gläsern fest zugekniffen. Zuletzt ließ Gyffs ihren Kutschbock im Stich. Der Abstand zwischen den beiden Wagen vergrößerte sich bereits, sie schaffte das Überwechseln nur, weil MerDilli sich ihr entgegenstreckte und sie seine Hand erhaschen konnte. Die unermüdlich scheinenden Affenmenschen waren nun schon bis auf Armeslänge heran. Von den Holtzenauen feuerte seine Pferde mit Schreien und Zügelklatschen an, und jetzt fielen die Verfolger endlich zurück, machten sich auch eher über den leeren Wagen, seinen reichlichen Proviant und die vier vor Angst wiehernden Pferde her.

Gyffs fiel im Inneren des letzten ihnen gebliebenen Fahrzeugs in sich zusammen, als bestünde sie aus zitternd schmelzendem Wachs. Sie hatte nicht gekämpft. Sie war ausschließlich geflüchtet. Sämtliche Gliedmaßen schüttelten sich nun vor unterdrückter Anspannung.

Es war Fennas Idee gewesen, einen Wagen zur schnelleren Flucht leer zu lassen. Diese Idee rettete ihnen nun, so schien es zumindest, das Leben.

Aber der Angriff war noch nicht vorüber.

Sie gewannen zwar an Abstand, und Kertz kroch nach hinten durch, um die verschiedenen Schauplätze kleiner werden zu sehen: den geplünderten Wagen mit der rot zerschlissenen Plane, das grausige Feld aus Toten und Verwundeten rings um Korporal Deleven, die Opfersteine mit den immer noch lebenden Opfern daran, den ganzen sommerlich flirrenden Herbstspuk. Von Fenna und Onjalban war nichts mehr zu sehen, dort wimmelten Affenmenschen herum, die in ihrer Masse wirkten wie langgliederige Insekten.

Doch dann löste sich etwas aus dieser Masse. Es waren Reiter. Zuerst konnte Kertz nicht genau erkennen, wie viele es waren, doch dann, als sie näher kamen, zählte er drei. Affenmenschen auf Einhörnern. Er stöhnte auf, er konnte gar nichts dagegen machen.

»Leutnant, sie schicken Reiter hinter uns her«, meldete er mit belegter Stimme. »Ich glaube, es sind drei.«

Stodaert wurde noch bleicher als ohnehin schon. »Drei«, sagte er. »Es waren auch drei, die in unseren Wagen eindrangen. Und drei Panzerlöwen. Es sind immer wieder drei.«

Ist das möglich?, dachte Gyffs. Dass die Affenmenschen ein Spiel mit ihnen spielten? Dass sie Zeugen gewesen waren des Panzerlöwinnenangriffs und nun immer wieder diesen Vorfall inszenierten, der Korporal Garsid das Leben gekostet hatte? War so etwas Aberwitziges denkbar? Und vor allem: Hatten die Affenmenschen tatsächlich am Panzerlöwenkampfplatz, weniger als einen Tagesritt von der Festung Carlyr entfernt, bereits Späher positioniert, die die Hilflosigkeit der königlichen Soldaten im Feindesland bezeugen und weiterleiten konnten?

»Ich habe keine Pfeile mehr«, sagte Stodaert.

»Aber ich«, meldete sich Fergran von den Holtzenauen vom Kutschbock her. »Ich habe erst einen einzigen verschossen.«

Gyffs musste sich zusammenreißen. Ihre Männer redeten, schauten, lenkten, machten sich Gedanken. Diese immerhin waren noch am Leben. Nur Fenna und Deleven und Jonis und Teppel waren tot. Und Gollberg und die gesamte Erste. Gyffs durfte sich nicht der Schwäche überlassen. Sie waren jetzt so wenige, es kam auf jeden Einzelnen an.

