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Kapitel

Nachdem Fenna und der Fernwaffenzug ihre behaglichen Wagenplätze mit dem Infanteriezug hatten tauschen müssen, durchquerten sie abermals das Gasfeld. Das Gas schien nun anders zu stinken als noch beim ersten Mal. Beißender und saurer. Das Gelb trieb um sie herum wie werbende Tänzerinnen. Tadao Nelat, Ildeon Ekhanner und auch Onida Raubiel mussten sich diesmal wirklich übergeben. Der Geruch ihres Erbrochenen schien zusätzlich verstärkt über die übrige Kompanie herzufallen. Beinahe allen wurde schlecht, nur MerDilli, der einen eisernen Magen hatte, Gyffs, die sich keinerlei Schwachheiten gestattete, und Kertz, der sich in dem Brodem eher wohlzufühlen schien, wirkten unbeeindruckt. Fenna dagegen musste sich am Wagen festhalten, um sein Straucheln zu kaschieren.

Nach einer Stunde waren sie immer noch nicht aus dem widerwärtigen Gelb heraus. Hatte das Gasfeld sich vergrößert? Oder hatten sie die Richtung verloren? Dem Sonnenstand nach zu urteilen keinesfalls. Wahrscheinlich waren sie einfach bedeutend langsamer als auf dem Hinweg.

Zehn Sandstriche nach Verstreichen der Stunde vermeinte der vorausgehende Korporal Garsid das Ende des Gasfeldes zu sehen. Keuchend rief er etwas durch sein grünlich triefendes Tuch. Alle beschleunigten ihre Schritte. Aber das vermeintliche Ende erwies sich als eine Fata Morgana innerhalb des Gases, eine Verwehung von weniger eindeutiger Farbe. Tadao Nelat verlor nun die Besinnung. Glücklicherweise saß er bereits im Wagen und stürzte gar nicht erst. Er kippte einfach zur Seite. Der neben ihm sitzende Fergran von den Holtzenauen machte sich dennoch Sorgen um Nelats Gesundheitszustand.

Es dauerte noch eine weitere Drittelstunde, bis das Gasfeld tatsächlich durchquert war. Die meisten Infanteristen sanken in respektvoller Entfernung von den äußersten Schwaden auf die Knie und atmeten sich erst einmal die Brustkörbe frei. Alle husteten. Es fühlte sich an, als hätte man Wasser in der Lunge oder gar Blut. Fenna keuchte nur noch und versuchte dabei, ein Japsen zu unterdrücken. Gyffs war deutlich unbeschadeter durchs Gas gegangen als er.

»Wir liegen im Zeitrahmen etwas zurück«, trieb sie ihre Männer an. »Wenn wir weiter so herumtrödeln, müssen wir die Nachtruhen verkürzen, damit wir übermorgen nicht erst mitten in der Dunkelheit die Festung erreichen.«

Für eine Stunde zeigte diese Mahnung Wirkung. Während Tadao Nelat wieder zu sich kam, bemühte sich der Infanteristenzug um ein erhöhtes Marschtempo. Aber nach einer Stunde wurden sie umso langsamer. Die Zungen hingen ihnen aus den Mündern wie Hunden. Es war Zeit für den nächsten Wechsel: Die Infanteristen durften auf den Wagen, der Fernwaffenzug musste wieder wandern. Auch Fenna ging mit hoch unter die Plane und legte sich sofort erschöpft aufs Ohr.

Lement notierte in seiner Kladde, dass die Dritte Kompanie die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit erreicht hatte. Noch niemals zuvor waren diese Männer vier Tage am Stück marschiert. Jetzt war es einzig und allein dem mitgeführten leeren Wagen zu verdanken, dass die Kompanie nicht alle halbe Stunde eine halbe Stunde Rast einlegen musste.

Sie fanden den süßen Fluss wieder. Auch dessen Wasser schien nun – womöglich war es eine Auswirkung des vermehrt eingeatmeten Gases – deutlich penetranter zu stinken als noch gestern früh. Tadao Nelat taumelte mehr, als dass er geradeaus ging. Ekhanner und von den Holtzenauen wirkten ebenfalls sehr angeschlagen. Vom ganzen Fernwaffenzug hielten sich nur noch Stodaert und Korporal Deleven gerade.

Gyffs sah ein, dass es keinen Sinn mehr hatte, Geschwindigkeit einzufordern. Sie ließ zwei längere Rasten zu. Darüber hinaus kündigte sie an, die Nachtruhe schon in die Dämmerung vorzuverlegen, damit die Männer wieder nachhaltig zu Kräften kommen konnten. Es gab noch einen letzten Wechsel der Wagenpassagiere, dann senkte sich die Sonne schnell, wie ebenfalls zu Tode ermattet von diesem Tag.

In dieser Nacht schlief die gesamte erste Wachschicht – Korporal Garsid, Nelat und Behnk – während der Wachpflicht ein. Die zweite Schicht – Gyffs, Kindem, Kertz und Stodaert – wurde also überhaupt nicht geweckt und schlief durch. Emjen Raubiel – der sich nun des Nachts zwar nicht mehr um seine Ladung, aber immer noch um sein Gespann, seinen Wagen und seine Tochter sorgen musste – wachte während der dritten Schicht auf und stellte entsetzt fest, dass das gesamte Lager vollkommen unbewacht in der Nacht lag. Er weckte die Leutnants, und nun gab es ein großes Geschrei. Leutnant Gyffs war außer sich. Da sie selbst in der zweiten Schicht eingeteilt gewesen war, aber nicht geweckt wurde, durchschaute sie sofort, wo der Fehler gelegen haben musste. »Was fällt euch denn ein?«, herrschte sie Garsid, Nelat und Behnk an. »Ist euch eigentlich klar, was ihr da angerichtet habt? Wir sind im Affenmenschenland! Die hätten sich leicht anschleichen und jedem von uns im Schlaf die Kehle durchschneiden können!«

»Die drei sind die einzige Wachgruppe, die nur zu dritt ist«, nahm Leutnant Fenna die Sünder in Schutz. »Das war von Anfang an ein Schwachpunkt in unserer Einteilung. Vielleicht hätten wir doch Lement oder die Raubiels mit einbinden sollen, der Sicherheit zuliebe.«

»Ach, du! Du hast Verständnis, weil du wahrscheinlich selber eingeschlafen wärst!«

»Das hätte mir passieren können, ja. Und dann hätten von den Holtzenauen, Jonis und MerDilli mich wohl wach gerüttelt. Es ist großes Pech, wenn alle gleichzeitig einnicken. Aber es ist großes Glück, dass uns nichts passiert ist.«

»Das wollen wir doch erst mal sehen! Alle überprüfen ihre Waffen und Ausrüstungen, ob uns auch nichts geklaut wurde!«

