25. Tag:

Rúa — Santiago de Compostela (18 km und mehr), 29. Juni

Was für ein Tag! Heute Morgen scheint die Sonne, und es ist relativ warm, als ich nach einem guten Frühstück in Gesellschaft meiner dänischen Pilgerbekannten gegen 8.00 Uhr aufbreche.

Liz und ich hatten uns entschieden, zwar zusammen zu frühstücken, aber getrennt zu laufen. Nach wenigen Metern stehe ich an einer Kreuzung, ebenso wie eine andere Pilgerin, und wir beide wissen nicht weiter, weil wir keinen Hinweis auf unseren Weg finden. Schließlich klärt sich das Problem, denn wir finden heraus, dass das hohe Gras am Wegesrand unseren gelben Pfeil einfach zugedeckt hat. Im Gespräch stellt sich die andere Frau meines Alters als Kanadierin vor, wir reden englisch und begleiten uns ein Stück des Weges.

Zuerst geht es wieder durch meinen »Märchenwald«, den ich von den Tagen zuvor schon kenne: Eichen, dicht gepflanzt, sodass sie ein Blätterdach über dem Weg ergeben. Daneben wachsen immer wieder Eukalyptusbäume in hoher Form und großer Anzahl. Dazwischen wuchert auf den Erdwällen neben meinem Weg überall mannshoher Farn, sodass eine dschungelartige Wildnis entstanden ist.

Der Weg schlängelt sich dann — tiefer gelegt, links und rechts jeweils eine bewachsene Böschung von zwei Metern Höhe — durch das Waldgebiet hindurch, sodass ich mich wie auf einer Expedition fühle. Es geht immer wieder mit kräftiger Steigung bergauf, sodass ich mich von der kanadischen Pilgerin trenne, da ich gewohnt bin, in einem schnelleren Tempo zu laufen. So ist es eben am camino, jeder muss seinen individuellen Weg gehen.

Heute überholen mich viele Radfahrer, aber es sind nicht so viele Pilger unterwegs wie gestern. Wahrscheinlich sind die alle schon früh morgens losgelaufen oder gestern gleich bis Santiago weitergelaufen. Mir ist es recht, denn so kann ich in Ruhe laufen, meinen Gedanken nachhängen und diese schöne, nach Eukalyptus duftende Luft genießen.

Nach eineinhalb Stunden verändert sich die Landschaft, und ich durchquere Ortschaften mit typischen alten Steinhäusern mit Schieferdächern, gehe an Wiesen mit Kühen und Maisfeldern vorbei. Ab und an sehe ich auch Bäume mit Aprikosen und Pfirsichen, Walnuss- und Feigenbäume. Auch gibt es immer wieder große Heckenflächen mit Brombeerbüschen, die zurzeit in voller Blüte stehen. Jetzt ist mein Weg über einen langen Zeitraum hinweg eben, mit flacher, gerader Grundfläche, sodass ich gut vorankomme.

Inzwischen ist es richtig heiß geworden, die Sonne scheint aus strahlend blauem Himmel, und ich ziehe meine Fleecejacke aus und laufe im ausgeschnittenen Top weiter. So macht es mir richtig Spaß, und ich genieße das schöne Wetter. Gegen 11.00 Uhr lege ich in einer Herberge einen Halt ein und stärke mich mit Eis und café con leche. Inzwischen ist es nicht mehr notwendig, ständig Proviant mitzunehmen, da man überall, zumindest alle ein bis zwei Stunden, etwas kaufen kann.

Immer noch stehen am Wegesrand weiße Margeriten, gemischt mit rotem Mohn und blauen Glockenblumen. Dazwischen gesellt sich ab und zu ein violetter Fingerhut oder eine gelbe Königskerze. Ich möchte den Anblick dieser wundervollen, farbenfrohen Blumen speichern, denn ich weiß, dass ich heute in der Stadt ankommen werde.