»Ich übernehme die Pferde«, sagte sie. »Von den Holtzenauen, du wirst hinten gebraucht. Du und Stodaert, ihr seid jetzt unser ganzer Fernwaffenzug. Teile deine Pfeile zwischen euch auf, und dann schießt diese verdammten Hunde oder Hündinnen von ihren Gäulen oder was immer das ist, was sie da reiten.« Sie wollte fluchen, um ihrem Zorn Nachdruck zu verleihen, aber ihr fiel kein einziger Fluch mehr ein, den sie auf der Akademie in Uderun gehört hatte.

Es wurde eng in dem Wagen, als sie sich nach vorne drängelte, um den Kutschbock zu übernehmen, während von den Holtzenauen nach hinten kam, um neben Stodaert die Rückendeckung zu leisten.

Stodaert zitterte, als von den Holtzenauen ihm zehn Pfeile abgab. »Drei. Hat dieser … Beschriftete nicht auch etwas von dreien erzählt? Wie hat er sie genannt? Die drei schönen Kinder des Himmels? Sind die das? Heißt das, dass wir jetzt sterben müssen?«

»Hör auf zu quatschen wie Yinn Hanitz im Fieberwahn, Soldat Stodaert!«, herrschte Gyffs nach hinten. Ausgerechnet Stodaert, der Pflichtbewusste, musste jetzt überschnappen. »Das sind nur drei Affenmenschen auf Reittieren. Korporal Deleven hat ein gutes Dutzend von denen umgelegt. Ihr habt vorhin einen erschlagen. Also holt sie von ihren hohen Rössern!«

Für einen Augenblick schienen Stodaert und von den Holtzenauen im Pfeilauflegen und Zielen Sicherheit zu gewinnen. Aber je näher die drei Verfolger kamen – und sie kamen näher, ihre Einhörner überboten die Geschwindigkeit des von vier Pferden gezogenen Planwagens –, desto deutlicher wurde, dass dies tatsächlich nicht dieselben Gegner waren wie vorhin. Sie sahen anders aus. Von ihren knochenfarbenen Helmmasken wallte langes weißes Haar. Sie hatten Umhänge an, die im Reitwind wehten und klimperten, denn sie waren aus Rinwetalern geschmiedet. Die Umhänge funkelten wellenförmig in der Sonne und blendeten die Augen der beiden Bogenschützen.

Der Wagen wackelte und ruckelte. Die aufgelegten Pfeilspitzen schwankten vor den Augen der Schützen wie Schilf im Wind.

Die drei Reiter beugten sich in den Sätteln vor, hinter die Hälse ihrer Tiere. Die Tiere wiederum reckten die Hälse nach vorne. Ihr Hochgeschwindigkeitslauf sah ausgesprochen kraftvoll aus.

Von den Holtzenauen schoss als Erster. Daneben. Stodaert traute sich noch nicht.

Von den Holtzenauen schoss erneut und verfehlte erneut. Er fluchte leise und legte den nächsten Pfeil auf. Er hatte nun noch sieben.

Der dritte Schuss. Daneben.

Der vierte. Daneben.

»Vom Wagen aus geht das nicht«, haderte er. »Wir müssen anhalten. Absteigen. Ich weiß auch nicht.«

Stodaert schoss jetzt zum ersten Mal. Sein Pfeil schien einen der drei Verfolger beinahe zu berühren, aber eben nur beinahe.

»Es sind nur drei«, sagte MerDilli nun. »Wir sind fünf. Die können wir schaffen, oder? ›Scheusal‹, was sagst du? Die schaffen wir, oder?«

»Scheusal« Jeo Kertz nickte grimmig.

»Nein«, untersagte Leutnant Gyffs. »Wir wissen nicht, ob sie Magie beherrschen.« Wir wissen einfach nichts über sie.

Aber von den Holtzenauen hatte recht: Wenn die Verfolger ohnehin schneller waren als der Wagen, konnte sie genauso gut anhalten. Dann würde wenigstens das Ruckeln aufhören, und die Schützen konnten ihre Pflicht tun.

Die Pferde waren verängstigt und überstrapaziert und bedurften dringend der Schonung. Loa Gyffs riss an den Zügeln und machte ein möglichst beruhigendes »Brrrrrr!«. Die Pferde wurden langsamer, als hätten sie schon darauf gewartet, endlich zur Ruhe kommen zu dürfen.