Die Kompanie tat, wie ihr geheißen. Es fehlte nichts. Gyffs war dennoch weiterhin aufgebracht. »So etwas darf einfach nicht vorkommen! Ein einziger solcher Fehler, und wir können alle tot sein!«

»Jeder hat das begriffen«, sagte Fenna müde. »Lement wird eine Aktennotiz machen. Die drei Wachverschläfer werden in der Festung bestraft werden. Aber hier jetzt weiter in die Nacht hineinzuschreien erhöht nur wieder die Wahrscheinlichkeit, dass jemand oder etwas auf uns aufmerksam wird.«

Das saß. Leutnant Gyffs verstummte. Lement konnte in der Dunkelheit nichts aufschreiben, machte sich aber im Kopf einen Vermerk, dass er am folgenden Morgen notieren müsse: »Uneinigkeit der Leutnants unter dem Druck einer glimpflich überstandenen Gefahrensituation.«

Gyffs bestand darauf, mit Kindem, Kertz und Stodaert den Rest der Nacht Wache zu halten. Sie war ohnehin zu zornig zum Schlafen. Ihr großes militärisches Vorbild, der General Urcharin Zoydenak aus den fernen Zeiten der Piratenkriege, hatte vor nichts eindringlicher gewarnt als vor der »Verführungskunst, welche die Nacht selbst besitzt«. Gyffs beschloss, nach Abschluss dieser Mission mit der Kompanie Strategien zum erfolgreichen Wachehalten zu erarbeiten.

Der Morgen kam schwächlich, die Nacht schien mit jedem Mal stärker und zäher zu werden. Man konnte die dunkelste Jahreszeit nahen spüren.

Die Felsformation, die wie zwei Säulen aussah, geriet wieder in Sicht, aber kein Leben regte sich in Blickweite der vorüberziehenden Planwageneskorte. Keine Echsengeier, keine Drachen und erst recht keine Affenmenschen. Aus Langeweile begann Korporal Garsid nach Spuren zu suchen, wie auch Hauptmann Gollbergs Kompanie das immer machte: Spuren von Überlebenden, Verstreuten. Aber der große Feldzug gegen die Affenmenschen war bald ein ganzes Jahr her.

Fenna, der Garsids Bemühungen bemerkte, suchte ein Gespräch mit der immer noch schmallippigen Gyffs. »So seltsam es klingt, aber ich fange, glaube ich, langsam an, Hauptmann Gollbergs Überlegungen zu verstehen.«

»Überlegungen in welcher Hinsicht?«

»In Bezug auf mögliche Überlebende. Zuerst dachte ich, dass es mit jedem verstreichenden Mond doch unwahrscheinlicher wird, dass noch jemand von den Versprengten am Leben ist. Doch jetzt, wo ich mir das Land so ansehe, bekomme ich den Eindruck, dass das eigentliche Problem gar nicht die Affenmenschen sind, sondern eher das Durchqueren des Landes. Nehmen wir also an, eine Kompanie, so wie unsere, hat überlebt.«

»Unser Spiegelbild.«

»Unser Spiegelbild, mit zwei Leutnants. Sie haben irgendwo dort oben in der Einöde einen Ort gefunden, wo sie Trinkwasser haben. Zu diesem Trinkwasser kommt auch immer wieder Wild, also können sie überdauern. Sie wissen jedoch: Zwischen ihrer Position und der nächstgelegenen Stellung der Menschen – Carlyr – gibt es nichts außer Gasfeldern, giftigen Flüssen, Haihundrudeln und anderen Bestien. Sie können nicht genug Trinkwasser mitschleppen, um den Rückweg zu bewältigen. Also was machen sie? Sie harren aus. Und hoffen, dass wir sie finden und heimholen.«

»Das Problem bei dieser Theorie ist nur: Sie ist erst dann bewiesen oder widerlegt, wenn man entweder Überlebende gefunden oder aber das gesamte Affenmenschenland durchkämmt hat. Beides ist extrem gefährlich.«

»Das ist richtig. Aber mit dem Proviantlager, das wir jetzt angelegt haben, wird Gollbergs Reitern ein deutlich größerer Aktionsradius gegeben. Ich denke, wir haben eine wirklich sinnvolle Mission bewältigt.«

»Wenn das Lager nicht schon längst wieder geplündert wurde.«

»Aber von wem? Wir sehen nichts und niemanden. Nicht einmal Bauwerke oder Behausungen irgendeiner Art. Endete der Feldzug nicht mit einer furchtbaren magischen Katastrophe, einer Entladung von gleißendem, verheerendem Licht? Wer sagt uns denn, dass nicht alle Affenmenschen an diesem Licht zugrunde gegangen sind?«

»Das ist ja einmal eine Theorie, die unsere Vorgesetzten erheitern dürfte. Die Affenmenschen sind bereits alle tot, der Krieg ist gewonnen. Aber ich glaube das nicht. Garsid hat es doch gesagt: Die Siedlungen kommen erst weiter nördlich oder weiter westlich. Sicher gibt es da auch mehr Wasser und Leben, denn sonst könnte man dort ja nicht siedeln. Nein, ich glaube nicht an Überlebende. Aber ich glaube daran, dass es die Affenmenschen noch gibt, in großer Zahl, und dass das Halten unserer Stellung Carlyr eine sinnvolle und wichtige Aufgabe ist.«

Sie passierten die Gegend, in der sie auf dem Hinweg den Drachen gesehen und ein Drachennest vermutet hatten. Alles war nun still, aber das bedeutete nicht, dass dort nichts auf der Lauer lag. Also umgingen sie dieses Gebiet abermals in respektvollem Abstand und achteten dabei darauf, nicht zu niesen und auch sonst keine überflüssigen Geräusche zu machen.

Im Laufe des Nachmittages tauchte wieder ein halbes Dutzend Echsengeier auf, flatterte mit ledernen, an die zwei Schritt langen Flügeln in der Nähe der Kompanie herum und zerstreute sich nach einer Stunde wieder. Fenna gefiel das alles nicht. Was wollten diese Geier? Sie griffen nicht an, kreisten aber auch nicht über einer anderen Beute, sondern schienen sich immer wieder – verhältnismäßig schüchtern – für den Planwagen und die ihn begleitenden Menschen zu interessieren. Waren die Echsengeier Späher für die Affenmenschen? Drehte er selbst allmählich durch, weil er einen taktischen Sinn in solche Naturvorgänge hineinzudichten begann?

Einmal bemerkten sie den Kopf eines Wesens, das offensichtlich in dem giftigen Fluss leben konnte. Es sah nicht aus wie ein Fisch, sondern eher wie ein mit kristallinen Wucherungen besetzter Otter.

