22. Tag:

Palas de Rei — Melide (17 km), 26. Juni

Heute Morgen gibt es Frühstück in der Pilgerherberge, und ich genieße café con leche und ein Croissant. Um 7.30 Uhr mache ich mich dann wieder auf den Weg. Das Wetter ist gemischt: nicht allzu kalt, aber trocken und keine Sonne. Zum Laufen ist das in Ordnung. Aus allen Richtungen strömen die Pilger zusammen auf den Weg, viele auch mit nur wenig oder gar keinem Gepäck. Ab Sarria, gut 120 Kilometer vor Santiago de Compostela, wird ein Gepäckdienst gegen Gebühr angeboten, der die Gepäckstücke bis zur nächsten Station befördert, sodass man das Gepäck nicht tragen muss, und offensichtlich macht ein Teil der Kurzpilger davon Gebrauch. Für mich steht das nicht zur Diskussion; viel zu groß wäre meine Angst, dass das eventuell nicht funktionieren könnte und ich dann so ganz ohne meine Sachen dastünde. Außerdem habe ich so immer das dabei, was ich gerade brauche, und auch das ist mir wichtig.

Mein Weg geht heute mal wieder bergauf, neben der Straße entlang. Es dauert stets einige Zeit, bis ich die Ortschaften verlassen habe und dann die Wegführung wieder die Natur trifft. Und wirklich, nach circa zwanzig Minuten Wegstrecke, beginnt ein Waldstück, durch das sich der Weg hindurchschlängelt. Die Natur zeigt sich abwechslungsreich. Es gibt verschlungene, tief liegende Wege, die links und rechts von mit Efeu bewachsenen Erdwällen umsäumt sind. Weiter sehe ich freie, breite Wege, die durch Wiesen führen, die mit hohen Gräsern bewachsen sind. Zwischendurch überquere ich kleine Bäche, die gurgelnd den Weg kreuzen, um ihn dann zu begleiten. Dann gibt es wieder »Märchenwälder«, knorrige Eichen, die Efeu bewachsen ein Blätterdach bilden, sodass es auf dem Weg dunkel wird. Ich laufe auch an Pinienhainen vorbei, und einmal sehe ich plötzlich auf einer Lichtung ein Reh stehen, das erste, dem ich in den letzten Wochen begegne. Weiter erreiche ich ein Feuchtbiotop, in dem es ein wundervolles Froschkonzert zu hören gibt.

Froschkonzert
Bäume, groß und Licht durchflutet,
breiten schützend und bewahrend
ihr Blätterdach über die Sinfonie
der Frösche, die lautstark werbend,
einander suchen, sich finden,
sich quirlig anquaken,
viele verschiedenartige Tonarten anstimmen,
um schließlich
im Halbdunkel des Waldes,
im seichten, seidigen Wasser des Weihers,
im Grün der Blätter
auftauchen, abtauchen
und schließlich sich
in verschiedenen Tonarten verstecken.

Gebannt bleibe ich stehen und lausche dem Konzert der Natur. Es ist sonst still um mich herum, und ich nehme den Geruch nach Moos und Erde im feuchten Wald wahr. Dieser Weg ist etwas für die Sinne, die man hier im Laufe der Tage durch das Alleinsein schult und wieder lernt, wahrzunehmen. Unglaublich, welche Details dem Sehenden bewusst werden, wenn man mit Zeit und geöffneten Augen das Land durchstreift!

Immer wieder durchquere ich kleine Ortschaften, bewundere aufs Neue die schönen, alten Steinhäuser, überquere eine Steinbrücke in bizarrer Form, die mit drei Torbögen einen kleinen Fluss überquert und neben einer kleinen Treppe einen ohne Schema gepflasterten Überweg aufweist.

