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Kapitel

Die Sonne setzte den frühen Morgen des 6. Blättermonds in kühlen Brand. Der Himmel war mit dünnen Wolkenherden überzogen und sah aus wie ein rötlich leuchtendes Geröllfeld.

Die gesamte Dritte Kompanie war angetreten, beinahe unsichtbar in den noch sehr langen Schatten der östlichen Klippe.

Fenna nutzte die Gelegenheit, während Emjen und Onida Raubiel ihre Zugpferde in das Wagengeschirr spannten, um noch eine kurze Ansprache an seine Truppe zu halten.

»Männer!«, rief er, nicht ganz so laut, wie er es zu einer späteren Tageszeit getan hätte. »In wenigen Augenblicken beginnt unser erster Einsatz im Feindesland. Es wird nicht der letzte sein, verlasst euch darauf. Bleibt dicht beieinander, achtet auf eure Vor-, Hinter- und Nebenmänner. Niemand unternimmt auch nur einen einzigen Schritt in einer nicht vorher genehmigten Richtung. Das Gelände ist an sich schon nicht ungefährlich, aber zusätzlich können überall noch unbekannte Bestien lauern. Der Händler Raubiel und seine Tochter, zwei beherzte Zivilisten, vertrauen sich unserem Schutz an. Enttäuschen wir sie also nicht. Leutnant Gyffs?«

»Korporal Garsid übernimmt bei dieser Mission die Kartenführung, deshalb wird der Erste Zug wie gewohnt vor dem Zweiten marschieren. Leutnant Fenna und ich werden unsere Positionen innerhalb der Marschformation variieren, um alles im Auge haben zu können. Vergesst nicht, dass diese Mission immer noch zur Ausbildung zählt. Deshalb wird der Schreiber Lement auf dem Wagen mitfahren und sich Notizen machen. Leutnant Fenna und ich verlassen uns darauf, dass ihr euch bei dieser Mission ähnlich auszeichnen werdet wie bei dem Manöver.«

Fenna nickte. »Agiert präzise, beobachtet und lernt, Männer! Das Land der Affenmenschen muss uns allen genauso vertraut werden wie die Schatten dieser Festung. Dann kann uns dort nichts überrumpeln und nichts schrecken. Soldat Jonis, du hast die Erlaubnis, während der Rastpausen Skizzen der Umgebung anzufertigen. Der Schreiber Lement wird diese Dokumente der Dritten Kompanie verantwortungsvoll verwalten.«

Jovid Jonis salutierte. Fenna hatte ihm am gestrigen Abend noch Kohlestifte und Papier ausgehändigt sowie allen ihre Schutztücher gegen das Gas.

Der Leutnant ließ noch einmal seinen Blick über die versammelte Kompanie schweifen. Zwei Züge, der eine mit Bögen, der andere mit Schilden. Garsid, der sich auch weiterhin die Glatze rasierte, was jetzt aber zu seinem neuen Rang als Korporal gut passte – ein Korporal durfte sich äußerlich ruhig ein wenig von den übrigen Soldaten abheben. Er stand vor seinen sieben Männern, als hätte dies schon immer so sein müssen. Diese sieben waren die Infanterie. Sie trugen schwere, eisenbeschlagene Schilde und waren deshalb weniger wendig als der Zweite Zug. Garsid und seine sieben sollten ein Bollwerk sein.

Alman Behnk war ein Baustein dieses Bollwerks. Inzwischen kaum noch als fett zu bezeichnen, war er höchstens noch übergewichtig. Die Monde der kontinuierlichen körperlichen Belastung hatten sein Fett geschmolzen wie Butter in einer Pfanne. Behnk würde wahrscheinlich nie vollkommen rank und schlank werden, aber inzwischen schwabbelte an ihm nichts mehr haltlos herum. Zusätzlich zu seinem neuen, sichereren Körpergefühl ließ er sich einen verwegenen Dreitagebart stehen, damit sein kinnloses Gesicht etwas männlicher wirkte. Auf seinen Glückslöffel verzichtete er allerdings weiterhin nicht: Er trug ihn deutlich sichtbar neben dem Säbel im Gurt. Behnks gute Laune ließ sich auch durch den bevorstehenden Aufbruch ins Affenmenschenland nicht schmälern.

Mails Emara, ein weiterer Baustein. Früher immer rotbackig und munter, wirkte er nun etwas bleich um die Nase. Er war nicht frei von Furcht angesichts dieses Einsatzes, aber von seinen Kameraden umgeben fühlte er sich doch einigermaßen sicher.

Jovid Jonis wuchs unter der Sonderaufgabe des offiziellen Missionszeichners. Man hätte ihn beinahe auf 17 Jahre schätzen können, so entschlossen und erwachsen schaute er heute drein.

»Scheusal« Kertz trug seine »Kriegsaugen«. Die dicken Gläser waren so geschliffen, dass Kertz’ eigentliche Augen kaum noch zu sehen waren. Stattdessen zwei Spiegel, die alles Gespiegelte verzerrten, verkleinerten und auf den Kopf stellten. Sollten die Affenmenschen doch kommen und verzerrt, verkleinert und auf den Kopf gestellt werden!

Ellister Gilker Kindem hatte sich von allen Grünhörnern am wenigsten verändert. Sein Gesicht war immer noch langwimprig, sanft und dümmlich, seine Stimme immer noch tief und langsam, sein Leib immer noch zu groß für einen gewöhnlichen Menschen. Er ragte aus dem Ersten Zug heraus wie ein schlecht eingeschlagener Zaunpfahl, und dennoch war er ein akzeptierter und bei den anderen beliebter Bestandteil des Gesamtbildes. Seine Länge spendete Schatten, sein ruhiges Gesicht minderte Aufgeregtheit. Aus ihm wurde ein ausgesprochen verlässlicher Soldat.

Sensa MerDilli. Seine Haut schien in den Sommermonden noch dunkler geworden zu sein, seine Augen sprühten schwarze Funken. Hier war jemand, der auf diesen Einsatz brannte. Ihn würden die Leutnants im Zaum halten müssen, falls Feinde auftauchten.

Breff Adirony Teppel dagegen war sicherlich das schwächste Glied des Infanteristenzuges. Sein grauer Vollbart hatte inzwischen einen militärischeren Zuschnitt als vorher, aber aus seinen Augen sprach jene tief reichende Müdigkeit, die Gyffs schon seit Wochen voller Sorgen beobachtete. Unterschiedliche Leistungen bei den entsprechenden Übungen hatten dazu geführt, dass Teppel und sein Freund Ildeon Ekhanner in zwei verschiedene Züge aufgeteilt wurden. Obwohl sich an der Belegung der Quartierszimmer nichts geändert hatte und Teppel sich weiterhin mit Ekhanner ein Doppelstockbett in Raum G teilte, war dem ältlichen Uderuner seine innere Isolation deutlich anzumerken. Seine Söhne waren tot, er selbst für den Militärdienst eigentlich schon zu alt, was jeder weitere Tag aufs Neue bewies; es war nichts als Schinderei, Körper und Geist wurden nicht mehr stärker, sondern nur noch älter. Es gab keine Wiedergutmachung, keine Entschädigung, keinen Ersatz, kein Rückgängigmachen. Es gab nur ein stumpfes Vorwärts ins Nirgendwo. Die Akte Teppel war ein Trauerspiel, dem beide Leutnants sich mit Hilflosigkeit gegenübersahen.

Das waren die sieben vom Ersten Zug. Der Zweite Zug war deutlich kleiner, nur vier Mann unter ihrem Korporal Deleven.