Der allgemeine körperliche Zustand der Kompanie war besorgniserregend. Allen schmerzten auf dem harten, trockenen Untergrund die Füße. Viele hatten trotz vorschriftsmäßigen Schuhwerks Blasen. Alle waren unausgeruht, unrasiert, staubverkrustet, durchgeschwitzt, froren dann aber auch immer wieder im plötzlich kühl auffrischenden Wind. Es gab nicht genügend Wasser zum Waschen. Alle juckten sich, als hätten sie Flöhe, dabei gab es hier gar keine Insekten. Alle sehnten sich nach einem weichen Bett, nach warmem Essen oder einem Getränk, das entweder heißer oder kühler war als ein abgestandenes Lau. Kertz fluchte viel, weil er seine Augengläser dauernd putzen musste. Der wirbelnde Windstaub blieb immer wieder auf ihnen haften. Ekhanner betete zu Afr, Tinsalt, Kjeer, Senchak und Bachmu – allen Gottheiten, die etwas mit dieser Gegend zu tun haben mochten. MerDilli bekam vom vielen Laufen Probleme mit seinen Knien und Fußknöcheln. Seine Beine waren im Verhältnis zu seinem außerordentlich muskulösen Oberkörper vielleicht ein wenig zu schwach. Teppels Atem ging schleppend und rasselnd, er selbst schien mit jedem Tag grauer zu werden. Stodaerts Zackigkeit bekam etwas Puppenhaftes, wie eine hohle Struktur, deren innerer Zerfall nur noch durch ein strenges Korsett aufrechterhalten wurde. Auch von den Holtzenauen war viel am Jammern und Stöhnen. Seine eher lässige Dienstauffassung kollidierte nun mit der schon seit Tagen andauernden Beanspruchung. Wenigstens ging es Tadao Nelat wieder besser – es war nur das Gas gewesen, das ihm so arg zugesetzt hatte. Der mädchenzarte Soldat mit dem Kinnflaum folgte seinem Korporal Deleven auf Schritt und Tritt und äußerte sich dankbar darüber, dass die Luft wieder frisch und durchsichtig war.

Die Kompanie verließ den nach irgendwo abzweigenden Flusslauf, passierte die beiden Felssäulen und marschierte noch so weit wie möglich in die Dunkelheit hinein. Gyffs wollte die Zeit, die durch das frühe gestrige Lager eingebüßt worden war, wieder gutmachen. Sie wollte unbedingt am morgigen Abend die Festung erreichen ohne ein zusätzliches Lager oder eine mühselige lichtlose Nachtwanderung durch felsiges Geläuf.

Der Mond schien durch Wolkenfetzen, also konnten sie auch im Dunkeln noch ein wenig sehen. Genügsam folgten die Pferde dem Anschein eines Weges, der Richtung Felsenwüstengebirge führte; der Wagen folgte den Pferden, die Soldaten wiederum dem Wagen. Teppel stürzte und kämpfte sich wieder hoch. Kindem strauchelte, dann Jonis. Teppel schlug abermals hin und blieb diesmal liegen. Es ging nicht mehr weiter. Es war einfach zu finster, der Mondschein zu sehr nur eine Vortäuschung von Licht.

»Dies ist unser letztes Lager, Männer!«, sagte Gyffs, während die Soldaten ihre Vorkehrungen für Nachtruhe und Wachehalten trafen. Onida Raubiel rieb mit trockenem Gras die Pferde ab. »Morgen Abend schon sind wir in der Festung, da gibt es dann ein leckeres Essen, einen Krug roten Wein, ein bequemes Bett und mindestens zwei Tage dienstfrei, würde ich sagen.« Die Soldaten waren zu müde zum Jubeln, aber sie nickten lächelnd vor sich hin.

Von Fenna war nicht mehr viel zu sehen oder zu hören. Entweder schlief er auf dem Wagen oder marschierte stumm als Nachhut hinterher, argwöhnisch das zurückliegende Land betrachtend, einen Hinterhalt erwartend, einen Sturmangriff von Riesenaffen, eine Armee zottelfelliger Weiber, Paviane mit Menschengesichtern, kreischende Äffchen mit grünen Feuerkatapulten, irgendetwas.

In dieser Nacht schien Leutnant Gyffs’ strengster Gesichtsausdruck in den Wolken über dem Lager zu schweben – niemand wagte es, auf seiner Wache länger als einen Lidschlag die Augen zu schließen.

Während der Schicht von Korporal Deleven ging weit entfernt im Felsenwüstengebirge eine Steinlawine ab. Das Rumpeln rollte wie Donner über das ebene Land. Was auch immer diese Lawine ausgelöst haben mochte, musste etwas Großes sein, aber beruhigend weit entfernt.

Während der Schicht von Leutnant Fenna wagte sich eine vorwitzige Echse mitten durch das Lager. Sie war nicht sehr groß, etwa einen Drittelschritt von Kopf zu Schwanzspitze, aber sie war dunkel mit hellen Perlen, genau wie ein Nachthimmel voller Sterne. Ihre Augen rotierten in alle denkbaren Richtungen. Fenna beobachtete sie, sie beobachtete ihn. Dann watschelte sie breitbeinig davon.

Während der Schicht von Korporal Garsid hatte Jovid Jonis einen Albtraum, der ihn im Schlaf ächzen und unverständliche Worte murmeln ließ. Nachdem Garsid ihn geweckt hatte, konnte sich Jonis aber an nichts erinnern.

Als es dämmerte, weckte Garsid das ganze Lager. Die Männer machten einen besseren Eindruck als am vorherigen Tag. Jetzt stand ihnen nur noch ein einziger, letzter Marsch bevor, der zusätzlich durch die Annehmlichkeit des Wagenfahrens alle drei Stunden in eine beinahe gemütliche Kutschreise überging. Sie spürten, dass der weitaus größte Teil der Mission – fünf Tage von sechs – bereits hinter ihnen lag, dass bislang alles Wesentliche nach Plan verlaufen war, dass die Affenmenschen sich nicht gezeigt hatten und sich jetzt so nahe der Festung auch nicht mehr zeigen würden und dass es nur noch einer letzten kleinen Mobilisierung von Kräften bedurfte, um Essen, Wein, Bett und mindestens zwei Tage dienstfrei genießen zu können.

Dieser Tag wurde heller, weil wolkenloser als die Tage zuvor.

Und trotz der guten Sicht kam der Angriff am frühen Nachmittag vollkommen unerwartet.

Der Infanteristenzug war gerade mit Marschieren dran. Fenna teilte sich die Wagenfläche stets mit dem kleineren Fernwaffenzug und schlief, während Gyffs sich inmitten der Infanteristen aufhielt, sie fuhr nie auf dem Wagen mit.

Der Schreiber Lement war der Erste, der etwas bemerkte, denn er saß hinten im Wagen, ohne zu schlafen, und schaute oft hinaus. »Leutnant Gyffs, da kommt eine Art Staubwolke von schräg hinten rechts!«

»Wo?«

»Da drüben! Von hier oben kann man es vielleicht besser sehen.«

»Nein, jetzt sehe ich es auch. Was ist das? Es ist schnell. Sind das … Reiter?«

»Vielleicht sind welche von Gollbergs Kompanie im Einsatz«, mutmaßte Alman Behnk.