Hinter jeder Kurve finde ich etwas Neues. Zwar ist die Natur hier nicht mehr so imposant wie im Gebirge, aber immer noch schön und verwunschen. Das, was mich zunehmend stört, sind die Pilgergruppen, die immer mehr die Natur erobern. Und ich bemühe mich stets, alle vorbeizulassen, damit ich dann in Ruhe laufen kann, was durchaus möglich ist. Seit Sarria gibt es Kilometersteinpoller, auf denen das Muschelsymbol zu sehen ist und der Kilometerhinweis bis Santiago de Compostela. Kurz vor Melide, meinem heutigen Ziel, sind es noch 58 Kilometer, und ich komme meinem nächsten Übernachtungsort langsam, aber sicher immer näher.

Direkt vor Melide durchquere ich noch einmal ein Steinhausdorf, welches idyllisch am Fuße eines Berges liegt, sodass ich wieder Motive zum Fotografieren finde. In einer Kurve hat jemand eine Garage zu einem kleinen Lokal ausgebaut, sodass es mich einlädt, dort unter der Überdachung eine Pause zu machen. Ich bestelle ein Getränk und pan, also Brot, was man hier auch einzeln, trocken, bekommen kann. Es gibt spanische Musik dazu und viele andere Pilger, sodass ich diese Pause genieße. In der gegenüber liegenden, kleinen Kirche erhalte ich meinen heutigen Stempel für den Pilgerpass, sodass ich gestärkt und zufrieden weiterlaufen kann.

Der Weg nach Melide hinein ist wieder einmal endlos, weil es gilt, die Gewerbegebietszone zu durchqueren. Als ich dann endlich um 12.30 Uhr Melide betrete, ist weit und breit kein hostal zu finden. Also frage ich mich wieder durch.

In der Hauptstraße bietet man mir ein Zimmer mit Bad für 17,50 € an. Ich entscheide: zu teuer und bin entschlossen, etwas Preisgünstigeres zu finden. Zwar kostet es mich eine halbe Stunde suchen und fragen, doch schließlich beziehe ich dann für 12,50 € ein wundervolles, schön möbliertes, geräumiges Zimmer mit Bad in einer ruhigen Seitenstraße. Also habe ich das Geld zum Essen oder Kaffeetrinken schon wieder herausgespart. Inzwischen macht es mir Spaß, um preisgünstige Zimmer zu feilschen, und meist habe ich Erfolg damit, nicht das erstbeste Angebot anzunehmen. Pause ist angesagt. Ich strecke mich wohlig im Bett aus und schlafe erst einmal.

Danach steht wieder Sightseeing auf dem Programm, und ich sehe mir die Kirche und das Stadtzentrum an. Es ist ein netter und sogar recht großer Ort, der aber um 15.30 Uhr noch immer langweilig ist, weil alle Geschäfte geschlossen sind. Die meisten Läden haben von 9.00 bis 13.00 Uhr geöffnet, machen dann bis 17.00 Mittagspause und öffnen wieder von 17.00 bis 21.00 Uhr. Der Lebensrhythmus ist hier also durchaus ein anderer als in Deutschland, und ich habe mich noch immer nicht so recht daran gewöhnt. Also sitze ich wieder einmal im Café, stärke mich mit einem café con leche und einem Stück Kuchen und warte, bis die kleine Stadt zum Leben erwacht. Ab 16.30 Uhr kommt wieder Betrieb in die Straßen; das Café, in dem ich vordem allein saß, füllt sich, und die Einwohner sind auf dem Weg zum Einkaufen.

Nach einem kurzen Einkaufsbummel durch die Läden der Stadt erstehe ich einen kleinen Silbermuschelanhänger als Andenken und sitze dann noch im Abendrestaurant beim Pilgermenü in der Sonne. Auch jetzt treffe ich wieder Bekannte aus den Vortagen, sodass es für einen kleinen Erfahrungsaustausch reicht. Jedoch wird es heute schon früh kalt, sodass ich zeitig auf mein Zimmer gehe und dort die Ruhe genieße.

Wenn nicht jetzt, wann dann?
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