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Kapitel

Vom Nordturm der Festung Carlyr aus war der Fackelzug schon von Weitem zu sehen: als gelblicher Geisterschein mitten in der Ödnis des Feindeslandes.

Hauptmann Gollberg und Oberst Jenko wurden informiert. Die Dritte Kompanie war für diesen Abend zurückerwartet worden und nicht fristgemäß eingetroffen. Man konnte sich also denken, wer sich dort näherte, und noch wurden Scherze gemacht über die Unfähigkeit von Grünhörnern, sich an Zeitpläne zu halten, über Nachtblindheit und die Furcht von Unerfahrenen.

Die Scherze verstummten, als die Torflügel sich öffneten und der Raubiel-Planwagen mit der verdreckten und zerschrammten Dritten Kompanie in die Festung hereinrasselte.

Im Lazarett brach hektische Geschäftigkeit aus. Die Heilerin Ilintu badete das Blatt ihrer Knochensäge in hochprozentigem Alkohol. Der schubweise wieder zu sich gekommene Ellister Gilker Kindem wurde ins Lazarett geleitet wie ein zum Tode Verurteilter zu seiner Hinrichtung.

Der Leichnam von Korporal Garsid wurde fürs Erste in die Kapelle verbracht. Schaulustige fanden sich ein, Bedienstete wie Uniformierte. Man munkelte von Panzerlöwen und Drachen.

Die Soldaten der Dritten Kompanie torkelten ins Waschhaus und von dort aus in ihre Quartiere. Aus diesen Männern war kaum mehr ein verständliches Wort herauszubekommen. In den Räumen F, H und I blieb in dieser Nacht jeweils ein Bett ungewohnt leer.

Die beiden Leutnants wurden unverzüglich zum Rapport gebeten. Beide gaben sich Mühe, dem Oberst eine vollständige chronologische Abfolge aller relevanten Geschehnisse wiederzugeben, unter Verweis auf Lements Bericht, der wohl erst morgen fertig werden würde.

Oberst Jenko schwieg lange, nachdem er sich das alles angehört hatte. Dann räusperte er sich. »Also, ich nehme zur Kenntnis, dass der Auftrag als solcher wohl ausgeführt wurde, meinen Glückwunsch hierfür! Dass allerdings die Entscheidung, Teile der Mannschaft aus Bequemlichkeit auf dem Wagen mitfahren zu lassen, dazu geführt hat, dass im Angriffsfall nur die halbe Kompanie zur Verfügung stand – nun, ich werde dazu besser den Bericht abwarten und mich mit Hauptmann Gollberg beraten. Jetzt könnt Ihr erst mal wegtreten, Euch waschen und ausschlafen. Ihr werdet unterrichtet werden. Und – Leutnants?« Die beiden waren schon wieder an der Tür und stolperten übereinander, als der Oberst sie noch einmal zurückrief. »Mein Beileid für den ersten im Feindesland erlittenen Verlust. Es wird, fürchte ich, nicht der letzte bleiben.«

Wie geprügelte Hunde schlichen Fenna und Gyffs aus der F & L über den Hof und ins Waschhaus. Sie waren dermaßen erschöpft, dass sie keinerlei Vorkehrung mehr trafen, ihre zerschundenen, nackten Leiber voreinander zu verbergen. Danach ging Gyffs schlafen; Fenna musste zu Ilintu, nicht nur wegen Kindem und Jonis, sondern auch wegen seinem bläulich angeschwollenen Knie.

Auf dem nächtlichen Hof meinte er Hauptmann Gollberg mit Lement sprechen zu sehen, aber Fenna war sich nicht sicher. Es waren zu wenig Fackeln entzündet, und Fenna kam sich wie nachtblind vor.

Ilintu empfing ihn mit verschwitztem Gesicht und ebenfalls nass glänzendem Dekolleté. »So etwas gehört zu den Dingen, die du mir besser nicht mehrmals antun solltest, Eremith«, sagte sie.

»Es tut mir leid, Ilintu. Es tut mir wirklich leid.«

»Es ist mir gelungen, seinen Ellenbogen zu retten. Das hört sich nicht nach viel an, aber es ist ein ziemlicher Unterschied, ob einem der ganze Arm fehlt oder nur die Hand und der Unterarm und man noch ein Gelenk hat, um das herum man eine Prothese bewegen kann.«

»Ja, das ist ein großer Unterschied. Ich danke dir wirklich.«

»Der andere, der Junge, hat ein paar geprellte Rippen, Blutergüsse am ganzen Körper, aber nichts Ernstes, denke ich. Ich habe dennoch beide erst mal schlafen gelegt.«

»Mit Kräutern?«

»Ja. Mit einem äußerst wirksamen Schlaftee.«

»Wir hatten nichts dabei, um Kindems Qualen zu verringern. Von den Holtzenauen sollte sich von dir etwas zubereiten lassen, das man auf einen Feldeinsatz mitnehmen kann, findest du nicht auch? Ich möchte das lieber nicht noch einmal erleben.«

»Das lässt sich arrangieren. Und was ist mit deinem Knie?«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts mehr.«

Sie untersuchte ihn. Er achtete nicht auf die Schmerzen, die sie ihm dabei notwendigerweise zufügte. Ihm kam erst jetzt so richtig zu Bewusstsein, dass Garsid tot war. Zum ersten Mal hatte ein Mensch unter Fennas Kommando sein Leben verloren. Selbst im chaotischen Chlayst war das nie passiert. Die Menschen waren verreckt, die Flammen hatten die Kinder verzehrt. Aber das war nicht Fennas Schuld gewesen. Ein Sumpf war wahnsinnig geworden.