»Das sind keine Reiter«, sagte Korporal Garsid. »Viel zu schnell, viel zu niedrig.«

»Ihr Götter!«, entfuhr es Leutnant Gyffs. »Fernwaffenzug! Aufwachen und schussbereit machen, los, los, los, los, los! Wir werden angegriffen!«

Diese Worte und Gyffs’ aufgeregte Stimme wirkten wie ein Schlag ins Gesicht, wie Eiswasser in den Knochen, ein Blitz aus heiterem Himmel. Korporal Delevens Männer schnellten aus ihrer Ruhephase hoch und purzelten ungelenk im Wagen übereinander. Mittendrin ein fluchender, keuchender Leutnant Fenna.

Emjen Raubiel wollte die Pferde mit Peitschenknallen antreiben, doch das war schon gar nicht mehr möglich. Die beiden Gäule gingen von alleine durch, witterten die schreckliche Gefahr. Der Ruck, der deshalb durch den Wagen lief, ließ den Schreiber Lement und den Soldaten von den Holtzenauen beinahe hinten von der Ladefläche stürzen.

Der Wagen entfernte sich. Mit ihm der Fernwaffenzug.

Die Angreifer kamen näher, gehüllt in ein Banner aus aufgewirbeltem Staub.

Es waren Tiere.

Panzerlöwen.

Drei.

Loa Gyffs spürte zum ersten Mal in ihrem Leben Todesangst. Todesangst machte nackt und kalt und heiß und klein und schutzlos. Sie verwandelte den Leib in etwas Weiches, das selbst der Routine jahrelanger Übungseinheiten nicht mehr gehorchen wollte.

Korporal Garsid stellte sich zum Kampf. Hinter ihm formierten sich Emara, Jonis, Kindem und MerDilli. Kertz stand etwas abseits und schrie etwas. Er sah begeistert aus. Behnk und Teppel jedoch funktionierten nicht. Die Todesangst ihres Leutnants sprang auf sie über wie eine ansteckende Krankheit. Behnk weinte schon wieder. Teppels Hosenbeine wurden nass.

»Angriff!« war das Wort, das »Scheusal« Kertz widersinnigerweise schrie.

Korporal Garsid nahm es auf. »Angriff!«

Loa Gyffs wandte sich nach hinten um. Dort sprang Korporal Deleven vom davonrasenden Wagen, rollte sich ab, kam völlig außer Balance hoch, fing sich im Rennen, zückte seinen Kurzbogen. Ihm folgte Leutnant Fenna, der weitaus ungeschickter als Deleven auf den Boden prallte, sich mehrmals überschlug und erst mal benommen liegen blieb. Der Rest des Fernwaffenzuges war ein Tumult unentschlossener Leiber in der hinteren Öffnung der Wagenplane. Einer gab aus lauter Hilflosigkeit einen Schuss ab. Der Pfeil trudelte ziemlich genau auf Leutnant Gyffs zu und zog dann hoch über ihren Kopf. Sie folgte der Flugbahn mit den Augen in die Wüste, bis sie die Panzerlöwen wieder im Blick hatte.

Es waren riesige Raubkatzen mit gefletschten Zähnen, ihre Schultern auf gleicher Höhe mit Behnks Gesicht. Allein von ihrer Masse her konnten sie auch einzeln eine ganze Gruppe von Menschen umreißen, und sie befanden sich im gestreckten Jagdsprint. Es waren Weibchen; ihnen fehlten die charakteristischen Hornkronenkragen der Männchen. Gyffs hatte einmal gelesen, dass bei den meisten Raubkatzen die Weibchen für das Jagen im Rudel zuständig waren. Sie hetzten ihre Beute oder sprangen sie einfach an. So wie jetzt.

Gyffs schrie und zog endlich ihren Armeesäbel.

Die vorderste Löwin stieg hoch und warf sich von schräg oben auf Garsid, Emara und Jonis. Garsid schien ihr entgegenzusteigen, rammte ihr seinen Säbel in den weichen Unterleib. Ihre Krallentatzen dröhnten auf die Schilde. Alles ging zu Boden. Alles brüllte und fauchte.

Die zweite Löwin sprang ganz gezielt Ellister Gilker Kindem an. Er war der Größte von allen, vielleicht die größte Gefahr oder die ertragreichste Beute. Kindem plärrte unter dem Ansturm wie ein Neugeborenes. Sensa Merdilli eilte ihm zur Seite und hieb wie ein Irrer auf das abgebremste Tier ein.

Die dritte Löwin schlenzte an den Kämpfen vorüber, wollte weiter, vielleicht dem Wagen und den köstlichen Pferden hinterher, doch »Scheusal« Kertz stellte sich ihr in den Weg. Er war ein toter Mann – Loa Gyffs sah ihn zerfetzt im Grab, immer noch grinsend, während seine Augengläser Löcher in die Welt brannten. Sie musste ihm beistehen. Sie musste Kindem und MerDilli beistehen. Sie musste Garsid, Emara und Jonis beistehen.

Die Bestien hatten sandfarbenes Fell. Ihr Rücken und ihre Flanken waren bedeckt mit fischschuppenartig angeordneten Hornplatten, die ihnen den Namen Panzerlöwen eingebracht hatten. MerDillis Hiebe klangen, als würde jemand auf Dachschindeln eindreschen. Die Muskeln der Katzen ließen ihr Fell in immer neuen Konturen schimmern. Kertz und die Löwin standen sich jetzt gegenüber. Vielleicht irritierten sie seine gläsernen Augen. Loa Gyffs rannte dorthin, wobei ihr die Distanz unglaublich weit vorkam und ihre Beine absurd kurz. Sie rempelte gegen Breff Adirony Teppel, der einfach umkippte. Vielleicht war er vor Angst gestorben. Dafür war aber plötzlich Alman Behnk neben ihr. Flennend rannte er in einer Art übertriebenem Gleichschritt an ihrer Seite.

Die Löwin, die Garsid, Emara und Jonis umgerissen hatte, richtete sich wieder auf. Ihr Maul und ihre Zähne trieften von Blut. Emara und Jonis versuchten, unter ihren Tatzen wegzukommen. Beide schrien sie vor Entsetzen. Ein Pfeil sirrte herbei und traf die Löwin an der gepanzerten Schulter. Klackend wurde der Pfeil abgelenkt in den zerwühlten Sand. Deleven schoss abermals. Die Einöde um ihn herum bockte wie ein ungezähmtes Pferd, denn er schoss im Rennen. Der zweite Pfeil ging knapp daneben.

Kindem lag plärrend am Boden, während die Löwin seinen Schildarm mitsamt dem Schild zerkaute. MerDilli rackerte sich an ihrer Panzerung ab wie ein Diamandaner Sklave in einem Bergwerk der Silbernen Krone. Seine Hiebe schienen aber erste Wirkungen zu entfalten, denn Hornsplitter sirrten um ihn herum wie aufgebrachte Wespen.