Im Nu waren die drei Verfolger heran, an dem Planwagen vorüber und wendeten nun vor Gyffs in ihren eigenen Staubwolken ihre fremdartigen Tiere. Gyffs fühlte sich allein gegen drei. Sie sahen größer aus als die, die vorhin zu Fuß angegriffen hatten. Im Inneren des Wagens war schon Bewegung. Von den Holtzenauen kämpfte sich wieder nach vorne durch. MerDilli und Kertz schienen nur aus sperrigen Gliedmaßen zu bestehen und machten ihrer Nutzlosigkeit durch unleidliches Knurren Luft.

Die drei Affenmenschen ritten auf Gyffs und den Wagen zu, langsamer jetzt. Noch stand der Wagen nicht ganz, die Pferde waren immer noch am Austraben.

»Bewegt Euch nicht, Leutnant«, sagte von den Holtzenauen, die militärische Etikette völlig außer Acht lassend. Gyffs spürte, wie er sie an der Schulter berührte und sah eine Pfeilspitze neben ihrer Schläfe. Der Soldat von den Holtzenauen benutzte seine Vorgesetzte als Stütze.

Dann schoss er. Dieser Pfeil traf. Einer der Affenmenschen ächzte und bäumte sich im Sattel auf. Er war nicht tot, aber sein Reittier verhielt. Die anderen beiden waren heran. Gyffs fiel auf, dass sie überhaupt keine Waffen in Händen hielten. Stattdessen waren ihre Hände rot und feucht, als wären sie in frisches Blut getaucht. Das Blut von Gollberg? Von Deleven? Von Eremith?

Die Reiter wurden immer schneller, machten Anstalten, links und rechts an dem Wagen vorbeizupreschen. Von den Holtzenauen legte einen neuen Pfeil auf. »Sie tauchen gleich hinten auf, dann hast du sie im Schussfeld«, sagte er, an Stodaert gerichtet, doch der antwortete nicht. Von den Holtzenauen schoss noch einmal, doch dieser Pfeil ging ins Nichts, die Reiter waren bereits vorüber.

Gyffs hörte ein eigenartiges Geräusch. Die Wagenplane wurde von außen berührt. Gyffs vermeinte, gegen das Sonnenlicht rötliche Spuren auf dem Stoff zu sehen. Sie folgte mit den Augen den Spuren zum Heck des Wagens. MerDilli machte, dass er vom Rand weg- und in die Mitte kam.

Die beiden Reiter tauchten hinten in der Blicköffnung wieder auf wie ein gerahmtes, bewegliches Bild und wendeten abermals.

»Mit Stodaert stimmt etwas nicht«, sagte »Scheusal« Kertz kleinlaut. »Ich glaube, sie haben Stodaert erwischt.«

»Verfluchter Mist!«, knirschte von den Holtzenauen. Ein weiteres Mal drängelte er sich an MerDilli und Kertz vorbei, um die Position zu wechseln und nach hinten zu gelangen.

Bujo Stodaert war an der Ladeklappe in sich zusammengesunken. Von den Holtzenauen ließ seinen Bogen los und untersuchte ihn kurz. »O nein!«, entfuhr es ihm. »Das waren nicht die Reiter. Das muss schon vorhin passiert sein, im Nahkampf. Er hat die ganze Zeit über Blut verloren, und ich habe es nicht bemerkt.«

»Stimmt«, bestätigte MerDilli. »Einer der Affen hat ihn geschlagen. Es gab einen Kampf, als wir noch im anderen Wagen waren.«

»Warum hast du denn nichts gesagt, Junge?«, tadelte von den Holtzenauen den bewusstlosen Stodaert, während er versuchte, die Blutung durch so etwas wie einen Druckverband zumindest abzuschwächen. »Warum musst du denn immer so ein verflucht tadelloser Soldat sein? Kannst du nicht mal Meldung machen, wenn du am Verrecken bist?«

