16. Tag:

Ponferrada — Villafranca Del Bierzo (23,3 km), 20. Juni

Am frühen Morgen, als ich mein Quartier verlasse, ist es draußen wieder kalt und regnerisch, fast ein Wetter wie zu Hause. Meine Wanderschuhe sind immer noch nicht ganz trocken, obwohl ich die Sohlen herausgenommen und zum Trocknen hingelegt hatte. Demnach ist es unumgänglich, dass ich in den nassen Schuhen laufe, es geht nicht anders.

Um aus Ponferrada herauszukommen, muss ich circa eine halbe Stunde laufen und dreimal fragen, denn der Weg ist hier nicht gut ausgeschildert. Das ist auch das Bemerkenswerte an den Kilometerangaben, dass diese alle vom Ortsausgang des einen bis zum Ortseingang des nächsten Ortes berechnet sind; die vielen Kilometer in den Städten, die ich brauche, um eine Unterkunft zu finden oder aus dem Ort wieder herauszukommen, sind nie einberechnet. Allgemein gilt: Je größer der Ort, desto weiter der Weg. So laufe ich stets mindestens fünf Kilometer mehr als angegeben, ganz zu schweigen von den Besichtigungstouren, die ich am Nachmittag vorhabe.

Mein Weg heute führt mich erst einmal ziemlich eben an der Straße entlang, keine besondere Aussicht, keine besondere Natur. Schließlich erreiche ich nach circa zwei Stunden, gegen 9.00 Uhr, Camponaraya, wo ich Rast mache, um zu frühstücken. Café con leche, getoastetes Baguette, Butter und Marmelade für 1,80 €, das ist absolut in Ordnung.

Danach verlässt mein Weg wieder die Straße und verläuft zwischen den Weinbergen, bis ich durch Cacabelos komme. Welch ein niedlicher Ort! Ich überquere eine interessante schräge Brücke aus Natursteinen und laufe durch die Straßen, die vorwiegend von alten Häusern mit Holzbalkonen gesäumt sind. Das Außergewöhnliche ist, dass die Balkone häufig so tief sitzen, dass man nicht darunter hindurchgehen kann. Die Leute waren früher eben doch viel kleiner, als sie es heute sind.

Mit meinem geistigen Auge kann ich mir vorstellen, wie sich vor Hunderten von Jahren das Leben in diesen kleinen Orten abgespielt haben könnte. Ich denke an kleine Menschen, ärmlich gekleidet, die unter diesen Holzbalkonen auf einer Bank in der Abendsonne sitzen, stets im Kreise ihrer Familie, umgeben von ihren Kindern. Auch heute noch sind diese Holzbalkone wunderschön, liebevoll geschnitzt, aus dunklem Holz, mit Blumenkästen mit roten Geranien verziert, sodass sie einen anheimelnden Eindruck hinterlassen.

Beim Weitergehen sehe ich immer wieder Natursteinhäuser mit kunstvoll verzierten, geschnitzten Holztüren und gemütlichen, begrünten Innenhöfen mit Sitzbänken. Dieser kleine Ort hat Flair und gefällt mir sehr.

Am Ortsende geht es leider wieder bergauf. Das Laufen bereitet mir heute Probleme, weil ich Muskelkater in den Waden habe, offensichtlich noch immer vom Abstieg von vorgestern. Wenn ich in Bewegung bin, wird es jedoch besser. Es geht weiter auf und ab durch die Weinberge, stets mit Blick auf die wolkenverhangenen Berge. Der Himmel sieht nach wie vor nicht freundlich aus und verspricht nichts Gutes. Schließlich passiere ich immer wieder Gemüsefelder und Obstbäume, Süßkirschen, gelblich-rosa-rot, an unendlich vielen Bäumen. Immer wieder angele ich mir die süßen Früchte, die noch restweise in Pilgerhöhe hängen, bis spanische Pilger vorbeikommen und mir klar machen, dass ich das lieber, ohne die Kirschen zu waschen, lassen sollte. Hier in Spanien wird alles gespritzt, auch die Früchte, was zu Magenproblemen führen kann. Ich hoffe sehr, dass die Regenduschen der letzten Tage die Kirschen ausreichend gereinigt haben.

In diesem Zusammenhang fällt mir auf, dass ich in den letzten Tagen immer wieder, vor allem in den Weinbergen, Traktoren mit Gifttanks, die ihre Fracht per Propeller und Schlauch verteilen, gesehen habe. Welch eine verrückte Welt, in der selbst der Wein und die Kirschen Schadstoff belastet sind! Danach legt sich meine Freude über die schönen Kirschen rasch, zumal es wieder einmal anfängt zu regnen. So allmählich stört mich das Wetter richtig, denn da hätte ich auch in Deutschland wandern können, zumal dort zurzeit schöneres Wetter als hier in Spanien ist. Ich ziehe mir wieder die volle Ausrüstung an und packe meinen Rucksack gut ein.