Kertz griff seine Löwin an. Der Säbelschwung ging ins Leere, die Löwin hob die Tatze nach der Waffe, spielerisch. Kertz knurrte etwas, das klang wie »Komm schon, meine Süße, zier dich nicht so!«. Er schlug abermals ins Nichts und verlor beinahe das Gleichgewicht. Gyffs und Behnk waren jetzt beinahe heran.

Mit vereinten Kräften gelang es Emjen und Onida Raubiel unterdessen, die Pferde wieder zu beruhigen, da die Raubtiere hinter ihnen ebenfalls angehalten hatten. Der Abstand zu den Infanteristen betrug allerdings schon mehr als eine halbe Meile. Endlich konnte der Rest des Fernwaffenzuges – Ekhanner, Nelat, Stodaert und von den Holtzenauen – hinten vom Wagen klettern und seinen Kameraden zu Hilfe eilen. Stodaert blutete aus einer Platzwunde an der Augenbraue; er war beim Anrucken des durchgehenden Gespanns mit dem Gesicht unglücklich auf die Kante der Proviantkiste geschlagen, klagte aber nicht darüber.

Leutnant Fenna spürte, dass etwas mit seinem rechten Knie nicht in Ordnung war. Das Aufstehen schmerzte, das Losgehen schmerzte, das Rennen noch mehr. Die Fernwaffenleute waren viel zu weit hinten, um noch irgendeine Rolle spielen zu können. Vor ihm war Deleven und schoss im Laufen, was sein Bogen hergab. Noch weiter vorne wurde gegen Bestien gekämpft. Gyffs. Wo war Gyffs? Fenna konnte niemanden erkennen. Alle Menschen sahen genau gleich aus im Angesicht der riesenhaften Löwinnen.

Die Löwin über Garsid spürte Delevens dritten Pfeil am Ohr und zuckte zusammen. Sie senkte den Kopf und verbiss sich in Garsid, um wenigstens diese Beute mit sich zu zerren. Einen Schritt weit zerrte sie. Dann traf sie ein weiterer Pfeil. Irritiert hielt sie inne. Von den Innenseiten ihrer Hinterbeine tropfte ihr Blut.

Auch Kertz’ Löwin schaute an dem fuchtelnden Soldaten vorbei. Gyffs und Behnk waren jetzt da, schwenkten Säbel. Weiter hinten kamen noch mehr Menschen. Die Lefzen der Raubkatze hingen weich herab. Die Zähne waren nur zu einem Viertel entblößt. Dann ging ein Ruck durch sie, wie ein Erschrecken. Sie wandte sich um und setzte auf weichen Tatzen ein Stück weit zurück, bevor sie abermals innehielt. Kertz rannte ihr hinterher, sodass er erneut Abstand zwischen sich und die abstoppenden Gyffs und Behnk brachte. »Anhalten, Soldat Kertz, sofort zurückkommen, das ist ein Befehl, verflucht noch mal!«, musste Gyffs brüllen, bis Kertz endlich stehen blieb.

Dann wandte sich Gyffs MerDilli und Kindem zu. Behnk folgte ihr, fiepend wie ein frierendes Hündchen.

Die Löwin über Garsid fauchte. Sie schnappte nach links unten, doch von dort erwiderte ihr Mails Emara mit einem verzweifelt geführten Abwehrhieb. Die Löwin zuckte zusammen. Sie fauchte erneut. Der nächste Pfeil traf sie ins Gesicht, seitlich der Nase. Sie schnaubte und bäumte sich auf. Dabei glitten ihr die Hinterpfoten weg. Blutmatsch klatschte. Die Löwin kam auf Jovid Jonis zu liegen, der wie abgehackt zu schreien aufhörte. Deleven ließ jetzt das Rennen sein, um besser zielen zu können, aber Kameraden und Löwin waren dennoch zu dicht beieinander. Alle badeten in Blut. Von der Seite hieb weiterhin Emara nach der Raubkatze – sein Entsetzen schien sich ohne Reibungsverluste in Zorn und Hass umgewandelt zu haben.

Leutnant Gyffs führte ihren ersten Schlag. Den ersten Schlag ihres Lebens überhaupt gegen ein wildes Tier, gegen einen todbringenden Gegner, gegen eine Inkarnation des Feindeslandes. Dieser Schlag unterschied sich kaum von Tausenden von Übungsschlägen. Und dennoch war alles ganz anders. Die Welt veränderte sich mit jeder Bewegung. Kindems Arm war längst kein Arm mehr. Das Tier hatte Augen und Rachen. Den Rachen wandte es jetzt Gyffs zu. Sie konnte den Atem der Bestie riechen. Der Atem roch sauer und salzig, nach faulendem Fleisch und eingelegtem Fisch. Die Löwin hatte ein schönes, ruhiges, erhabenes Gesicht mit bernsteinfarbenen Augen. Genau so sah etwas aus, das den eigenen Tod bedeuten durfte. Ein Angreifer mit dem ruhigen Gewissen eines Gewohnheitsmörder. Niemals ein Opfer.

Gyffs schlug wieder zu. Es war sinnlos. Dies war eine Panzerlöwin. Behnk tat es ihr gleich. Sie waren beide sinnlos, ohne Bedeutung, schon nicht mehr wirklich vorhanden.

Die erste Löwin starb auf Jovid Jonis, doch Emara hörte nicht auf zu schlagen. Seine Klinge durchtrennte Jonis beinahe das linke Ohr. Jonis versuchte sich zu wehren, gegen den Tod, der ihn von oben mit seinem Gewicht erdrückte, und gegen den eigenen Kameraden. Deleven kam näher und näher. Als er sah, wie die dritte Löwin vor Kertz immer noch zögerte, schoss er quer über den Kampfschauplatz auf sie. Abermals wandte sie sich um und rannte nun endgültig davon.

MerDilli hatte inzwischen eine Bresche in den Panzer der zweiten Löwin getrümmert. Mit einem Gesicht, das fast nur noch aus Zähnen bestand, rammte er ihr seinen Säbel in den Leib. Sie spürte das. Warf sich herum, mit beiden Tatzen gegen ihn. MerDilli hielt kurz stand, dann gaben seine Beine – der Schwachpunkt seines Körpers – nach. Er lag wehrlos. Doch die Löwin tötete ihn nicht. Sie warf sich abermals herum und schlug mit der Tatze nach Gyffs. Für Gyffs leuchtete alles für den Bruchteil eines Augenblicks gleißend weiß auf. Etwas erschütterte sie, durch und durch. Sie verlor den Boden, fand ihn nicht mehr wieder, stürzte haltlos durch das Weltall. Behnk wollte ihr beistehen, doch die Löwin riss ihr furchtbares Maul auf und brüllte ihn an, ihr Gesicht unmittelbar vor seinem. Behnk fiepte nur ein einziges Mal und rührte sich dann überhaupt nicht mehr.