Nilocas Deleven hielt es mit der Frisurenordnung ähnlich wie Korporal Garsid: Er trug seine kurzen Flechtzöpfe neuerdings zu einem Pferdeschwanz gebunden und hatte bereits angekündigt, sich die Haare wieder lang wachsen zu lassen. Er war der Ruhigste von allen, gelassener sogar noch als die beiden Leutnants, die beiden Händler, die vier Kaltblutpferde. Deleven hatte schon zu viel gesehen und erlebt, um sich von kümmerlichen sechs Tagen im Feindesland aus der Fassung bringen zu lassen.

Hinter seinem Kurzbogen ordnete sich sein winziger Zug aus vier Langbogenschützen. Durch Reseas Weggang war ausgerechnet dieser kleinere der beiden Züge noch zusätzlich geschrumpft.

Ildeon Ekhanner hatte im Glauben an die zehn Götter Halt gefunden und schöpfte daraus eine tief reichende Kraft. Er war nun beinahe so ruhig wie Deleven, aber anders als dieser immer auf der Suche nach Zeichen und Wundern.

Tadao Nelat hatte es, weil er seine Mädchenhaftigkeit leid war, ebenso wie Behnk mit einem Dreitagebart versuchen wollen, aber ihm waren einfach keine Barthaare gesprossen. Der feine Flaum, der nun seine Kinnspitze zierte, ließ ihn noch zarter erscheinen, beinahe wie ein federiges Feenwesen. Immerhin war er ein recht guter Bogenschütze geworden, auch weil Fergran von den Holtzenauen sich ein wenig seiner angenommen hatte.

Bujo Stodaert hatte seinen Groll darüber, bei den Beförderungen bislang übergangen worden zu sein, schnell hinuntergeschluckt und versah seinen Dienst nun wieder mit derselben eckigen Zackigkeit, die ihn schon von Anbeginn an ein wenig lächerlich erscheinen ließ. Er war stets der Lauteste beim »Jawohl!«-Brüllen und der Erste beim Freiwilligmelden. In kritischen Situationen konnten sich die Leutnants darauf verlassen, dass Stodaert den Rest der Männer mit seiner strebsamen Bereitschaft mitreißen würde.

Fergran von den Holtzenauen schließlich war neben Deleven sicherlich der beste Schütze des Zweiten Zuges. Er schaffte es allerdings, selbst kurz geschnittenes und adrett gekämmtes Haar zerzaust aussehen und selbst eine frisch gewaschene und ordnungsgemäß angezogene Uniform irgendwie schlabberig und zerwühlt wirken zu lassen. Fenna wurde den Eindruck nicht los, dass der junge Adelige eigentlich zu intelligent und fragil war für einen einfachen Soldaten, dass er im Lazarett als Ilintus rechte Hand besser aufgehoben wäre. Aber dieser Einsatz würde zeigen, wie sich von den Holtzenauen in einer gefahrvollen Umgebung bewährte.

Das also war die Dritte Kompanie. Eine Rumpfmannschaft nur, die schon bald durch siebzehn Neuzugänge auf volle Kompaniestärke aufgestockt werden sollte. Fenna ahnte schon jetzt, dass es eine ewige Kluft geben würde zwischen den dreizehn »alteingesessenen« Grünhörnern und denen, die erst hernach dazukamen und von den »Alteingesessenen« in ihrer Ausbildung unterstützt würden. Aber das waren Sorgen für eine Zukunft, die jenseits der kommenden sechs Tage lag. Jetzt galt es erst mal, sechs Tage ohne Verluste und ohne Fehlschläge zu überstehen.

Der Planwagen der beiden Raubiels rollte nun an die versammelte Kompanie heran. Emjen Raubiel spie braune Spucke aus und griente. Mehrere der Männer – MerDilli, Kertz, Emara und Ekhanner – warfen der Händlerstochter verstohlene Blicke zu.

Fenna atmete durch. »Kom-pa-nieeee links-um! Voooor-wärts marrrsch! Torposten: das Nordtor öffnen!«

Die Torposten waren durch Leutnant Gyffs unterrichtet worden. Zum ersten Mal schwang vor Fenna, Gyffs, vor allen Soldaten der Dritten Kompanie des Zweiten Bataillons das nördliche Tor der Festung Carlyr knarrend auf. Es war, als würde ein hölzerner Vorhang den Blick auf eine dunstige, ausgemergelte Theaterbühne freigeben.

Die Kompanie marschierte durch das Tor, und das Schritttempo der Männer entsprach der langsamen Ganggeschwindigkeit der Zugpferde. Der Wagen rasselte hinter dem Ersten Zug und vor dem Zweiten über den karstigen Kies hinaus ins offene Land. Als Fenna noch einmal zurückblickte, sah er trotz der frühen Stunde oben in der F & L Oberst Jenko hinter einem Fenster stehen und salutieren. Fenna erwiderte den Gruß. Danach blickte er nur noch nach vorne. Die beiden Flügel des schwarzen Nordtores schlossen sich hinter der Dritten Kompanie. Staub wirbelte unruhig umher und kam erst langsam wieder zur Ruhe. Stetig blieb die steinerne Präsenz der Festung hinter der Truppe zurück.

Links und rechts ragten weiterhin Berge auf, aber geradeaus blieb das Land flach. Nur einzelne Felsformationen wuchsen wie steinerne Wäldchen in die Höhe. Es roch brandig und nach Schweiß. Die Sonne schien schon wenige Hundert Schritt jenseits des zivilisierten Kontinents eine andere, rötlichere, feindseligere Färbung anzunehmen.

Die Füße der Männer, die Hufe der Pferde und die Räder des schwer beladenen Planwagens wirbelten erstaunlich viel Staub auf. Fenna fragte sich, wie Gollbergs Mannen beim zügigen Reiten damit klarkamen und ob sie sich schon jetzt die Schutztücher vor die Gesichter binden sollten. Aber Gyffs marschierte ungerührt, also wollte auch er sich keine Blöße geben.

Der erste Streckenabschnitt war durch eine Art Weg gekennzeichnet, der von Gollbergs Erster Kompanie kontinuierlich breit geritten worden war. Bis die Sonne hoch im Zenit stand, folgte die Dritte nun diesem gerade nach Norden führenden Weg; dann erlaubten die Leutnants den Männern die erste Rast.

Rötlicher Staub klebte an allen verschwitzten Gesichtern. Die weißen Zähne der Männer leuchteten deshalb beim Scherzen und Plaudern umso heller. Der Schreiber Lement sprang hinten vom Wagen und vertrat sich ein wenig die Beine. In der Ferne konnte Fenna mehrere Echsengeier kreisen sehen.

»Meinst du, dass die sich auf einen marschierenden Trupp stürzen?«, fragte er Garsid, dessen Glatze ganz mit feinem Staub überzogen war.

»Unwahrscheinlich, Leutnant. Ich kann nur vier Geier zählen, und wir sind zweiundzwanzig bewegliche Objekte. Vielleicht würden sie uns angreifen, wenn sie zu fünfzehnt wären. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Delevens Zug sollte ein Auge auf die Viecher halten.«

Fenna gab diese Informationen an Korporal Deleven weiter. Der nickte nur.

Bislang hielten alle Männer das Tempo gut durch, die Belastungsmärsche in Unwetter und mörderischer Hitze hatten Resultate erzielt. Der Blättermond war ohnehin für eine solche Aktion ein verhältnismäßig guter Mond. Es war nicht mehr quälend heiß, aber auch noch nicht klirrend kalt. Der Oberst und der Hauptmann hatten den Grünhörnern wohl nur Bewältigbares zumuten wollen.

