27. Tag:

Santiago de Compostela, 1. Juli

Als ich am Morgen wach werde, ist es bereits 10.00 Uhr, und es regnet noch immer. Also hat es keine Eile mit dem Frühstücken und dem Rausgehen — nass werde ich noch früh genug.

So mache ich mich in Ruhe fertig und gehe um 11.30 Uhr zur Kathedrale, wo um 12.00 Uhr die Pilgermesse stattfindet. In Santiagos Kathedrale gibt es vier bis fünf Gottesdienste pro Tag, aber die Pilgermesse um 12.00 Uhr ist etwas ganz Besonderes. Als ich gegen 11.30 Uhr die Kathedrale betrete, ist sie bereits bis auf den letzten Platz besetzt. Viele Menschen stehen auch schon in den seitlichen Gängen, und ich muss mich wohl oder übel dazustellen, wenn ich dabei sein will. Circa um 11.45 Uhr beginnt eine Dame mit Gesangesübungen, was sich so gestaltet, dass sie vorsingt und die Masse versucht, so leidlich nachzusingen. Dieses geschieht in kurzen Etappen, sodass Text und Melodie recht einprägsam sind. Gegen 12.00 Uhr beginnt dann die eigentliche Messe, in der von verschiedenen Personen Teile der Heiligen Schrift auf Spanisch vorgetragen werden. Im Mittelteil wird dann vorgelesen, welche Pilger aus welchem Land hier in Santiago angekommen sind, und es werden die Länder Uruguay, Nepal, Kanada, China usw. genannt. Es gibt sicher keinen noch so entfernten Staat, der hier nicht vertreten ist. Ich bin sehr beeindruckt, auch wenn ich nur einen winzigen Teil der Messe verstehe. Verstanden habe ich jedoch, dass hier in der Kathedrale seit tausend Jahren Pilgermessen abgehalten werden. Zwischendurch werden die Besucher immer wieder aufgefordert, aufzustehen, denn gesungen wird im Stehen. Die Messe endet, wie auch bei uns üblich, mit der Kollekte und mit dem Abendmahl, bei dem jeder, der es möchte, eine kleine Oblate gereicht bekommt.

Während der Messe habe ich mir auch den überdimensionierten Weihrauchkessel in der Kathedrale angesehen. Man sagt diesem nach, dass er früher besonders wichtig war, denn in den früheren Jahrhunderten waren die Pilger oft monatelang unterwegs, ohne sich richtig waschen oder ihre Kleidung wechseln zu können. Demnach war der Geruch, der sich durch die Pilger bei den Messen entfaltete, derart penetrant, dass man diesen nur mit einem sehr intensiv duftenden Weihrauchgeruch überdecken konnte.

Beim Verlassen der Kathedrale am Ende der Messe gibt es ein ungeheures Gedrängel, die Kathedrale hatte Unmengen von Besuchern, die alle durch die Tür hinauswollen, durch die neue Besucher und Pilger hereinkommen wollen. So dauert es bald eine halbe Stunde, bis sich dieses Knäuel entwirrt.

Draußen angekommen — der Masse Mensch entflohen — regnet es wieder. Ich schlendere noch ein wenig durch die Altstadt, die heute, am Sonntag, noch voller ist als sonst. Schließlich kaufe ich einige Souvenirs und Mitbringsel ein und mache dann Pause in meinem Quartier.

Am Nachmittag ist draußen immer noch alles grau in grau, und ich entscheide mich, Kaffee trinken zu gehen. Während ich so durch die Altstadt laufe, werde ich — welch ein Zufall! — wieder von Liz, meiner dänischen Pilgerfreundin entdeckt. Wir freuen uns beide, denn das Nichtstun ist nicht gut für uns, wir fühlen uns beide etwas einsam. Liz frohlockt, denn sie fliegt morgen nach Hause. Ich habe noch zwei Tage Zeit und hoffe so sehr auf besseres Wetter. Jetzt jedenfalls freuen wir uns, Gesellschaft zu haben, sitzen zusammen, reden und trinken Kaffee.

Da gesellt sich eine andere Pilgerin zu uns, die aus der Schweiz kommt und auch deutsch spricht. Hier mit uns muss sie jedoch englisch sprechen, damit Liz dem Gespräch folgen kann. Diese Dame aus der Schweiz ist mit dem Fahrrad aus der Schweiz losgefahren, hat nun bis Santiago circa 2000 Kilometer geschafft und will seit Tagen wieder nach Hause. Sie schafft es jedoch nicht, weil sie ihr Fahrrad nicht transportieren kann. Morgen, da soll es nun klappen. Sie beschwert sich über die Busgesellschaften, die offensichtlich nicht miteinander kooperieren und vor allem keine Fahrräder transportieren. Also fährt sie mit der Bahn zurück, offensichtlich der einzige Weg, das Fahrrad mit nach Hause zu nehmen. Sie erzählt, dass sie in Muxía und Finisterre an der Westküste war und ist vor allem von Muxía sehr begeistert, weil es dort ein ähnliches Licht geben soll wie in Nordnorwegen oder Island. Außerdem sind die Strände wundervoll einsam und leer.

Von Finisterre erzählt sie, dass es felsig ist; es gibt dort eine unheimlich hohe Steilküste. Da die Schweizerin nun erneut meine Neugier geweckt hat, gehe ich in die Touristinformation und hole mir doch noch die genauen Busfahrzeiten und Abfahrtspunkte für den Bus. Beide Orte sind circa hundert Kilometer von Santiago entfernt, und der Bus fährt circa zweieinhalb Stunden. Da der erste Bus jedoch erst um 8.00 Uhr losfährt und der letzte schon um 16.30 Uhr zurück fährt, müsste ich dort wohl übernachten, wenn das Ganze sinnvoll sein soll. Ich überlege, kann mich aber nicht so recht entschließen, nochmals auf Tour zu gehen.

Auf jeden Fall verbringe ich mit Liz den Abend, ihren letzten Abend hier in Santiago, denn morgen fliegt sie nach Hause nach Kopenhagen. Schade! Wir finden ein schönes, gemütliches und etwas feines Restaurant, essen gemeinsam und sprechen miteinander; wir essen und freuen uns über unsere Gesellschaft. Rund um uns herum tobt das Leben, denn offensichtlich wird das Lokal, in dem wir sitzen, überwiegend von Spaniern besucht. Hier unterhält man sich lautstark, lacht, und es herrscht bei Bier, Rotwein und tapas, den kleinen Schnittchen, die in Spanien so gerne gegessen werden, reges kommunikatives Treiben. So geht der Abend viel zu schnell zu Ende, und Liz und ich verabschieden uns gegen 22.00 Uhr mit der lockeren Absprache, uns eventuell einmal im nächsten Jahr irgendwo zum Wandern zu treffen. Mal sehen, was daraus wird, ich bin gespannt!

Ich fühle mich wehmütig und allein, als ich zu meinem Zimmer gehe, und vielleicht verspüre ich das erste Mal auf meiner Reise jetzt ein wenig Heimweh.

Wenn nicht jetzt, wann dann?
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