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Anreise Hamburg — Bilbao, Bus bis Pamplona, 5. Juni

Es geht los! Mit gemischten Gefühlen und vielleicht gar nicht so froh wie erwartet begebe ich mich auf die Reise. Der Blick zurück, der meiner Familie und vor allem meinem jüngsten Sohn gilt, ist voll von Trauer und Angst, denn in den nächsten Wochen müssen wir alle ohne einander auskommen. In der Hoffnung, dass alles gut gehen möge, versuche ich krampfhaft nach vorne zu schauen. Sicher, ich fühle mich gut vorbereitet, doch wissen die anderen das auch?

Wehmut klingt durch, jetzt schon. Ist Abenteuerlust das alles wert? Ein Ausbrechen aus dem Alltagstrott ist auch immer mit schmerzlichen Konsequenzen verbunden, zumal keiner zurzeit so recht weiß, was die kommenden Wochen bringen werden.

Die Anreise mit dem Zug verläuft problemlos bis Hamburg-Hauptbahnhof, Flughafenbus, Flug von Hamburg bis Bilbao. Umsteigen muss ich in Palma de Mallorca. Auffällig sind für mich die Sicherheitskontrollen, bei denen ich dieses Mal sogar meine klobigen Wanderschuhe mit dicker Sohle ausziehen muss, damit sie mit auf dem Laufband liegen, um durchleuchtet zu werden. Das ist auch für mich eine völlig neue Erfahrung, in Socken vor meinem Gepäck zu stehen. Zum Glück bin ich Flug erfahren und habe mein großes Gepäck — Rucksack im Koffer — schon in Hamburg aufgeben können, sodass ich mich in Palma beim Umsteigen nur mit meinem Handgepäck beschäftigen muss. Um zu verhindern, dass mein Rucksack auf dem Transportweg Schaden nimmt oder mir eventuell sogar Teile des Inhaltes, die ich für meine Reise dringend benötige, fehlen, habe ich mich zu Hause entschlossen, einen alten Koffer zu opfern, der dann nach dem Hinflug wohl oder übel in Spanien zurückbleiben muss.

Die Umsteigeaktion dauert gut eine Stunde, die ich mir mit einem Cappuccino verkürze. Der Weiterflug, der glücklicherweise ohne erneute Sicherheitskontrollen möglich ist, gestaltet sich problemlos, und um 16.30 Uhr lande ich in Bilbao. Während der Wartezeit auf meinen Koffer komme ich mit anderen Deutschen, die weitere deutsche Pilger kennengelernt haben, ins Gespräch, und so erfahre ich, dass die anderen auch nach Pamplona wollen.

Nach dieser Information stelle ich zu den anderen Pilgern Kontakt her und erfahre so, dass sie sich auskennen, weil sie diese Strecke bereits mehrmals zurückgelegt haben. Es ist ganz einfach: Vor dem Flughafen steht der Bus, der mich nach circa fünfzehn Minuten Fahrzeit zum Busbahnhof im Zentrum von Bilbao befördert. Von da aus geht es mit circa eineinhalb Stunden Fahrzeit gegen 18.00 Uhr mit einem anderen Bus nach Pamplona weiter. Super! Ursprünglich hatte ich geplant, die erste Nacht in Bilbao zu bleiben, um dann am 2. Tag bis Pamplona zu fahren. Da das nun sofort und am ersten Tag möglich ist, ändere ich meine ursprüngliche Planung.

Mit weiteren Pilgern warte ich zusammen an der Haltestelle, und auch hier kommen wir ins Gespräch. Eine junge Frau mit schwarzen, kurzen Haaren, so um die dreißig, erzählt, dass sie ihren zweijährigen Sohn bei ihrem Mann zu Hause gelassen hat. Ihr Mann unterstützt ihre Unternehmung, fördert sie, und sie selbst liebt Erfahrungen im grenzwertigen Bereich. Sie sei absolut gespannt auf diese kommenden Erfahrungen und auch sie fühle sich gut vorbereitet.

Schließlich kommt der Bus, und ich steige zusammen mit den anderen Pilgern ein. Vor mir, links und rechts, sitzen je zwei Pilgerpärchen, die sich während der ganzen eineinhalb Stunden Fahrt lautstark unterhalten. Besonders die Frau vor mir — hellblonde Haare, grell geschminkt und auffällig zurechtgemacht — fällt mir auf, weil sie eine hohe, schrille, laute Stimme hat und auch ständig von ihr Gebrauch macht. Es gibt keine Aussage ihres Begleiters oder des offensichtlich befreundeten Paares, die sie nicht kommentiert. Eigentlich redet nur sie, ständig, monoton, gleichförmig und unangenehm schrill.