Die Männer tranken Wasser, das der Planwagen reichlich in Fässern transportierte, und aßen zu Mittag Brot und nur mild gesalzene Brühwurst. Lement entfernte sich ein wenig weiter vom Lager, als es Fenna lieb war, aber gerade als er sich aufraffte, um den Schreiber zurückzuholen, begann dieser schon wieder Richtung Planwagen zu schlendern. Die Männer schwatzten verhältnismäßig wenig. Sie nutzten die Zeit zum Verschnaufen, Trinken und Essen.

Dann ging es weiter. Raschelnd und klappernd schnürten alle sich ihre Ausrüstung auf. Behnks hölzerner Glückslöffel wurde mit Blicken bedacht wie eine Kompaniestandarte, wie ein Symbol, das nicht verloren gehen durfte.

Sie marschierten. Der Himmel hing tief und bleifarben, von Windböen bewegt, die den Boden nie erreichten. Lebewesen waren kaum zu sehen. Die Echsengeier, die in der Ferne kreisten. Ein Lurch mit sechs Beinen. Eine ölig glänzende Schlange, die über einen Felsbrocken glitt und deren Berührung sicherlich giftig war. Ansonsten schien es hier nicht einmal Insekten zu geben – in der Luft summte oder schwirrte nichts, und es war auch kein Vogelgezwitscher zu hören. Die Füße der Soldaten und die Räder des Wagens rührten beständig Staub auf, die Kompanie erzeugte ihren eigenen Dunstschleier.

Das Land war offen in jeglicher Richtung. Selbst das, was unter dem Boden lauern mochte, war unbekannt. Nach der schützenden Ummauerung der Festung und ihrer darüber noch hinausgehenden Einfassung zwischen zwei Klippen rief die Weite des Landes ein Gefühl der Schutzlosigkeit hervor. Als ob alle Kräfte, die hier wirken mochten, ungehinderten Zugriff hatten auf die Dritte Kompanie.

Am Nachmittag stießen sie auf eine seltsame Spur. Sie kreuzte den Reitweg im rechten Winkel. Garsid erkannte Pfoten, die mit ausgeprägten, breiten Krallen besetzt waren.

»Ein Drache«, hauchte Ildeon Ekhanner.

Doch Onida Raubiel wusste es besser. »Panzerlöwen«, sagte sie. »Wahrscheinlich zwei. Eigentlich sind sie Einzelgänger, aber in Paarungslaune finden sich zwei oder sogar mehrere zusammen.«

Das Wort »Paarungslaune« verharrte eigentümlich in der Luft. »Wie groß sind diese Panzerlöwen eigentlich?«, erkundigte sich Gyffs.

»Beinahe so groß wie ein Rind«, sagte jetzt Onidas Vater. »Ich habe mal eine Gruppe von Großwildjägern begleitet, als ich noch jünger war. Sie waren zu sechst, und sie haben alle mitgekämpft, um einen Einzigen dieser Löwen zu überwältigen.«

»Würden zwei oder drei dieser Tiere eine Kompanie angreifen?«, fragte Fenna.

»Eine halbe Kompanie wie diese? Warum nicht? Ich kann mir ehrlich gesagt kaum etwas vorstellen, was ein paar Panzerlöwen nicht angreifen würden.«

»Na wunderbar«, ächzte Fenna. »Ich brauche ja wohl nicht extra zu erwähnen, dass diese Spuren ziemlich frisch aussehen. Ich erwarte Wachsamkeit in alle Richtungen, Männer. Wer eine Bewegung sieht, ruft diese aus. Besser einmal wegen einer Kleinigkeit in Unruhe versetzt, als zu spät reagiert.«

In der folgenden Stunde riefen die Männer mehrere Arten von Bewegungen aus, sodass die Kompanie sich beständig selbst erschreckte. Einmal war es ein karger Gewürzbusch, der im Wind rüttelte. Einmal ein dunkler Waran, der zwischen zwei Steinen hindurchlugte und dabei wie zögernd vor- und zurückschwankte. Einmal war es ein Echsengeier in großer Entfernung. Einmal eine Wolke, die einen Schatten warf. Fenna ermahnte die Männer nun doch wieder zu mehr Ruhe, sonst würden sie – das konnte er spüren – sich bald in grundlose Panik hineinsteigern.

Am späten Nachmittag, als die Sonne bereits tief im Westen stand und die Schatten lang und länger wurden, kamen endlich die zwei Säulen in Sicht, jene Felsformation, die auch am morgigen Tag noch zur Orientierung dienen sollte. Die Säulen bestanden aus nacktem, vom Wind schmal geschliffenem Sandstein und mochten an die dreißig Schritt hoch sein. Wenn die Kompanie von hier aus zurückblickte nach Süden, konnte sie sehen, dass die nördliche Seite des Felsenwüstengebirges eine ganz andere Farbe hatte als die südliche. Nach Süden, auf die hesselysche Ebene hin war das Gebirge grau und grün, weil durchsetzt mit Bäumen, Sträuchern und Moos. Nach Norden, zu den Affenmenschen, sah es beinahe gelb aus, an einigen Stellen auch dunkelrot. Wie ein blutender Schwamm.

Mit Einbruch der Dunkelheit wurde es empfindlich kühler, ein deutlicher Unterschied zur Ummantelung Carlyrs. Nelat und Jonis begannen sogar, mit den Zähnen zu klappern. Fenna und Gyffs ließen noch weitermarschieren, bis der Himmel so finster geworden war, dass die zwei Säulen sich nicht mehr abzeichneten. Dann richtete der Trupp ein Nachtlager ein, mit dem Planwagen als Mittelpunkt. Auf Feuer verzichteten sie, da sie keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich lenken wollten.

Die Wachen wurden nicht nach Zügen, sondern nach Quartierszugehörigkeit eingeteilt. Fenna und Gyffs gingen davon aus, dass Männer, die es gewohnt waren, sich einen Raum zu teilen, eher aufeinander eingespielt und auch über die Müdigkeitsanzeichen der anderen besser unterrichtet waren als solche, die einfach nur tagsüber zusammen ausgebildet wurden.

So gab es also vier Wachgruppen: Leutnant Gyffs, Kindem, Kertz und Stodaert übernahmen die erste Schicht. Korporal Deleven, Teppel, Ekhanner und Emara die zweite. Leutnant Fenna, MerDilli, Jonis und von den Holtzenauen die dritte, und Korporal Garsid, Nelat und Behnk die letzte. Jede dieser vier Gruppen sollte zwei Stunden lang Wache halten, sodass die Nachtruhe insgesamt acht Stunden dauern würde und jeder sechs Stunden Schlaf bekam. Die drei Zivilisten wurden nicht ins Wachehalten eingebunden, obwohl Emjen Raubiel mehrfach versicherte, dass er einen sehr leichten Schlaf habe, solange seine Ware noch nicht »in trockenen Tüchern« sei.

Die nicht an der ersten Wachschicht Beteiligten hatten sich gerade auf dem trockenen Boden in ihre Decken gewickelt, als Leutnant Fenna seine Decke von sich schleuderte und zu Korporal Garsid hinüberhuschte. In der Finsternis sahen fast alle Soldaten gleich aus, aber Garsids Glatze schien gestreutes Sternenlicht zu spiegeln.