Der Weg gestaltet sich endlos, im Regen Weinberge rauf und runter, dazwischen eingepackte Pilger mit gesenkten Köpfen zuhauf. Ist das vielleicht die Ehrfurcht vor dem Herrn, die so den Pilgern abverlangt wird? Bei diesen vielen Menschen, die alle mit gesenkten Köpfen zu Fuß unterwegs sind, mache ich mir darüber so meine Gedanken. Ist das ein Mittel, uns alle »klein« zu kriegen, ohnmächtig dem Wetter ausgesetzt, stets den Blick auf riesige, alte Kirchen in Demut und Bewunderung?

Mir macht das Ganze so, bei diesem ekligen Wetter, nun wirklich keinen Spaß mehr.

Kurz vor Villafranca Del Bierzo — es ist inzwischen 13.30 Uhr und ich bin seit gut sechs Stunden unterwegs — brauche ich eine Pause, ganz dringend und ganz lange. Alles ist nass, und ich setze mich auf einen Stein, um auszuruhen. Um ein Baguette fertig zu machen, ist es zu nass, also gibt es gesalzene Erdnüsse aus der Tüte, eine Überbrückungshilfe. Ich habe mir angewöhnt, immer kurz vor dem Eintreffen in den Ortschaften eine ausreichend lange Pause zu machen, um auf diese Art die Quartiersuche besser hinzubekommen, damit ich noch etwas Kraft habe.

Kurz vor meinem Ziel geht es wieder einmal bergauf, endlos erscheinend. Auch wenn es inzwischen aufgehört hat zu regnen, fühle ich mich sehr angestrengt. Meine Gedanken schweifen zu den Kriegszeiten, als viele Soldaten und Flüchtlinge endlos lange Strecken laufen mussten, in Kälte und ohne ausreichende Verpflegung. Vielleicht fange ich allmählich an, zu verstehen, was diese Menschen geleistet und erlitten haben.

In Villafranca Del Bierzo angekommen, erreiche ich wieder einmal zuerst die Pilgerherberge. Es begrüßt mich ein deutsch sprechender Herbergsvater aus Osnabrück. Ich frage nach den Schlafmöglichkeiten. Schlafsäle mit 38 Betten, nein danke, ich suche mir selbst etwas. Ich erhalte meinen Pilgerstempel und verlasse diese Herberge mit einem in meinen Augen unfreundlichen Klima. Im Zentrum des Ortes trinke ich etwas und mache mich dann auf die Suche nach einem hostal, muss wieder mehrfach fragen, um dann nach circa einer halben Stunde Fußweg eine schöne Unterkunft, für aber immerhin 22,50 €, zu finden. Mir ist heute alles egal, auch der Preis, ich bin k. o. und brauche Pause. Einziehen, mich ausziehen, duschen, im Bett essen und eine gute Stunde schlafen — das ist es, was ich jetzt brauche.

Als ich um 17.30 Uhr wach werde, möchte ich fast liegen bleiben, doch die Neugierde siegt wieder einmal. Ich stehe auf, und als ich aus dem Fenster sehe, stelle ich fest, dass ich von meinem Zimmer aus einen herrlichen Blick auf einen großen Fluss habe. Schön!

Beim Hinausgehen aus meiner Pension treffe ich das deutsche Pärchen, das dort auch wohnt, wieder. Sie erzählen mir, dass sie ebenso wie ich Pensionen bevorzugen, nachdem sie gleich am Anfang ihrer Reise nach den ersten Übernachtungen in den Herbergen morgens mit heftigen Hautausschlägen aufgewacht waren. Für sie war das Grund genug, künftig stets eine Privatunterkunft auszusuchen. Diese Aussage bestätigt mich in meinem Entschluss, immer individuelle Quartiere zu beziehen, denn auf solch unliebsame Begleiterscheinungen während meiner Reise habe ich nun auch absolut keine Lust.

Ich mache mich auf den Weg in den Ort und sehe mir zwei wundervolle Kirchen, ein Schloss aus dem 12. Jahrhundert und die alte, entzückende Innenstadt an. Es ist eine Augenweide, diese Natursteingebäude in solch immenser Höhe und Perfektion zu betrachten. In der Touristinformation erhalte ich dann schließlich Planungshilfe für den nächsten Tag.

Das nächste Etappenziel beinhaltet wieder einen steilen Anstieg im Gebirge, und ich habe mich entschlossen, diese Etappe mit dem Bus zu fahren. Im Touristenbüro erfahre ich nun, dass der Bus morgen zweimal — morgens und nachmittags — in Richtung Pedrafita fährt, aber keine feste Haltestelle hat. Ich soll den Bus an der Umgebungsstraße anhalten, und dieser wird mich dann mitnehmen. Na, auf diese abenteuerlustige Busfahrt bin ich gespannt! Wenn das alles nicht klappt, muss ich wohl doch laufen. Heute Abend bin ich wieder mal nur eines: müde und brauche eine frühe Nachtruhe.

Wenn nicht jetzt, wann dann?
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