Deleven schoss. Die Katze, die eben Leutnant Gyffs weggeschlagen hatte, wandte sich ihm zu.

Gyffs riss sich zusammen. Unten waren die Beine, was da oben schlackerte, mussten also ihre Arme sein. Alles andere war Schmerz und somit bedeutungslos für eine Offizierin der königlichen Armee. Sie schob das alles beiseite wie einen Schrank, der zwischen ihr und dem Feind stand. Gyffs sah wieder klar. Sie stand nun woanders, weiter hinten am Leib der Löwin, aber immer noch mitten im Geschehen.

Die Löwin betrachtete Deleven, während dieser nachlud. Der Einzige vom Fernwaffenzug, der es überhaupt bis hierher geschafft hatte. Von weit hinten humpelte Leutnant Fenna heran. Wo hatte der sich eigentlich verletzen können? Gyffs hieb nach dem Schwanz der Katze. Kein Hornplattenschutz hier hinten. Der Schwanz mit dem buschigen Ende flog gekappt durch die Luft. Die Löwin winselte. Abermals wandte sie sich um. Sie konnte sehr behände auf ein und demselben Fleck alle möglichen Richtungen abdecken, viel zu behände für ein dermaßen großes Tier. Gyffs sah Pranke und Maul. Sie hatte ihren Schild nicht zur Hand, parierte mit dem Säbel. Wieder dieses Aufleuchten. Wieder die Erschütterung des Leibes.

Deleven schoss. Der Pfeil knallte vom Panzer weg, traf beinahe MerDilli, der wieder aufrecht stand und brüllend zuschlug. Wieder drehte sich die Löwin. Dann sprang sie MerDilli an, mit beiden Pfoten voraus. Dieser Aufprall dröhnte sogar für alle anderen hörbar. MerDilli wurde waagerecht nach hinten getrieben, er landete auf seinem Rücken, die Löwin über ihm, sie biss und fauchte, er wehrte sich lautlos, boxte ihr gegen das Kinn. Deleven verhedderte sich beim Nachladen, seine Finger zitterten, weil MerDilli und die Bestie nun eins waren. Die Löwin zerrte an MerDilli, wie um ihn mitzunehmen, doch dieser wehrte sich heftig und mit kräftigen Armen. Dann ließ die Löwin ab von ihrer Beute und setzte mit weiten Sprüngen ihrer bereits geflüchteten Schwester hinterher. Deleven schoss, traf jedoch nichts mehr.

Gyffs stand, wo sie vorher gestanden hatte. Diesmal hatte das Weltall seine Koordinaten beibehalten. Mit ihrem Säbel hatte sie den Prankenhieb einer Panzerlöwin abgewehrt. In ihr Gehirn rauschte Blut zurück. »Holt Jonis unter der Löwin hervor, beeilt euch, Leute! Und jemand muss sich um Kindem kümmern! MerDilli, alles in Ordnung?«

»Geht … schon, … Leut…nant, … ich … muss … nur … at…men …« MerDillis Worte kamen in Schüben hervorgepresst; er war hart auf den Rücken gekracht, mit dem Gewicht einer Panzerlöwin auf dem Brustkorb.

Erst jetzt konnte Fenna das Schlachtfeld richtig überblicken. Deleven eilte zu Jonis, der unter einer toten Löwin lag. Emara schlug dort immer noch auf den Kadaver ein. Teppel lag am Boden, allem Anschein nach unverletzt. MerDilli desgleichen. Kindem kniete und hielt sich die Überreste eines Arms. Und Garsid. Korporal Garsid.

Von hinten kamen die Fernwaffenleute. Fenna gab Befehle. »Ekhanner, Nelat und Stodaert: Helft Jonis da raus und beruhigt Emara! Von den Holtzenauen: Du musst Kindem den Arm abbinden. Tu, was in deiner Macht liegt!«

»Was ist mit Eurem Bein, Leutnant?«, erkundigte sich von den Holtzenauen im Vorüberlaufen.

»Das ist nichts. Das ist nichts.« Fenna hinkte zu Gyffs. Ihre klaren Augen brannten und vibrierten in ihren Rändern. »Es tut mir so leid. Ich war nicht da.«

»Was für eine Scheiße, Eremith. Die Hälfte unserer Kompanie war nicht zur Stelle.«

»Ich weiß. Komm jetzt! Was ist mit Behnk?«

»Nur ein Schock.«

»Und Teppel?«

»Keine Ahnung. Ist von ganz alleine umgefallen.«

»Verfluchter Mist!«

»Eremith, wenn …« – Gyffs musste schlucken – »… wenn Lement das alles ordnungsgemäß meldet, sind wir als Offiziere erledigt.«

»Wir werden nichts vertuschen. Das sind wir Garsid schuldig.«

»Ist er wirklich …?«

»Sieh ihn dir doch an. Ihr Götter! Warum konnte es nicht mich erwischen – ich bin so eine verfluchte Schlafmütze, ich hasse mich selbst!« Die beiden Leutnants gingen zu dem vielen Blut hinüber. Das der Raubkatze war mit Garsids ineinandergeflossen. Garsids Leib war eine Ruine, der Brustkasten eingedrückt, das halbe Gesicht von Zähnen weggerissen. Der rechte Arm war glattweg durchgebissen, da hatte sich der Korporal wohl schon nicht mehr wehren können.

Jovid Jonis ging es verhältnismäßig gut. Der Leib der Löwin, gut dreimal so schwer wie Jonis’ eigener, hatte ihn zwar gehörig gestaucht, ihm aber immerhin nichts gebrochen. Mails Emara schluchzte haltlos und ließ sich einfach nicht beruhigen. Er hatte seinen Korporal aus nächster Nähe sterben sehen.