»Korporal, sind diese Echsengeier eigentlich auch nachts auf Beute aus?«

»Ähhh, das weiß ich nicht mit Sicherheit, Leutnant. Ich habe noch nie einen in der Nacht kreisen gesehen, aber in der Dunkelheit sieht man ja sowieso nicht viel.«

»Danke, Korporal.« Fenna ging geduckt zu Gyffs hinüber, die gerade mit Kindem, Kertz und Stodaert absprach, wo sich die einzelnen Wachtposten aufstellen sollten. »Loa? Ich bin’s nur. Achtet auch auf den Himmel, auf die Echsengeier. Ich habe sie bis in die Dämmerung hinein immer noch kreisen gesehen. Nicht, dass sie versuchen, sich einen zu greifen, der im Lager ganz außen liegt.«

»Wir achten auf alles. Jetzt leg dich schlafen«, sagte Gyffs, die ein bisschen verärgert war, dass Fenna ihr solche Überlegungen nicht selbst zutraute.

»Und sag auch der zweiten Schicht Bescheid, wenn ihr sie weckt«, ließ Fenna nicht locker.

»Selbstverständlich tun wir das. Geh jetzt endlich schlafen!«

Fenna tastete sich zurück zu seiner Decke.

Er war unruhig, wie die meisten seiner Männer. Dieses Lager war nicht nur keine Festung, kein Zimmer, kein Bett. Es war Feindesland. Auch Eremith Fenna hatte noch nie zuvor eine Nacht in Feindesland verbracht. In einem Katastrophengebiet, ja. Aber nicht im Revier eines unbekannten, zu bekriegenden Volkes.

Als er endlich einschlief, war die erste Wachschicht schon vorüber. Wispernd hatte Leutnant Gyffs die zweite Schicht instruiert und im Gelände aufgestellt. Fenna war zum ersten Mal richtig tief reichend froh darüber, dass Oberst Jenko ihm einen zweiten, gleichrangigen Offizier zur Seite gestellt hatte.

In den beiden Stunden, die ihm noch blieben, bis er selbst mit Wachen an der Reihe war, träumte er etwas sehr Seltsames: Die Kinder vom Scheiterhaufen waren verschwunden. Und er streifte durch ein verwaistes Chlayst und konnte sie nirgends finden.

Jemand weckte ihn. Fenna versuchte, sofort hellwach zu sein, aber in den ersten Momenten gelang es ihm nicht einmal, denjenigen zu erkennen, der ihn wach machte. Es war Korporal Deleven. Fenna nahm einen Notfall an, tastete fahrig nach seinem Säbel. Sein Herz hämmerte bis hinauf zur Halsschlagader.

»Alles in Ordnung, Leutnant«, flüsterte Deleven. »Alles ruhig. Die meisten schlafen tief und fest. Die dritte Wachschicht versammelt sich dort drüben. Ich bringe Euch hin.«

Ich bringe Euch hin. Ein Korporal musste seinen Leutnant führen wie ein verschrecktes Kind. Aber Deleven kannte das Gefühl, sich im Feindesland zu befinden. Als er noch mit Malk Falanko geritten war, bestand der gesamte Kontinent aus Feindesland. In dieser Hinsicht war er Fenna tatsächlich weit voraus.

MerDilli, Jonis und von den Holtzenauen warteten auf ihren Leutnant am Rande des Lagers. Deleven brachte Fenna dorthin und legte sich dann schlafen. Jonis klapperte noch immer vor Kälte mit den Zähnen. Als Einziger der vier Wachtposten hatte er seine Decke über die Schultern gelegt. Fenna fand, dass das gar keine so schlechte Idee war. Die Männer waren todmüde. Die dritte Wachschicht war neben der zweiten die undankbarste. Fenna schaute zum Himmel. Es gab kein Streulicht mehr. Eine Wolkenwand hatte sich zwischen sie und das All geschoben. Eine Wolkenhand. Fenna wusste selbst nicht, woher dieser Gedanke gekommen war.

»Wir werden uns nicht verteilen«, sagte er zu seinen drei Mitwächtern. »In dieser Pechschwärze können wir uns sonst gegenseitig nicht sehen. Wir bleiben zusammen und gehen das Lager an den Rändern ab. Aber Vorsicht, nicht stolpern! Lasst uns lieber sehr langsam sein, als die anderen mit Ungeschicklichkeit zu wecken.« Jonis schien froh zu sein, sich auf Wache bewegen zu können. Aber auch sein knabenhaftes Gesicht war verschattet, sah verdorrt aus und runzlig.

Fenna spürte, wie er, obwohl er wach war, sich in unmittelbarer Nähe eines Nachtmahrs aufhielt. Wie wenn man aus einem Albtraum hochschreckt und sich fürchtet, wieder einzuschlafen, weil man ahnt, dass der Traum dicht unter der Oberfläche des Schlafes noch lauert. Als ob Fenna sich nur auf eine ganz bestimmte Richtung seiner Gedanken einzulassen brauchte, um in Panik zu geraten. Was, wenn die Affenmenschen gar nicht existieren, sondern wir selbst sie sind, abgeschnitten vom Licht, schwarz gebrannt und fellüberzogen von weiter nichts als Düsternis? Fenna schüttelte sich bei diesem Gedanken. Er musste sich ablenken. Er dachte an Ilintu und dann – auch seltsam – an Gyffs, wie er sie einmal, nur mit einem lose flatternden Handtuch umwickelt, im Waschhaus gesehen hatte. Das brachte ihn immerhin wieder zum Schmunzeln.

Das Land lag still wie umgebracht. Keinerlei Nachtvögel und auch weiterhin nicht einmal Motten oder Mücken oder Fledermäuse, die schwirrend unter den Wolken jagten. Nichts.

»Die Pferde, Leutnant«, sagte von den Holtzenauen leise.

»Was ist mit ihnen?«

»Sie sind unsere Verbündeten. Wenn sich irgendetwas nähern würde oder eine Gefahr drohte, würden sie sicherlich nicht so ruhig dastehen und dösen.«

Fenna schaute ins Dunkel zu den Pferden und der nächtlichen Leinwand des Planwagens. »Du hast recht. Das stimmt tatsächlich. Mensch, ich hätte nie gedacht, dass ich mal froh sein würde, Pferde dabeizuhaben, aber so ist es. Also, du kannst aufhören, mit den Zähnen zu klappern, Jonis. Hier ist nichts.«

»Das ist die K-k-kälte, Leutnant. Nur die K-k-kälte.«

Die Wachschicht ging vorüber. Da kein Mond zu sehen war, musste man zwei Stunden abschätzen, aber als Soldat war man es gewohnt, eine Art innerer Sanduhr zu haben. Fenna weckte Korporal Garsid, dann legten er und seine Mitwächter sich schlafen. Für unbefriedigende zwei Stunden, während Garsid und Nelat und Behnk raschelnd Positionen einnahmen und hielten.

Die Sonne ging auf, trübe, wie durch eine volle Glasschüssel betrachtet. Behnk weckte das Lager mit seiner ansteckenden Gutgelauntheit. Die siebzehn Männer und zwei Frauen schüttelten sich Kälte und Schläfrigkeit aus den Gliedmaßen. Es gab ein karges Frühstück ohne jegliches warmes Aufgussgetränk. Dann marschierten sie weiter. Der Wagen rollte neben ihnen her und wurde von Sandstrich zu Sandstrich heller im steigenden Sonnenlicht.