Ich sitze dahinter, fast schweigend und höre und sehe mir das Schauspiel an. Mich befällt das blanke Entsetzen bei der Vorstellung, dass alle Pilger so sein könnten wie diese unangenehme Frau. Ich schweige, leide und versuche die Zeit der ungeliebten Kommentare zu allem und jedem zu ertragen. So allmählich — merke ich — ist auch ihr Begleiter von ihr genervt, denn seine Antworten werden bissig und sparsam. Die große Wortführerin jedoch merkt nichts, plappert unbeschwert weiter und kümmert sich nicht um ihre Begleiter, denn ihr geht es offensichtlich gut. Mein Adrenalinspiegel steigt nach diesem langen und anstrengenden Tag, doch ich schaffe es wirklich, nicht in das Gespräch von Plappermäulchen hineinzureden. Stattdessen versuche ich mich auf die schöne Landschaft, kleine Berge, grüne Wiesen zu konzentrieren. Und schließlich vergeht die Zeit, und wir erreichen gemeinsam Pamplona.

Zügig versuche ich, von dieser mir unangenehmen Gruppe Abstand zu gewinnen und laufe vom Busbahnhof Richtung Altstadt. Alles ist gepflastert, sodass ich meinen Koffer problemlos rollen kann. In dieser Zeit muss ich zweimal Passanten fragen, um den Weg in die Altstadt zu finden. Nach circa fünfzehn Minuten erreiche ich die Straße, in der sich mein im Nordspanienführer genanntes hostal befindet. Und auf einmal stehe ich mitten in der Altstadt und kann zwischen mehreren dort befindlichen Pensionen wählen. Ich sehe mir zwei an, muss mit meinem Gepäck viele Treppenstufen steigen und entscheide mich schließlich für die dritte Pension, die zwar altertümlich und teuer, aber wenigstens sauber ist.

Inzwischen ist es 19.30 Uhr und ich bin angekommen, verwirrt, müde und überfordert. Dennoch gehe ich nach einer kurzen Pause wieder nach draußen, um etwas zu essen. Die Luft ist lau, ich sehe die letzten Sonnenstrahlen und stehe nach zwei Minuten mitten auf dem Marktplatz. Buden sind hier aufgebaut und offensichtlich laufen dort alle Spanier Pamplonas mit ihren Familien entlang.

Um den riesigen, quadratischen Marktplatz herum befinden sich hohe Häuserzeilen, schön gestrichen, mit schmiedeeisernen Gittern vor den Balkonen, mit Blumen geschmückt. Ein sommerlich freundlicher Anblick, der mir sofort gefällt. Meine Müdigkeit ist wie weggeblasen, ich habe Urlaub, und das Abenteuer kann beginnen. Was für ein wundervoller Moment! Also sitze ich im Straßencafé in der untergehenden Sonne, esse eine Kleinigkeit, betrachte das wuselige Treiben um mich herum und fühle mich nur wohl. Was für eine Stadt, was für ein Land! Ich genieße diese schöne Atmosphäre, freue mich an dem lauen Abend und komme so allmählich wirklich an. Das Leben ist schön! Und ich habe wundervolle vier Wochen — hart erkämpft — vor mir. Das ist für mich Grund genug, restlos zufrieden zu sein, voller Erwartung und Tatendrang.

Danach schlendere ich durch die Gassen der Altstadt, stets um den Marktplatz herum, um auf jeden Fall den Rückweg wieder finden zu können. Sehr schnell fällt mir auf, dass viele Häuser untereinander mit dicken, außen geführten, frei liegenden Stromkabeln verbunden sind. Offensichtlich geht man hier mit derlei Gefahren anders um als bei uns in Deutschland, aber es scheint zu funktionieren.

Gegen 21.00 Uhr wird es hier schon dunkel, und ich möchte am ersten Abend im fremden Land nicht leichtsinnig sein. Also gehe ich langsam zu meiner Pension zurück, wo ich todmüde und entspannt in das viel zu weiche, völlig ausgelegene Bett falle.

Wenn nicht jetzt, wann dann?
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