»Kindem und seine Hand, das ist gar nicht so schlimm. Er kann das alles noch zum Guten wenden. Er hat einen Unterarm verloren in den Diensten der Königin. Nicht bei irgendeinem kleinen Mist, sondern gegen einen ausgewachsenen Panzerlöwen. Den Angriff eines solchen Ungeheuers überhaupt überlebt zu haben ist schon aller Ehren wert. Er hat den stinkenden Atem des Todes gespürt und überstanden. Das war sogar richtig geschickt von ihm, seinen Schildarm zu opfern, um seinen Waffenarm, seinen Kopf, sein Leben zu schützen. Aber Garsid kann gar nichts mehr sagen. Für ihn ist alles vorüber. Jegliche Schuld, die er noch zu begleichen hatte: unbegleichbar. Jeglicher Dank, den ihm noch jemand abzustatten hatte, kann nie vergolten werden. Wie vielen Menschen fügt man einen Verlust zu durch einen einzigen Tod? Wahrscheinlich allen, die den Toten je gekannt haben.« Fenna bemerkte erst jetzt, dass er laut nachgedacht hatte. Ilintu tat besonders beschäftigt, um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen. Also redete er einfach weiter, als sei er mit sich selbst alleine. »Was ich auch seltsam finde, ist, dass ich erst jetzt so richtig begreife, dass es Garsid nicht mehr gibt. Was war in den fünf Stunden, die wir in der Nacht hierher geruckelt sind, mit der Leiche an Bord und dem bibbernden Kindem? Woran habe ich in diesen fünf Stunden gedacht? An nichts. An die grausame Dunkelheit jenseits unseres Fackelscheins. An die vielen Tausend Augen des Feindeslandes, die uns beobachten, mit Staunen, mit Unverständnis und mit Gier.«

»Jetzt glaubst du also auch daran«, wagte Ilintu ein Nachhaken.

»Woran?«

»An das Feindesland. An diesen Mythos, der nur darauf aus ist, uns zu fressen. Dabei tut er uns nichts, wenn wir ihm nichts tun.«

»Garsid hatte dem Land nichts getan.«

»Aber er war dort, wo er nichts zu suchen hatte. Dafür musste er einen Preis entrichten. Und als Soldat in der königlichen Uniform war er sogar bereit dazu.«

Fenna starrte die Heilerin an, dann glitt sein Blick wieder ins Leere. Sie schien mit seinem Knie fertig zu sein. »Eine hässliche Verdrehung der Bänder. Eigentlich nichts Weltbewegendes, aber da du unbedingt fünf Stunden mit diesem Bein durch die Gegend humpeln musstest, sollte ich dich auch besser zwei bis drei Tage hierbehalten. Du kannst gleich den leckeren Tee kosten, den auch Kindem und der Junge schon genossen haben.«

»Nicht, wenn sich’s irgendwie vermeiden lässt. Sei mir nicht böse, Ilintu, aber ich habe den gesamten letzten Winter in einem Lazarett verbracht. Das reicht mir für dieses und die nächsten vier Jahre. Ich will in meinem eigenen Bett schlafen.«

Sie zuckte die Schultern. »Was immer der Offizier für das Beste hält. Ich bin ja nur eine einfache Heilerin, was weiß ich schon von der Welt?«

Fenna berührte sie zärtlich an der Schulter, dann stemmte er sich hoch und hinkte über den stetig dunkler werdenden Hof zu den Offiziersquartieren.

Die Geräusche, die er im Flur vernahm, ließen ihn zuerst denken, ein Pärchen gäbe sich heimlich dem Liebesspiel hin, aber als er die Tür zu seinem und Gyffs’ Zimmer erreichte, begriff er, was los war. Leutnant Loa Gyffs schluchzte, allein im dunklen Raum. Sie mochte eine gute Weile dagegen angekämpft haben. Aber dann hatte sie ihn nicht mehr zurückhalten können, den Schmerz, den das Feindesland ihnen allen zugefügt hatte.

Fenna verstand sie vollkommen. Hätte er sich nicht so schwach und ausgelaugt gefühlt, hätte er sich vielleicht auch seinen Tränen überantwortet. Er beneidete Gyffs beinahe um die Unmittelbarkeit ihrer Jugend.

Aber sie würde es hassen, wenn er Zeuge ihrer Schwäche würde.

Also machte er kehrt, hinkte ins Lazarett zurück, ließ sich von Ilintu den Kräutertee reichen und schlief in einem der leeren Krankenbetten – ohne Träume, ohne Kinder, ohne Soldaten und ohne Hoffnung.