Sich immer weiter hineinzubewegen ins Feindesland war eine eigentümliche Sache. Jeder von ihnen – vielleicht bis auf Sensa MerDilli und »Scheusal« Kertz – spürte den Impuls zurückzukehren, es mit dem Eindringen genug sein zu lassen, aber es ging immer noch weiter. Der vom Königreich entfernteste Punkt ihrer Unternehmung kam am Ende des dritten Tages, und dies war erst der zweite.

An diesem zweiten Tag passierten sie die beiden Felssäulen und fanden den Flusslauf, in dem graues Wasser plätscherte, das stellenweise wie mit einer Haut überzogen wirkte.

»Stimmt es, dass das giftig ist?«, fragte Leutnant Gyffs die beiden Raubiels.

Emjen Raubiel spuckte etwas aus, das noch dunkler und widerwärtiger aussah als dieses Flusswasser. »Giftig? Na ja! Für Menschen und Pferde sicherlich. Aber die Panzerlöwen saufen dieses Zeug bestimmt mit Wonne.«

Um etwas über das Land, durch das sie sich bewegten, zu lernen, wollte Gyffs immerhin an dem Wasser schnuppern, also beugte sie sich am Ufer so weit wie möglich nach vorne. Fenna ging in ihre Nähe, um sie festhalten zu können, falls sie ausglitt. »Es riecht … süßlich«, sagte sie. »Auf eine schwere, klebrige Art. Wie Zuckersirup. Eigentlich müsste es hier vor Insekten nur so wimmeln. Aber es scheint einfach keine zu geben.«

Sie folgten dem Flusslauf in einiger Entfernung, sodass sie nicht all seine mäandernden Bewegungen mitmachen mussten, sondern eine verhältnismäßig gerade Richtung beibehalten konnten.

Als die Abenddämmerung bereits damit begann, die Wolken golden einzufärben, hob Korporal Garsid, der allen anderen voranging, plötzlich den Arm und bedeutete der Kompanie, stehen zu bleiben und Stille zu wahren. Fenna und Gyffs schlichen geduckt zu ihm nach vorne. »Was gibt es, Korporal?«

Wortlos deutete Garsid nach schräg vorne, auf die dem Fluss abgewandte Ebene. Dort bewegte sich etwas. Etwas, das groß aussah, selbst auf die nicht unbeträchtliche Entfernung hin. Zwischen Felsformationen wirbelte Staub auf wie ein bernsteinfarbener Nebel. Riesige Flügel schlugen.

»Ein Rudel Echsengeier?«, mutmaßte Fenna. »Ich kann nichts Genaues erkennen.«

»Ein Drache!«, hauchte Ildeon Ekhanner nun schon zum zweiten Mal auf dieser Mission.

Diesmal jedoch widersprach auch Onida Raubiel ihm nicht. »Das könnte tatsächlich ein Glutdrache sein. Ein Jungtier vielleicht.«

Ellister Gilker Kindem entfuhr ein herzhaftes »Ach du liebe Scheiße!«. Er war tatsächlich als der Größte von allen von Weitem am besten zu sehen.

Fenna überlegte fieberhaft. Das Untier, was auch immer es war, schien die Kompanie noch nicht bemerkt zu haben. War es nun ratsamer, einfach stillzustehen und sich möglichst klein zu machen, oder sollten sie sich in eine Sichtdeckung zurückziehen und dabei riskieren, Staub aufzuwirbeln? Der Wagen war einfach zu auffällig. Wie ein helles Tuch leuchtete er über die Ebene. »Wir bewegen uns ganz langsam hinter diese Felsformation dort hinten. Ich will keine Geräusche hören, auch nicht von den Pferden und den Rädern des Wagens.«

»Nein, wir bleiben genau hier«, widersprach ihm Leutnant Gyffs.

Fenna seufzte. Sie hatten oft darüber gesprochen, wie verheerend es war, wenn die beiden Kommandooffiziere vor versammelter Mannschaft unterschiedlicher Meinung waren. Bei den Übungen hatten sie für solche Fälle ein System entwickelt: Immer abwechselnd ordneten sie sich bei strittigen Punkten einander unter. Aber dies war keine Übung. Dies war ein Ernstfall. Das Leben aller konnte von einer Entscheidung abhängen. Und im Moment konnte Fenna sich nicht einmal darauf besinnen, wer von ihnen beiden mit dem Unterordnen dran war.

»Der Wagen ist einfach zu auffällig«, argumentierte er. »Die sinkende Sonne scheint genau dagegen und lässt ihn leuchten.«

»Der Wagen leuchtet doch schon seit mehreren Sandstrichen«, hielt Gyffs dagegen. »Es gibt auch helle Felsen hier, die genauso leuchten. Aber viele Tiere reagieren auf Bewegung. Noch hat er uns nicht gesehen. Aber wenn wir uns jetzt bewegen, nimmt er uns womöglich wahr.«

Er. Der Drache. Die Zähne von Jovid Jonis fingen wieder an zu klappern, obwohl die Nachtkälte noch gar nicht eingesetzt hatte.

»Also gut«, gab Fenna nach. Gyffs schien sich ihrer Sache wenigstens sicher zu sein, während er selbst nur zu erraten versuchte, was für sie alle am besten war. Vielleicht konnte man so in Zukunft Entscheidungen treffen: Wer von ihnen beiden entschlossener auftrat, bekam recht.

»Sollen wir uns nicht mal hinlegen, Leutnants?«, fragte Teppel bang.

»Nein. Keiner bewegt sich. Und niemand niest, dass das klar ist!« Fenna übernahm nun voll und ganz Gyffs’ Haltung. Mehrere der Männer waren bleich vor Furcht. Sie standen offen in einer Ebene, und dort hinten, in dreihundert, vierhundert Schritt Entfernung, rührte sich ein gewaltiges Ungetüm, größer als der Planwagen samt Pferdegespann. Ekhanners Lippen bewegten sich im Gebet. Einzig »Scheusal« Kertz grinste. Seine »Kriegsaugen« reflektierten die tief stehende Sonne. »Verflucht!«, entfuhr es Fenna. »Kertz, nimm deine Gläser ab und steck sie weg. Schnell, aber mit umsichtigen Bewegungen.« Das Grinsen verschwand aus Kertz’ Gesicht, und er tat, wie ihm geheißen. Blind plierte er daraufhin umher.

Drei Sandstriche vergingen. Die Menschen begannen nach Schweiß zu riechen. Die vier Pferde waren unruhig, aber es gelang Onida Raubiel, sie durch Einflüstern am Nicken und Mähneschütteln zu hindern.

Das Untier schabte zwischen Felsen. Es war nicht zu erkennen, ob es etwas fraß oder was es sonst dort machte. Noch zweimal schlug es mit federlosen Flügeln, die im Dämmerlicht rötlich schimmerten. Dann erstarben die Bewegungen, und der Staub kam zur Ruhe.

»Ist es tot?«, fragte Tadao Nelat.

»Wohl kaum«, antwortete Lement, der im Wagen stehend den höchsten Aussichtspunkt von ihnen allen innehatte. »Aber es ist gut möglich, dass es sich schlafen gelegt hat. Die Nacht bricht herein. Drachen sind Tagtiere. Glaube ich zumindest irgendwo gelesen zu haben.«

»Wir müssen dahinten aber vorbei«, sagte Korporal Garsid unzufrieden.