In Gyffs‘ Kopf drehte sich alles. Von hinten näherten sich die beiden Reiter wieder. Das gerahmte, bewegliche Bild ging zum neuerlichen Angriff über. Und ausgerechnet jetzt musste Fergran von den Holtzenauen, ihr letzter verbliebener Fernwaffenmann, seinen Bogen weglegen und Wunden versorgen. Die beiden Angreifer trugen noch immer keine Waffen. Gyffs fragte sich, was das alles nur bedeuten mochte. Was schwerer wog für einen jungen Mann wie von den Holtzenauen: das Erschießen von Gegnern oder das Retten von Kameraden. Sie konnte einen Befehl geben. Es war ihre Pflicht, einen Befehl zu geben. Aber sie wusste nicht, welchen.

Und dann wurde sie plötzlich vom Kutschbock gerissen. Für einen Augenblick begriff sie überhaupt nicht, was los war. Etwas Hartes, Klimperndes, Vielgliederiges prallte gegen sie und zerrte sie mit sich. Dann roch sie den Affenmenschen über ihr. Sie hatte den Verwundeten völlig vergessen. Während alle – auch sie selbst – nach hinten zu den Reitern und zu Stodaert schauten, hatte er sich lautlos auf seinem Tier dem Kutschbock genähert und Gyffs angesprungen.

Sie schrie. Keine Worte oder Befehle. Es war einfach nur ein Schrei. Sie spürte, wie sie den Kutschbock unter Füßen und Gesäß verlor und fiel.

Kertz bellte: »Leutnant!«

MerDilli brüllte: »Fergran! Achtung!«

Von den Holtzenauen duckte sich. Doch die beiden anstürmenden Reiter schlugen gar nicht nach ihm. Sie ritten abermals an der Sichtöffnung, am ganzen Wagen vorbei und berührten links und rechts die Plane.

Gyffs prallte auf den schwammigen Boden, der Affenmensch war an ihr dran und wütete in der Enge. Seine Hände waren behaart und langfingerig. Sein Gesicht war nicht zu erkennen, die Knochenmaske ließ ihn wie einen Dämon aus einem Senchaktempel aussehen, wie ein Wesen, das die Götter bekämpft und niedergerungen hatten, um den Kontinent der Menschen zu formen. Loa Gyffs wehrte sich mit aller Kraft, aber der Knochendämon fasste nach ihrer Brust und quetschte sie. Dann ließ er sie los.

Von oben herab stürzte »Scheusal« Jeo Kertz. Mit einem schrillen Schrei warf sich der Soldat auf den Gegner, um seinem Leutnant beizustehen. Der Affenmensch traf ihn mit einem krachenden Rückhandschlag. Kertz prallte stöhnend in den Staub und rührte sich nicht mehr.

Gyffs hieb mit beiden Fäusten nach dem Gegner. Auch sie wehrte er ab. Sie nahm seine beiden Gefährten wahr, die Reiter, wie sie seitlich an sie herantänzelten. Die Einhörner sahen aus, als würden sie grinsen. Ihr Götter!, durchfuhr es sie, und alle Gräuelgeschichten, die sie jemals über Frauen im Krieg gehört hatte, rührten sich in ihr. Beinahe musste sie sich übergeben.

Von oben fiel jetzt MerDilli. Ihre Männer tropften alle wie Regen von dem Wagen. Anstatt eine sinnvoll koordinierte militärische Aktion durchzuführen, verloren sie alle die Beherrschung und scheiterten vereinzelt. Aber wer hätte sie denn auch koordinieren sollen? Waren sie denn nicht heute mehr oder weniger aller ihrer Vorgesetzten verlustig gegangen?

Auch MerDilli wurde von dem Affenmann einfach beiseitegewischt. MerDilli, der Stärkste der gesamten Kompanie. Der Affenmann schien über unglaubliche Kräfte zu verfügen, obwohl von den Holtzenauens Pfeil in ihm steckte. Sie spürte den muskulösen Unterleib, der auf dem ihren saß.