Alle kümmerten sich nun um Kindem. Von den Holtzenauen hatte den Arm schon versorgt, aber Kindem schlotterte mit kreideweißem Gesicht vor sich hin. »Der Unterarm ist nicht zu retten, Leutnants«, raunte von den Holtzenauen den beiden Offizieren zu. »Aber das kann ich hier in diesem Staubdreck nicht machen. Wir müssen zur Festung, so schnell wie möglich, die Heilerin hat alles da, was man braucht.«

»Wir legen ihn auf den Wagen«, schlug Gyffs vor. »Zwei Mann noch dazu, dann soll Raubiel den Pferden die Peitsche geben, und in ein paar Stunden sind sie in der Festung.«

»Das geht nicht«, widersprach Fenna. »Unser Auftrag lautet, die Raubiels und ihren Wagen zu eskortieren. Wir haben schon genug Scheiße gebaut, wir können jetzt nicht auch noch unseren Auftrag außer Acht lassen.«

»Es geht um Kindems Leben!«

»Im Sinne des Auftrags ist Kindems Leben vernachlässigbar, das weißt du selbst, so ist die Armee. Es geht nicht anders. Wenn wir alle auf den Wagen steigen, ist das für die Pferde eine zu große Belastung, dann ist der Wagen einfach zu langsam. Wir legen also Kindem rauf, den Leichnam von Garsid sowie MerDilli und Jonis, die beiden haben unter Umständen innere Verletzungen, das wird erst Ilintu richtig feststellen können. Für uns andere heißt es: Eilmarsch, bis gar nichts mehr geht. Wir brauchen uns ja nichts mehr aufzusparen. In der Festung ist die Mission zu Ende.«

»Sehr witzig. Was ist mit dir? Du kannst doch kaum laufen!«

Der Schmerz ist meine Strafe für dieses ganze Desaster, dachte Fenna. Laut sagte er: »Das ist nichts. Mir geht es gut. Was zur Hölle ist eigentlich mit Teppel los?«

»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte von den Holtzenauen. »Ich bekomme ihn einfach nicht wach. Aber zu fehlen scheint ihm nichts. Eine tiefe Ohnmacht oder so was.«

»Mann, das kann man ja kaum glauben! Lement, dass du mir alles mitschreibst, jede Einzelheit, verstanden?«

»Leutnant Fenna, ich möchte, dass Ihr wisst, dass es mir schwerfällt …«, versuchte der Schreiber sich zu erklären, doch Fenna ließ ihn gar nicht ausreden.

»Du hast deine Aufgabe. Erfülle sie!«

»Sehr wohl, Leutnant!«

»Teppel kommt also auch auf den Wagen. Nelat, lauf los und hol die Raubiels und ihr Gespann her! Sie scheinen dem Frieden immer noch nicht recht zu trauen. Sag ihnen, wir müssen uns jetzt alle sehr beeilen. Deleven, du bist vorübergehend der einzige Korporal der Kompanie. Du bist weiterhin für deinen Zug verantwortlich, Leutnant Gyffs und ich übernehmen so lange den Infanteriezug. Was gibt es, Behnk?«

Alman Behnk stand mit Tränen in den Augen hinter Fenna und Gyffs. »Leutnants, ich möchte mich formell entschuldigen. Es gab da vorhin … einen Moment der Schwäche … ich war nicht gleich auf meinem Posten …«

»Behnk, was soll der Unfug?«, fragte Fenna streng. »Ich habe dich neben Leutnants Gyffs stehen und kämpfen sehen. Wenn hier jemand einen Moment der Schwäche hatte, dann bin ich das, denn ich war überhaupt nicht auf meinem Posten. Weitermachen, Soldat!«

Rührung trieb Behnk dicke Tränen über die Wangen. »Ich danke Euch, Leutnant! Danke, vielen Dank.«

Fenna fühlte sich eigenartig isoliert. Bei vielem, worüber gesprochen wurde, wusste er gar nicht, worum es eigentlich ging.

Der Wagen kam. Zögerlich, obwohl von Nelat angetrieben. Die Raubiels näherten sich dem Kampfschauplatz wie zwei Menschen, die kein Blut sehen können.

Garsids zerstörter Leichnam wurde in eine Ersatzplane gewickelt und auf die Ladefläche verbracht. Jovid Jonis wurde auf eine weitere Plane gebettet und so ebenfalls hinaufgewuchtet. Ellister Gilker Kindem konnte auf eigenen Beinen gehen, wenngleich stockend und erschreckend blass. Er hatte keinerlei Kräuter erhalten gegen den Schmerz, niemand hatte etwas Entsprechendes bei sich. Es war erstaunlich, dass er nicht umkippte.

Sensa MerDilli wehrte sich dagegen, auf den Wagen zu kommen. »Es geht schon wieder, Leutnants. Ich hatte vorübergehend Atemaussetzer, aber das ist jetzt vorbei. Ich kann laufen. Ich will laufen.« Stattdessen musste Breff Adirony Teppel genau wie Jonis auf einer Plane auf die Ladefläche gehievt werden. »Simulant!«, zischte einer der Männer dabei; Fenna glaubte, die Stimme von Kertz erkannt zu haben.

Während Emjen Raubiel den Wagen steuerte, erbot sich seine Tochter Onida, sich um Kindem, Teppel und Jonis zu kümmern. Jonis lächelte tapfer, hustete aber manchmal, als wäre mit seinen Rippen nicht alles in Ordnung.

»Fahrt zügig, Meister Raubiel«, wies Gyffs den Händler an. »Nehmt keine Rücksicht auf uns. Wir müssen mithalten, das wird schon klappen. Wichtig ist auf jeden Fall, dass wir Kindem so schnell wie möglich zur Festung schaffen.«

»Ich verstehe, Leutnant. Wenn die Festung nur noch eine Stunde oder so entfernt ist, können wir mit dem Wagen vorausfahren. Von da ab brauchen wir wirklich keine Eskorte mehr.«

»Ich würde dem gerne zustimmen. Affenmenschen sind so nahe am Gebirge gewiss keine anzutreffen, aber was ist mit weiteren Panzerlöwen? Wir können kein Risiko mehr eingehen. Schauen wir erst mal, was der Tag bringt. Wir haben durch den Kampf viel Zeit verloren. Ich hoffe, wir erreichen die Festung heute überhaupt.«

»Das schaffen wir locker, vorausgesetzt, ihr Fußgänger kommt mit unserer Geschwindigkeit klar.«

Die nun folgenden sechs Stunden bis zur Abenddämmerung wurden zur Tortur. Die zu Fuß Gehenden mühten sich, mit dem leicht dahinrollenden Wagen Schritt zu halten, aber es war kaum zu schaffen. Fennas Bein fühlte sich an, als würde es mit jedem Schritt mehr auseinanderfransen. Behnk und von den Holtzenauen waren für solche Gewaltmärsche überhaupt nicht geschaffen. Die beiden japsten mit rasselnden Lungen dahin, bis Gyffs ihnen erlaubte, sich für jeweils eine halbe Stunde auf dem Wagen auszuruhen. Das war natürlich ungerecht gegenüber denen, die durchhielten: sie selbst, Fenna, Emara, der immer noch ab und zu aufschluchzte, Kertz, der sich zum Antreiber der Fußgängertruppe entwickelte, MerDilli, der seine Prellungen einfach ignorierte, Deleven, Ekhanner, Nelat und Stodaert, die die Zähne zusammenbissen und keinen Laut der Klage hören ließen.

Erneut tauchten Echsengeier auf und ließen sich dort nieder, wo das Blut versickert war und das frische Aas einer Panzerlöwin lag.