»Wir umgehen diese Stelle großräumig«, entschied Leutnant Gyffs. »Großräumig deshalb, weil wir gar nicht genau sehen konnten, wo er sich zur Ruhe gelegt hat. Vielleicht sind es auch mehrere. Sind Drachen Rudeltiere, Lement?«

»Nein. Eher Einzelgänger.«

»Aber auch sie müssen Paarungszeiten haben, wie die Panzerlöwen. Los jetzt, wir bewegen uns sehr langsam und lautlos. In weitem Bogen um diese Felsen herum. Wir werden den Fluss schon wiederfinden. Die Sonne hilft uns ja noch mit der Himmelsrichtung.«

So schlichen sie sich beinahe auf Zehenspitzen weiter. Das Knirschen der Wagenräder auf dem felsigen Untergrund bereitete ihnen allen eine Gänsehaut. Der Umweg wurde sehr, sehr großzügig berechnet. Sie gingen sogar ein Stück weit nach Süden zurück, um das vermeintliche Drachennest zu umgehen. Und während des gesamten Umweges gab es nicht einen Einzigen von ihnen, der nicht die ganze Zeit über seine Augen an jenen fernen Punkt geheftet hielt, wo zuletzt diese roten Flügel geschlagen hatten und sich der Staub dann beruhigte.

Es war bereits dunkel, als sie jenseits des mutmaßlichen Drachennestes den Flusslauf wiederfanden. Fenna und Gyffs waren sich einig, dass sie noch mindestens eine halbe Stunde weitermarschieren wollten, um so viel Nacht wie möglich zwischen sich und das Unbekannte zu schaufeln.

Dann teilten sie das Lager ein. Die Wachschichten sollten rotieren, damit jeder in den Genuss der ersten oder der letzten und somit von sechs Stunden Schlaf ohne Unterbrechung kommen konnte. Korporal Deleven übernahm nun mit Teppel, Ekhanner und Emara die erste Wache, Leutnant Gyffs mit Kindem, Kertz und Stodaert die letzte. Leutnant Fenna fand sich dadurch zufälligerweise erneut in einer unbequemen Schicht wieder, diesmal in der zweiten. Es gelang ihm überhaupt nicht, während der ersten zwei Stunden zu schlafen. Dann kam seine Wachpflicht, und danach blieben ihm nur noch vier Stunden Ruhe. Und in diesen vier Stunden wurde das gesamte Lager durch die Wachhabenden der letzten Schicht geweckt, denn merkwürdige Geräusche hatten Leutnant Gyffs und ihre drei Mitwächter in Unruhe versetzt.

Es klang wie ein keifendes Raufen, Fauchen und Bellen. Aber nicht wie von Hunden. Die verschiedenen Stimmen – es mochten an die zehn sein – wirkten heiser, hohl, verzerrt, monströs.

»Haihunde«, sagte Korporal Garsid. »Ein ganzes Rudel davon.«

Das also waren die Ungeheuer, die der Ersten Kompanie zwei Soldaten und ein Pferd entrissen hatten.

»Ist das … ein Angriff?«, fragte MerDilli.

»Ein Angriff wäre lautlos, höchstens hechelnd«, vermutete Garsid. »Das klingt eher, als würden sie sich streiten. Worum auch immer.«

»Wie weit sind sie weg?«, erkundigte sich Fenna, der vor Müdigkeit ganz taumelig war.

Garsid rieb sich den Schädel. »Schwer zu schätzen. In dieser Gegend hallt alles so. So weit weg wie der Drache gestern, würde ich sagen.«

»Und wenn sie uns bemerken – greifen sie dann an?«

»Ich habe keine Ahnung, Leutnant«, antwortete der Korporal gereizt. »Immerhin haben sie die gesamte Erste Kompanie angegriffen – dreißig Mann auf Pferden, oder? Im Vergleich dazu sind wir leichte Beute.«

»O Mann, ist das alles schauerlich hier draußen!«, entfuhr es Mails Emara. »Und wo sind eigentlich die Affenmenschen? Sollte es hier nicht Affenmenschen geben und sonst gar nichts?«

»Hier gibt es alles, was es im Königreich nicht geben soll«, sagte Korporal Nilocas Deleven düster.

Die Dritte Kompanie rüstete sich für einen Kampf. Der Fernwaffenzug bezog Stellung hinter den Schilden der Infanterie. Doch nichts passierte. Das Kläffen und beinahe nach Gelächter klingende Meckern verebbte nach zehn Sandstrichen. Stille waberte umher, während es der Morgendämmerung nicht gelang, die Haut der Nacht zu durchstoßen.

»Wenn es ruhig ist, ist es noch unheimlicher«, greinte wieder Mails Emara. »Die Viecher sind noch irgendwo dort draußen, aber man weiß jetzt nicht mehr, wo!«

»Reiß dich mal ein bisschen zusammen, Soldat Emara!«, schnauzte Fenna. »Du bist hier schließlich nicht alleine unterwegs und nicht auf Frühlingsausflug. Wenn die beiden Händler nicht wehklagen, verstehe ich nicht, weshalb ein Soldat der Krone sich so gehen lassen kann.«

Emara verstummte. Selten war einer der Grünhörner so von seinem Leutnant zusammengestaucht worden. Aber es half, die Gefahr für alle ins rechte Licht zu rücken.

Endlich bezwang die Morgensonne das Rätselreich der Dunkelheit. Man konnte wieder sehen, was vor einem lag und was nicht. Und wohin man auch blickte – nirgendwo waren Haihunde, Drachen, Panzerlöwen oder Affenmenschen zu erkennen.

»Kein Wunder, dass die Festung Carlyr nicht angegriffen wird«, murmelte Fergran von den Holtzenauen beim Frühstück. »Die Affenmenschen scheinen hier tageweit überhaupt keine Behausungen zu haben.«

»Die sind weiter im Norden«, erläuterte ihm Korporal Garsid. »Und Richtung Westen. Richtung Galliko.«

»Habt Ihr schon mal Affenmenschen zu Gesicht bekommen, Meister Raubiel?«, fragte Jovid Jonis den alten Händler.

Der spuckte wieder aus, wie immer, wenn er zu sprechen anhob. »Nur die kleinen, die nackten, haarigen. Die wimmelten mal um meinen Wagen herum. Lästige, laute Wichte. Aber die in den Rüstungen, die richtig aufrecht gehen – die kenne ich auch nur vom Hörensagen.«

Wir führen Krieg gegen ein Märchen, brummte es in Fennas übermüdetem Kopf. Waren nicht auch auf dem Affenmenschenfeldzug die Affenmenschen selbst kaum in Erscheinung getreten, und das Heer der Königin vor allem an der Landschaft, der Witterung und an selbstentfesselter Magie gescheitert?

Das Gasfeld, das in Gollbergs Karten verzeichnet war, schimmerte im Licht der Mittagssonne wie eine trügerisch wehende Getreidelandschaft. Es sah beinahe schön aus, ein goldenes Gespinst, gespeist aus kleinen Kratern.

»Können wir das nicht umgehen?«, fragte Fenna Gyffs.

Die Offizierin schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn wir im Zeitplan bleiben wollen. Die Erste reitet hier regelmäßig durch. Also werden wir das auch schaffen.«

»Aber reiten geht schneller als laufen. Man atmet nicht ganz so viel ein.«

»Weiter jetzt!« Erneut ließ Gyffs nicht mit sich reden, und erneut hatte sie wahrscheinlich recht. Einen halben Tag Umweg wollte sich auch Fenna nicht leisten. Nicht angesichts des Gekläffs von gestern Nacht.