Nun packte er wieder ihre hilflosen Hände und kam mit seiner Maske ganz nahe an sie heran. Sie spürte jetzt auch den Pfeil, der in ihm steckte. Mit dem gefiederten Schaft streifte sie ihr Feind einmal. Als würde er dadurch Schmerzen auf sie ableiten, zuckte sie unter diesem hölzernen Streicheln zusammen. Sein Atem quoll heiß unter den Knochenplatten hervor und roch nach Nelkenöl.

Dann hörte sie seine Stimme. Er raunte ihr etwas ins Ohr. Es klang, als würde ein Wolfshund sprechen.

»Ssage Oberweib von Mensch, wirr werrdan ein Golkhor machan aus ihr Haus!«

Gyffs begriff überhaupt nichts mehr. Die Affenmenschen konnten sprechen, noch dazu in ihrer Sprache? Aber was war ein Golkhor? Hatte Onjalban dieses Wort nicht vorhin gebraucht? Der Name jener Affenmenschenbehausung, die auf dem Feldzug der Königin vernichtet worden war?

Der Affenmensch ließ sie nun los und stieg von ihr herunter. Sie hatte ganz vergessen, sich zu wehren. Einer seiner Mitreiter hielt ihm die Zügel seines Tieres hin, und er schwang sich münzenklirrend in den Sattel. Seine Hosen, sein Wams, seine Haut – alles schien aus knittrig gegerbtem Leder zu bestehen. Sie wünschte sich, sein Gesicht sehen zu können. Es war reine Neugier. Und gleichzeitig fragte sie sich, welche Bedeutung schon ein Gesicht hatte. Im Krieg oder anderswo.

Die drei Affenmenschen ritten an. Sie wollten tatsächlich fort, zurück zu ihresgleichen. Ohne die besiegten Menschen zu töten, die alle weich auf der Erde lagen wie etwas sinnlos Verschüttetes.

Dann folgten ein sirrendes Geräusch und ein dumpfer Einschlag. Oben im Wagendeck erschien Fergran von den Holtzenauen. Sein Gesicht glänzte vor Anspannung. Er hatte geschossen. In dem Affenmann, der Gyffs etwas ins Ohr geraunt hatte, steckte nun ein zweiter Pfeil.

»Nein!«, sagte Gyffs matt. Sie hob die Hand. »Nicht … schießen!« Doch es war bereits zu spät. Ein Pfeil war schneller als ein Wort.

Der Affenmann ruckte im Sattel. Seine Beine zuckten. Sein Einhorn stieg halbhoch auf die Hinterhand. Seine beiden Gefährten schienen etwas in ihrer eigenen Sprache zu rufen. Von den Holtzenauen war im Begriff, bereits einen weiteren Pfeil aufzulegen, doch Leutnant Gyffs hob abermals die Hand. Sie stemmte sich nun hoch, ihre Wirbelsäule fühlte sich wie geschmolzen an. »Aufhören, von den Holtzenauen, aufhören!«, sagte sie, ihre Befehlsstimme wiederfindend. »Unsere Männer leben alle noch. Die haben uns nichts getan. Die wollten uns gar nichts tun. Sie sind nicht mal bewaffnet.«

Der Soldat, der bei den Schmetterlingsmenschen des Larnwaldes medizinische Kenntnisse erlangt hatte, blickte irritiert zwischen den Feinden und seiner Vorgesetzten hin und her. Sensa MerDilli und Jeo Kertz bewegten sich fahrig, sie waren benommen, beinahe um ihr Bewusstsein gebracht, aber immer noch lebendig. »Unsere Männer leben alle noch?«, fragte von den Holtzenauen heftig atmend. »Und was ist mit der gesamten Ersten Kompanie? Was ist mit Leutnant Fenna? Mit Korporal Deleven?« Er legte den nächsten Pfeil auf und spannte die Sehne. Dabei zitterte alles, die gesamte Wagenfläche schien zu erschauern.