Inzwischen laufe ich mal wieder auf der Teerstraße und über einen langen Zeitraum bergauf, was mir gar keinen Spaß macht. Und es dauert nicht lange, da sehe ich erste Anzeichen von Santiago in Form des Flughafengeländes, das ich auf meinem Weg direkt streife. Über mir starten und landen Flugzeuge, und ich denke daran, dass ich in einer knappen Woche auch wieder in solch einem Flugzeug auf dem Weg nach Hause sitzen werde. Doch noch ist es Zeit, nach vorne zu schauen. Das ist auch notwendig, da der Weg nach einer Buschphase und zwei Straßenunterführungen nun wieder asphaltiert steil nach oben führt. Ich steige also den Monte do Gozo hinauf, auf dem sich nicht nur das internationale Pilgerdenkmal, sondern auch die Herberge mit achthundert Plätzen für die kostenfreie Unterbringung der Pilger für eine Nacht befindet.

Hier wimmelt es von Pilgern aller Nationalitäten, alle machen Fotos und ich natürlich auch. Während einer kurzen Rast erfrische ich mich mit einem Getränk und einem Apfel, hole mir in der Kapelle noch einen Pilgerstempel und habe dann wieder Kraft zum Weiterlaufen.

Inzwischen ist es richtig heiß, sodass ich Cappy, Sonnenbrille und die Seltersflasche ständig benötige. Und nun dauert es nicht mehr lange, ich überquere eine ziemlich marode Holzbrücke und stehe unvermittelt vor dem Ortsschild: SANTIAGO, dem Ziel meiner Träume, Endstation Sehnsucht! Ich fühle mich ergriffen, gerührt, glücklich, als ich für mich triumphierend Einzug in diese Stadt halte. Zudem bin ich dankbar, dass ich mir auf meinem Weg keinerlei Blessuren zugezogen habe. Einige Pilger habe ich unterwegs getroffen, die irgendwann gestürzt sind und sich so sehr verletzt haben, dass sie Wunden hatten, die genäht werden mussten. Andere haben sich auf ihrem Weg Blutergüsse oder sogar Knochenbrüche zugezogen, weil sie sich beim Stolpern verletzt haben oder sogar gefallen sind.

So laufe ich nun durch die Stadt, immer dem Pilgerzeichen nach, Richtung zone monumentale und entsprechend Richtung Kathedrale. Doch dieser Weg scheint kein Ende nehmen zu wollen, denn ich bin nach einer guten halben Stunde erst in der Altstadt, wo ich hin will.

Inzwischen ist es 14.00 Uhr, die Sonne brennt vom Himmel, ich bin müde und hungrig, aber noch ist kein Quartier in Sicht. So starte ich meine Bemühungen und frage in hostals mit einem Stern nach. Erster Versuch: 20,00 €, aber beim genaueren Hinsehen völlig indiskutabel, weil es nicht ganz sauber, düster im Zimmer und unheimlich im Treppenhaus ist. Jedoch habe ich beim zweiten Versuch Glück. Ich bekomme ein schönes, helles Zimmer im 3. Stock mit Glasveranda für sage und schreibe 19,00 €, welches zudem völlig zentral in der Altstadt liegt, fünf Minuten von der Kathedrale entfernt, und das alles, obwohl ich nicht vorgebucht hatte. Was für ein Glücks griff, denn meine dänische Pilgerfreundin hatte mir erzählt, dass sie ein Einzelzimmer für 60,00 € vorgebucht hat. Fasziniert von meinem Glück, beziehe ich also nun das Zimmer, welches in den letzten Tagen hier in Spanien mein Zuhause werden soll. Es ist einfach eingerichtet, hat ein Bett, einen Schrank, einen Schreibtisch und einen Stuhl. Zusätzlich gibt es einen kleinen Wintergarten mit einem Stuhl, sodass ich auf die Straße in der Altstadt sehen kann. Das Badezimmer befindet sich direkt nebenan, und damit kann ich gut leben. Es lohnt sich dieses Mal, den Rucksack völlig auszupacken. Für mich ist es ungewohnt, dass ich am nächsten Morgen nicht gleich wieder einpacken muss.