Die Soldaten und Zivilisten banden sich Tücher vor Mund und Nase. Die Pferde bekamen einfach ihre Haferbeutel ums Maul gehängt. Dann marschierten sie alle zusammen hinein ins Gas. »Zügig«, mahnte Fenna. »Wir wollen so schnell wie möglich durch.«

Das Gas stank nach Kloake, nach verfaulten Eiern und verrottetem Leben. Einige der Männer husteten. Nelat wurde schwindelig, Stodaert stützte ihn. Ekhanner würgte, als müsse er sich übergeben. Auch Onida Raubiel schwächelte jetzt und verkroch sich nach hinten in den Wagen. Nur der alte Raubiel schien hinter seinem Tuch zu grienen.

Fenna war sich nicht sicher, ob das Gas tatsächlich giftig war oder ob es einfach nur mörderisch stank. Aber gesund war es mit Sicherheit nicht. Gyffs ließ sich nichts anmerken.

Eine Stunde lang gingen sie durchs Gas. Die Orientierung war leicht zu halten, weil der Himmel zu sehen war mit seiner fahlen Sonne, aber unten am Grund schien alles zu schweben, zu treiben, haltlos zu sein, einem den Boden zu entziehen. Teppel stürzte einmal und war mehrere Sandstrichbruchteile lang gar nicht mehr zu sehen, bevor sein Korporal Garsid ihn aus dem Gelbnebel hochzog. Die Pferde schwitzten vor Beanspruchung. Fenna dachte an Chlayst, an das Sumpfgas, das keine Farbe hatte, keinen für Menschen wahrnehmbaren Geruch. Nur Hunde und Katzen hatten Reißaus genommen. Menschen hatten gelacht, geatmet, blutigen Schaum erbrochen und den Tod gefunden. Chlayst war schlimmer gewesen als dies alles. Sogar schlimmer als ein Drachennest.

Nach einer Stunde waren sie durch. Zur Sicherheit gingen sie noch dreihundert Schritt weit aus dem Gelb hinaus, bevor sie ihre Tücher abnahmen. Da, wo die Tücher durch den Atem feucht geworden waren, hatten sie sich grünlich verfärbt.

»Widerlich, einfach widerlich«, schüttelte sich von den Holtzenauen.

Fenna wünschte sich, etwas ausspucken zu können wie der alte Raubiel. »Jetzt haben wir es bald geschafft«, sagte er mit zu einem Grinsen verzerrten Gesicht. »Unsere Karte führt uns durch das Hügellabyrinth dort hinten zu dem Punkt, wo wir das Proviantlager ausheben.«

»Diese Hügel sind ein guter Ort für Hinterhalte«, mahnte Korporal Deleven.

»Ja.« Fenna nickte. »Deshalb sind wir ja auch eine Kompanie Soldaten und keine Gesangsgruppe beim gemütlichen Herbstausflug.«

Keiner der Männer machte beim Marschieren schlapp. Der Schreiber Lement hatte nichts Personelles zu notieren außer der Tatsache, dass die Dritte Kompanie nach Plan der Vorgesetzten funktionierte. Dafür skizzierte Jovid Jonis bei jeder sich bietenden Rast die umgebende Landschaft auf sein Pergamentbündel. In den Hügeln interessierten ihn vor allem die merkwürdigen Pilze, die hier wucherten. Die meisten von ihnen hatten überhaupt keinen Stiel, aber riesige Hüte, die bis zu einem Schritt im Durchmesser maßen.

»Besser nicht anfassen!«, warnte Emjen Raubiel. »Einige von denen klappen zu und verschlingen, was sie gefangen haben.«

»Aber wovon ernähren die sich?«, fragte Jonis. »Hier gibt es keine Vögel, keine Insekten, keine Mäuse …«

»Hier gibt es allerhand. Das meiste kommt aber erst nachts raus.«

Sie folgten dem von Hauptmann Gollbergs Kompanie ausgekundschafteten und auf den Plänen verzeichneten Weg, der den Wagen vor allzu steilen Stellen bewahrte, durch die Hügel. Schon vor dem Einsetzen der Abenddämmerung erreichten sie den auf den Plänen verzeichneten Endpunkt ihrer Mission: einen ausgefransten Talkessel, markiert von mehreren schwarzrindigen Krüppelbäumen. Die Bäume schimmerten feucht, ihre Rinden sonderten eine Art Öl ab. Wären die Bäume nicht auf dem Wegplan fest verzeichnet gewesen, hätte Fenna sie für etwas gehalten, was sich schlangengleich bewegen konnte.

Er schickte den Fernwaffenzug auf die umliegenden Hügelkuppen, damit er die Umgegend ausspähte. Es war nichts Ungewöhnliches zu bemerken. Überall Hügel und trockenes Grasland, in jeder Richtung. Dann machten sich die Soldaten mit zehn auf dem Wagen mitgeführten Spaten ans Buddeln. Zweimal unterband Gyffs die Arbeit, weil sie vermeinte, von woanders ebenfalls Arbeitsgeräusche zu hören, aber es waren wohl nur Echos, die sich durch die bucklige Landschaft brachen.

Fenna erinnerte sich an das, was Jenko und Gollberg ihm eingeschärft hatten: Kein Tier durfte das Vergraben beobachten. Aber hier gab es keine Tiere. Keine Vögel, die sich irgendwo niedersetzten. Keine Schlangen. Nicht einmal Ameisen. Nur die flachen Pilze, ölige Bäume und an den windgeschützten Hängen verdorrt wirkendes Gras. Als ob selbst der Wind hier gefährlich wäre.

Die schaufelnden Soldaten allerdings förderten allerhand Leben zutage. Das Erdreich war einen Schritt tief staubtrocken und mürbe, aber darunter plötzlich durchsetzt mit wimmelnden Würmern und Larven von weißlicher Farbe. Bei jedem Spaten voll Aushub rieselten dutzendweise Wurmwesen hervor. Die Dicksten und Längsten von ihnen wären andernorts schon als Schlangen bezeichnet worden.

»Gibt einem zu denken, oder, Leutnant?« Onida Raubiel war plötzlich neben Fenna aufgetaucht. Vertieft in die Geräusche der schuftenden Männer hatte er sie gar nicht nahen hören. »Was für eine Gegend das hier ist. Wie man beschaffen sein muss, um ein Land mit giftigen Flüssen und Gasfeldern, mit Haihunden, aber ohne Singvögel seine Heimat zu nennen. König Rinwe hat niemals versucht, diese Landschaft seinem Königreich einzugliedern. Weil es in ihr nichts zu holen gibt. Weil man in ihr ohnehin nicht siedeln könnte.«

»Wir lassen die Affenmenschen in Ruhe, solange sie uns in Ruhe lassen.«

»Der Feldzug sprach eine andere Sprache.«

»Der Feldzug war eine Idee der Königin und ihrer Berater, nach reiflichem Nachdenken in die Tat umgesetzt. Er war nicht einfach eine Laune, sondern ein militärisch-strategisches Vorhaben, dessen Hintergrund allen verborgen bleiben muss, die nicht unmittelbar beteiligt waren.« Fenna stellte fest, dass seine eigene Stimme den Echos ähnelte, die von den Arbeitsgeräuschen widerhallten.

Die Händlerstochter lächelte nur. »Ich war unmittelbar beteiligt. Mein Vater und ich haben das unglückliche Heer mit Proviant versorgt. Aber glaubt mir, Leutnant: Der Sinn der ganzen Sache ist mir nichtsdestotrotz verborgen geblieben.«

Sie ließ ihn stehen. Er betrachtete weiter das Ausheben der Grube. Dabei fragte er sich, wie die Würmer wohl mit dem Proviant umspringen würden da unten. Aber das war nicht sein Problem. Sein Auftrag war es nur, den Proviant hier zu vergraben.