Nach zwei Stunden kam Teppel wieder zu sich. Er war nicht ganz im Bilde darüber, wo oder weshalb er sich auf dem Wagen befand, aber nachdem Onida Raubiel ihm alles erklärt hatte, bestand er darauf, zu den Fußgängern abzusteigen. Der Wagen wurde dadurch leichter, und Teppel wurde in den schnaufenden Kreis seiner Kompanie integriert, ohne dass jemand ihm Vorwürfe machte.

Lement schrieb ohnehin alles mit, was sich ereignete.

Kindem verlor irgendwann das Bewusstsein. »Jemandem den Arm abzubinden, geht nicht lange gut. Der gesamte Blutkreislauf gerät dabei durcheinander«, erläuterte von den Holtzenauen.

»Schädigt das das Herz?«, fragte Nelat naiv.

»Natürlich schädigt das das Herz, wenn man einen Arm verliert. Das schädigt den gesamten Körper, würde ich sagen!« Von den Holtzenauen war nicht nur körperlich, sondern auch nervlich am Ende. Er fühlte sich als unzulänglicher Bestandteil eines überflüssigen Zuges – als jemand, der auch in medizinischer Hinsicht niemandem von Nutzen sein konnte.

Die Sonne sank, als bestünde sie aus glühendem Blei. Das Gebirge wucherte zwar immer höher, aber noch nicht einmal der Reitweg zur Festung war auszumachen.

»Wir sind noch Stunden entfernt«, ächzte Gyffs.

»Wie viele Stunden?«, fragte Fenna den Händler.

Der spie zur anderen Wagenseite hin aus. »Vier oder fünf zu Fuß, würde ich schätzen, wobei im Dunkeln zu marschieren natürlich noch langsamer geht.«

»Wir können jetzt Fackeln anmachen. Der geheime Teil unserer Mission ist vorüber.«

»Dann trotzdem vier bis fünf Stunden. Ich biete Euch noch einmal an, Leutnant: Wenn ich die Pferdchen jetzt antreibe, kann ich mit dem Wagen in einer Stunde da sein.«

»So machen wir es, Eremith«, schlug Leutnant Gyffs vor. »Du fährst mit, du kannst doch kaum noch einen Schritt tun. Wir anderen kommen nach.«

»Auf keinen Fall lasse ich euch hier fünf Stunden von der Festung entfernt bei einbrechender Dunkelheit im Stich!«

»Aber bei uns befindet sich kein dringlicher Fall mehr. Wir können, wenn es gar nicht mehr weitergeht, sogar ein Nachtlager aufschlagen und erst am Morgen weitergehen. Bis dahin ist Kindem schon längst versorgt. Oder du kannst uns von der Festung aus eine Eskorte entgegenschicken. Hobock & Sells. Oder ein paar Reiter von Hauptmann Gollberg, die uns Pferde mitbringen. Wir haben doch alle reiten gelernt.«

Fenna wurde schwindelig, so viele Argumente drehten sich in seinem Kopf. Gyffs’ Worte klangen schlüssig. Aber diese Worte bedeuteten, dass Fenna ohne seine Kompanie zurückkehren würde zur Festung, ein Offizier ohne sein Kommando, mit einem Leichnam, einem Schwer- und einem Leichtverwundeten als vorzeigbarem Resultat. Und die junge Gyffs mit nur zehn zu Tode erschöpften Mann mitten in der Nacht, wo das Land doch schon am helllichten Tag drei Panzerlöwen ausgespien hatte.

»Das ist nicht akzeptabel, Loa. Selbst wenn ich nach einer Stunde wieder hier ankomme, könnt ihr in den zwei Stunden inzwischen schon aufgerieben worden sein.«

Gyffs machte ein unerwartet geringschätziges Gesicht. »Und du denkst, wenn du und der Wagen bei uns seid, sind wir sicherer? Als es heute Nachmittag Ernst wurde, warst du auch nicht da, der Wagen nicht und der gesamte Fernwaffenzug nicht. Und wir haben dennoch irgendwie durchgehalten.«

Das stimmte. Dieser Riss, dieser Unterschied zwischen ihnen würde sich nie wieder kitten lassen. Fenna war nicht da gewesen. Gyffs schon.

»Mit Verlaub, liebe Leutnants, ich habe noch eine andere Idee«, ließ sich nun Emjen Raubiel vernehmen. »Ihr bleibt alle zusammen, ich mache Tempo zur Festung, lade die Verletzten und meine Tochter dort ab, wechsele die Pferde und presche mit leerem Wagen, frischen Pferden und ausreichend Laternen wieder zurück. Dann kann ich euch alle aufladen, und wir können ganz gemütlich mitten in der Nacht mit dem Wagen zur Festung zuckeln.«

»Das geht auch nicht«, sperrte sich Fenna. »Unser Auftrag lautet, Euch und den Wagen zu eskortieren, und nicht, Euch alleine loszuschicken, damit ihr uns später abholen könnt.«

Loa Gyffs verlor jetzt die Geduld. »Eremith, verflucht nochmal, wir müssen jetzt eine Entscheidung treffen! Es gibt kein Vorgehen, das sowohl unseren Auftrag erfüllt als auch unser Überleben garantiert! Wir müssen flexibel sein. Das ist das, was jedes militärische Handbuch in einer solchen Situation von uns verlangt!«

»Also gut. Wir haben den Proviant vergraben. Wenn wir jetzt noch bis zuletzt den Wagen eskortieren, kann uns niemand vorwerfen, dass wir unterwegs Männer verloren haben. Wir haben dann wenigstens unseren Auftrag zu hundert Prozent erfüllt.«

»Richtig. Aber wie wollen wir das anstellen?«

»Wir marschieren weiter. Mit Fackeln und Laternen. In der Nähe des Gebirges kann man uns ruhig sehen, hier reiten ja auch Gollbergs Leute ständig herum. Aber wichtig ist, dass wir zusammen und beim Wagen bleiben. Kindem wird, so leid es mir tut, eben durchhalten müssen.«

»Wenn er uns jetzt wegstirbt, übernimmst du die Verantwortung?«

»Ich übernehme die volle Verantwortung. Für alles, was schiefgelaufen ist.«

Fenna und Gyffs maßen sich einen Moment lang mit Blicken. Dann lenkte Gyffs ein. »Also gut. Es schmeckt mir nicht, aber ich werde jetzt keine Spaltung der Kompanie erzwingen. Lass uns zusammenbleiben. Los, Männer, macht eure Fackeln an, wir marschieren weiter.«

Sie verwandelten sich in einen golden glosenden Fackelzug. Schon bald kamen Fenna wieder Zweifel. Wäre er auf dem Wagen mitgefahren, der Wagen schnell, die Festung unterrichtet, dann hätten Gollbergs Reiter schon nach zwei Stunden mit Pferden hier sein können. So jedoch mussten sie noch fünf Stunden durchhalten. Aber andererseits: Sie durften auf ihrer ersten Mission Gollbergs Hilfe nicht in Anspruch nehmen. Das würde sie zum Gespött der Festung machen.