Zunächst brauche ich aber eine Ruhephase, lege mich aufs Bett und schlafe zufrieden ein. Die Quartierfrage hier im vollen Santiago habe ich schon ein wenig als Stress empfunden, da ich befürchtet hatte, horrende Summen für mein Quartier zahlen zu müssen.

Frisch geduscht und zurechtgemacht, gehe ich anschließend los, um meine neue Umgebung zu erkunden. Es gibt so viele riesige alte Bauten und natürlich die Kathedrale zu betrachten, dass ich völlig überfordert bin. Auf jeden Fall beschließe ich, dass Fotos erst morgen gemacht werden, denn ich wüsste heute auf Anhieb gar nicht, wo ich damit anfangen sollte. Dieses alles ist viel gewaltiger, als ich es mir in meinen kühnsten Träumen vorgestellt hatte.

Ich entscheide, zuerst ins Pilgerbüro zu gehen, um mir dort meinen Stempel für den Pilgerpass und die Compostela, die Pilgerurkunde in lateinischer Sprache, abzuholen. Das Büro finde ich erst, nachdem ich mich bereits zweimal verlaufen habe, gehe dann in den ersten Stock und muss warten. Mindestens zwanzig Pilger hatten vor mir schon den gleichen Gedanken, und es dauert fast eine halbe Stunde, bis ich dran bin, obwohl vier Mitarbeiter des Pilgerbüros pausenlos tätig sind. Mein Name wird auf dieser vorgedruckten Urkunde eingetragen, jedoch wird der Vorname lateinisch verändert. Dann kommen der Stempel und das Datum dazu, und schon ist sie fertig, meine Compostela, für die ich für den besseren Transport auch noch eine kleine Papprolle mitbekomme. Dazu kaufe ich noch einige Postkarten, fülle meinen Schein mit den persönlichen Angaben (Name, Alter, Land, Stadt, Start des Pilgerweges) aus und trage in das offen liegende Pilgerbuch noch einige Sätze ein. Damit ist alles abgeschlossen, und ich habe — wie ein ordentlicher Pilger — meine Unterlagen fertig. Die Mitpilger um mich herum sehen alle gespannt und dann froh aus, so wie es mir heute auch ergeht. Ich freue mich so sehr, dass ich mein für mich geplantes Ziel erreicht habe.

Danach sitze ich auf dem Vorplatz der Kathedrale in einer Mauernische, und da spricht mich Liz, meine dänische Pilgerfreundin an, die mich dort entdeckt hat. Wir gehen gemeinsam zur Touristinformation und holen uns dort noch einen schönen Stempel mit dem Motiv der Kathedrale für unseren Pilgerpass.

Anschließend sitzen wir im Straßencafé in der Sonne, genießen café con leche und Rotwein und freuen uns unseres Lebens. Wir reden wieder sehr intensiv miteinander; sie erzählt von ihrer Tätigkeit in der Bücherei in Kopenhagen und spricht über lesefaule Menschen und die Bedeutung von Büchern für die Bildung.

Wir kommen auf Englisch ins Fachsimpeln, und ich bin so vertieft und interessiert in unser Gespräch, dass ich bald schon gar nicht mehr merke, dass ich englisch spreche.

Ein wenig muss ich nachher noch einkaufen, Obst und Mineralwasser, dann esse ich ein Baguette, sitze später auf dem Vorplatz zur Kathedrale in der Sonne und muss bald sehen, dass ich mein Bett finde, weil ich müde bin. Das gestaltet sich jedoch gar nicht so einfach, denn ich konnte mir zwar den Namen meiner Pension merken, nicht aber die Straße. Auch habe ich mich wieder einmal überschätzt und bin ohne Stadtplan losgezogen. Ich muss also fragen, mehrfach, denn viele kennen sich hier auch nicht so genau aus. Schließlich hilft mir eine freundliche Spanierin weiter, indem sie mich durch mindestens drei Straßenzüge begleitet und direkt vor meiner Pension abgibt. Wie gut, dass es hilfsbereite Menschen gibt, denke ich, als ich völlig erleichtert und müde die drei Treppen bis zu meinem Zimmer hinaufsteige!

Wenn nicht jetzt, wann dann?
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