Die Soldaten ächzten und mühten sich. Sie schleppten Fässer und Kisten und wachstuchumwickelte Bündel aus dem Planwagen ins frische Erdloch. Die Dunkelheit schwappte über die Hügel wie Brühe. Überall im Talkessel krümmten sich jetzt ausgegrabene Würmer, die offenbar durch die trockene obere Erdschicht nicht hindurchkamen.

Gyffs mischte sich unter die verschwitzten, dreckverschmierten Grünhörner. »Auf dem Rückweg ist der Planwagen leer«, sagte sie aufmunternd. »Das bedeutet, es können Männer auf dem Wagen mitfahren – ich würde vorschlagen, beide Züge abwechselnd für jeweils drei Stunden. So kann jeder sich alle drei Stunden ausruhen und muss nur noch den halben Weg zurückmarschieren.«

Die Männer freuten sich tatsächlich über diese Eröffnung. Emjen Raubiel spuckte aus, sagte aber nichts.

Die Arbeit ging im Dunkeln weiter, bis das Loch wieder aufgefüllt und die überschüssige Erde weiträumig verteilt war.

»Jeder wird auf den ersten Blick erkennen, dass hier gegraben wurde«, sagte Korporal Deleven unzufrieden.

»Glücklicherweise ist dieser Talkessel nicht weithin einsehbar«, entgegnete Fenna. »Wir beziehen unser Nachtlager dort oben auf dem Hügelkamm. Da wimmelt es nicht so von diesen Würmern. Morgen nach Tagesanbruch sehen wir uns unser Werk noch einmal an und tarnen, was zu tarnen ist. Dann geht es zurück, wie Leutnant Gyffs gesagt hat.«

In dieser Nacht war Leutnant Fenna aufgrund der Schichtrotation gleich mit der ersten Wache dran. Obwohl ihm vor Übermüdung mehrmals die Augen zufielen, hielt er eisern durch. In seinem Zustand kamen ihm verworrene Gedanken in den Sinn: Die Kinder von Chlayst, die er in seinem letzten Traum vergeblich gesucht hatte – hier lagen sie und schliefen. Schmutzig und erschöpft, wie nach einem Spiel im Sand. Die Soldaten waren seine Kinder, seine Schutzbefohlenen. Er und Gyffs waren Eltern.

Aber auch in den drei Schichten, während derer Fenna eigentlich hätte schlafen können, war ihm keine tief reichende Ruhe vergönnt. In der dritten Schicht ließ Leutnant Gyffs das gesamte Lager wecken, weil Kindem und Stodaert etwas gesehen hatten: »Huschende Schatten, wie Köpfe, die sich hinter Hügelkuppen verbergen.«

»Das könnten aber auch Nagetiere oder Echsen gewesen sein, die sich oben auf den Kuppen bewegen?«, fragte Fenna übellaunig nach.

»Was auch immer, es sind viele, und vielleicht geht von ihnen Gefahr aus, Leutnant!«, meldete Stodaert akkurat.

Fenna fragte sich, ob nicht eher durch die ganze Unruhe und das Geplappere etwas Feindseliges auf die Kompanie aufmerksam wurde, als wenn sie alle einfach nur geschlafen hätten. Die Pferde jedoch knabberten ganz ungerührt am dürren Gras.

Wäre Fenna jetzt alleine gewesen oder ohne verantwortungsvolle Befehlsgewalt, wäre er womöglich in die Nacht hineingestapft und hätte so etwas gerufen wie »Warum zeigt ihr euch nicht einfach? Ihr seid doch irgendwo da draußen und tuschelt über uns. Kommt und greift uns endlich an!«. Einfach nur, um die unbefriedigende Spannung abzubauen. Aber das ging nicht, das konnte er nicht machen. Er war doch jetzt Vater.

Nach einer Viertelstunde der Ereignislosigkeit legten sich alle, die nicht mit Wachehalten dran waren, wieder hin.

In der vierten Schicht wurde die Kompanie noch einmal geweckt. Diesmal war es Korporal Deleven selbst, der im Norden ein Flackern am Himmel wahrgenommen hatte. »Ich wollte, dass Ihr Euch das ansehen könnt, Leutnants. Es sah nicht wie Wetterleuchten aus.« Sie starrten sandstrichelang ins kühle Dunkel, bis ihnen allen die Augen tränten. Je länger man starrte, desto eher schien man Unregelmäßigkeiten wahrzunehmen. Die Hügel schienen zu wabern. Das ganze Land war in Bewegung. Doch es war nur grundlose Furcht, die nach ihnen allen griff. Nichts bewegte sich dort, überhaupt nichts. Und dennoch fragte Fenna sich, ob das unstete Licht, das Deleven gesehen haben wollte, jenes geheimnisvolle Feuer war, jenes Endergebnis des großen Feldzuges, das im Norden loderte und das gesamte Land mit dem Geruch eines Schwelbrandes erfüllte.

Der dauernde Schlafentzug zerrte an Fennas Nervenkostüm. Er wollte jeden sich ihm bietenden Sandstrich zum Schlafen nutzen und träumte dabei so wildes Zeug, dass er ganz erregt und verschwitzt wieder zu sich kam, als die Morgendämmerung den Himmel bleich und kränklich machte. Er fragte sich, welches Datum heute war, und kam nach längerem Abzählen an zitternden Fingern zu dem Schluss, dass heute der 9. Blättermond sein musste. In sechs Tagen würde man das Bachmufest feiern, das Fest des Herbstes und des Goldes.

Sie inspizierten den Talkessel mit dem Proviantlager. Die meisten Würmer waren verendet. Der Boden sah aufgewühlt und zertreten aus, aber das waren nur ihre eigenen Fußspuren von gestern Nacht. Sie widmeten sich noch einmal eine Stunde lang der Aufgabe, das kleine Tal zumindest einigermaßen so herzurichten, dass nicht jeder zufällige Betrachter sofort durchschaute, dass dort etwas versteckt worden war.

»Regnet es hier eigentlich jemals?«, fragte Fenna sowohl den Korporal Garsid als auch die beiden Raubiels. »Ein Regen könnte hier nämlich alles wieder normal aussehen lassen.«

»Überall auf dem Kontinent regnet es ab und zu, selbst in den Sonnenfeldern«, antwortete Emjen Raubiel.

Endlich brachen sie auf. Nach Gyffs’ Plan durften sieben Mann im Wagen mitfahren, der nun nur noch zwei Trinkwasserfässer und eine große Proviantkiste für die Dritte Kompanie geladen hatte. Viele der Männer waren ebenso übermüdet wie Leutnant Fenna, und Korporal Delevens Fernwaffenzug, der nun als Erster die Vergünstigung erhielt, freute sich sehr darüber. Leutnant Gyffs wollte auf ihr Recht mitzufahren verzichten, und als sie sah, wie gerädert Fenna aussah, nötigte sie ihn dazu, ihren Platz einzunehmen. Er wehrte sich nur, um der militärischen Etikette zu entsprechen, und schlief dann erschöpft drei Stunden lang, während der Wagen aus dem Hügellabyrinth hinausrumpelte.

Nirgendwo gab es Affenmenschen. Nur ein paar Echsengeier tauchten nun wieder auf und kreisten in respektvoll anmutendem Abstand über dem Wagen und dem marschierenden Infanteriezug.