Der Affenmensch hielt sich immer noch im Sattel. Ein dumpfes Grollen drang aus seiner Kehle. Einer seiner Gefährten stützte ihn. War das etwa Blut, das als dünner Faden unter der Maske des zweifach Angeschossenen hervorlief? Aus seinem Mund? Aus seinen Augen?

Leutnant Gyffs kam nun endlich auf die Beine. »Wenn du schießt, Soldat, ist das eine direkte Befehlszuwiderhandlung.«

»Aber was soll denn das?«, fragte von den Holtzenauen verzweifelt. »Sind wir nicht deshalb hier? Um zu töten? Um getötet zu werden?«

»Heute nicht mehr«, ächzte Gyffs. »Heute ist genug gestorben.« Sie fühlte sich nicht ganz so großherzig, wie diese Worte klangen. Sie wusste einfach, dass die noch unverwundeten beiden Affenmenschen sie alle umbringen konnten, wenn sie jetzt wütend wurden. Ob bewaffnet oder nicht. Stodaert, MerDilli und Kertz waren hilflos. Ihre körperliche und geistige Erschöpfung war so groß, dass es Gyffs vorkam, als seien sie alle einfach umgefallen, vollkommen ohne feindliche Einwirkung. Von den Holtzenauen und sie selbst standen alleine gegen zwei Gegner, die selbst von Langbogenpfeilen nicht so schnell aufgehalten werden konnten.

Alles hing nun in der Schwebe. Gyffs ahnte, dass sie sterben würden, dass alles, was hier an diesem Ort von der Dritten Kompanie des Zweiten Bataillons der Festung Carlyr noch übrig war, zugrunde gehen würde, falls der angeschossene Affenmensch sich nicht mehr im Sattel halten konnte. In der Überwindung seines Sterbens lag ihr Überleben.

Und er hielt sich. Er gab ein Geräusch von sich, das wie ein Lachen klang, aber wie ein schluchzendes. Dann verfielen die drei Einhornreiter endlich in einen langsamen Trab und ließen den besiegten Armeewagen vereinsamt hinter sich zurück.

Von den Holtzenauen hatte immer noch den Pfeil aufgelegt, die Sehne gespannt. Er wirkte, als würde er in Tränen ausbrechen, wenn er sich gestattete, die Anspannung zu lösen. Also kletterte Gyffs zu ihm hoch und nahm ihm erst den Pfeil, dann den ganzen Bogen aus den verkrampften Fingern. Langsam und behutsam, als würde sie eine tiefe Wunde versorgen.

Während von den Holtzenauen sich um Kertz, MerDilli und Stoadert kümmerte, umrundete Leutnant Gyffs zu Fuß den Wagen und betrachtete die Plane.

Sie war nicht zerschlissen, sondern bemalt worden. Mit roten Händen. Affenmenschenhänden. Im Vorüberreiten hatten die Gegner mehrmals den Wagen signiert.

Warum? Was für ein Brauch steckte dahinter? War es eine Form von Magie, ein Bannzauber? Oder eine Markierung, für andere Affenmenschen, die sich zwischen hier und Carlyr aufhalten mochten: Diesen Wagen bitte passieren lassen, denn er trägt unsere Botschaften in die Welt der Menschen!

Sie wusste es nicht. Alles Raten führte nur immer wieder in die Irre. Sie alle wussten so gut wie nichts über dieses hinter der Felsenwüste verborgene Volk. Und Onjalban, der auch für sie ein Übersetzer hätte sein können, hatte sich entschieden, die Menschen zu bekämpfen.

Kertz und MerDilli fehlte nichts Ernstliches, sie waren einfach nur hart geschlagen und dadurch betäubt worden. Um Stodaert dagegen stand es schlecht. Von den Holtzenauen tat, was in seiner Macht lag, aber das war, wie er selbst zugab, nicht viel.

Sie befanden sich sechs Tage von der Festung Carlyr entfernt und hatten nicht einen einzigen Tropfen Wasser und nicht einen einzigen Krümel Proviant an Bord.