13. Tag:

Astorga — Rabanal del Camino (19,5 km), 17. Juni

Als mein Wecker am Morgen um 6.00 Uhr klingelt, fühle ich mich fit und unternehmungslustig. Das Wetter ist zwar nicht überragend, aber es ist weitgehend trocken, als ich gegen 7.00 Uhr aus Astorga loslaufe. Auf meinem Weg kann ich noch einen letzten liebevollen Blick auf die Kathedrale und das Pilgermuseum, »Schloss Canterbury«, wie ich es genannt habe, werfen. Dieses Museum sieht einfach so aus, als würden dort, wie in den mir bekannten Gruselfilmen, Vampire um die Türme des Gebäudes herumfliegen.

Der Weg führt erst einmal an der Straße entlang und dann abseits auf einer weitgehend ebenen Strecke. Am Rande des Weges sehe ich über lange Zeit riesige Ansammlungen von gelb blühenden Ginsterbüschen, viele Blumen in verschiedensten Formen, in allen Violetttönen blühend, Wicken, Fingerhut, Rittersporn in großer Vielzahl. Wieder bin ich fasziniert und kann mich nicht satt sehen an dieser Pracht, die die Natur so reichlich ausbreitet. Mir geht es gut heute, meine Füße laufen von alleine, und mein Rucksack gehört so sehr zu mir, dass ich ihn vergesse.

Nach circa einer Stunde erreiche ich eine Herberge, in der, wie ich dem Schild entnehme, Kaffee zu bekommen ist. Dort kehre ich ein und werde von einem jungen Mann freundlichst begrüßt. Ich bestelle café con leche, hole meine Brötchen, Wurst, Käse und Kirschen von gestern heraus und beginne ein köstliches Frühstück. Für einen Euro kann ich mir noch einen zweiten Kaffee leisten, und ich genieße diese Zeit. Um mich herum kehren weitere Pilger zum Frühstücken ein; andere, die hier übernachtet haben, machen sich fertig für ihren Weg. Ich sitze im Innenhof dieser Herberge, die herrlich gemütlich und begrünt ist. Zum Abschied schenke ich meinem Kaffeekocher ein paar Kirschen, er freut sich und verabschiedet mich mit: »Buen camino!« Nun bin ich frisch gestärkt, bei so viel Frühstück passt mein Rucksackgurt fast nicht mehr, und ich laufe weiter.

Heute ist die Strecke einfach — wenige Anhöhen, wenige Steine. Immer wieder ergeben sich Panoramaausblicke zu 270 Grad, bei denen ich nicht fassen kann, wie schön die Welt ist.

Wälder, Wiesen, Berge und immer wieder Buschgruppen, darüber ein Himmel wie in Schleswig-Holstein. Dicke, weiße Wolkenklumpen, manchmal bis schwarz-grau gefärbt, und dazwischen scheint die Sonne aus azurblauem Himmel. Der kräftige Wind peitscht die Wolken, lässt Büsche und Bäume rauschen und sich biegen. Meine Haare flattern im Wind, ich schwitze in der Sonne und komme gut voran. Heute brauche ich weniger Pausen, fühle mich gut und laufe mühelos. Auf diesem Stück des Weges sind viele unterwegs — vor mir, nach mir — einsam kann es hier kaum werden.

Beim Überholen spreche ich mit vielen kurz, und ich treffe die Dame aus Bayern wieder, mit der ich vor wenigen Tagen in León zusammen auf den Bus gewartet hatte. Die Pilger duzen sich, sind eine Familie und haben immer Gesprächsthemen miteinander. Ich treffe hier immer wieder Menschen mit »Tiefgang«, mit denen ich mich über viel mehr als nur über das Wetter unterhalten kann. Hier gibt es Menschen, die sich mit dem Sinn ihres Lebens befassen, die versuchen, ihrem Leben eine andere, bessere Richtung zu geben. Hier stellen sich Sinnfragen für die Dinge, mit denen man sich bisher beruflich und auch privat beschäftigt hat.

Vielen Frauen geht es hier ähnlich wie mir, sie sind häufig das erste Mal für eine längere Zeit von zu Hause weg, und immer wieder höre ich von ihnen, dass sie ihre Unabhängigkeit genießen. Es tut einfach gut, wenn man mal nicht nur Rücksicht auf andere nehmen muss und nicht immer dafür sorgen muss, dass es anderen gut geht. Hier und jetzt kann jede dafür sorgen, dass es ihr selbst gut geht, und das genießen alle, mit denen ich darüber gesprochen habe. Immer wieder erlebe ich eine schnelle Vertrautheit, echte Anteilnahme und Herzlichkeit. Hier spielt das Alter keine Rolle, denn alles ist vertreten, und jeder spricht mit jedem, jeder ist unkompliziert im Umgang miteinander.

Ich sehe Störche auf Wiesen, Bussarde über mir in der Luft und schließlich einen wundervollen Regenbogen über den durch tiefgrau-schwarze Wolkenklumpen verhüllten Bergen.

Regenbogen
Unvermittelt
sehe ich dich,
eingebettet in ein Wolkenbett
von grau-schwarzer Farbe.
Schillernd in Grün-Blau-Rot-Gelb
am Horizont
über den Bergen verteilt,
gespeist von der Sonne,
die zögerlich an dir streichelt
und der der Regen
nichts anhaben kann.
Momente,
die in Zeitlupe bestehen bleiben
müssen.

Weiter laufe ich durch grüne Wiesen, die grellgrün, grasgrün, blaugrün schillern; Blumen durchbrechen ihre Farbigkeit und Heckenrosen in Weiß und Rosa umrahmen sie. Mein Weg ist schmal, steinig, von hohem Gras gesäumt, und immer wieder stehe ich auf Anhöhen und sehe die Welt im Panoramaausblick. Die Welt gehört mir, und sie ist nur für mich da; davon bin ich fast schon überzeugt, wenn ich dieses sehe.

Doch die dunkle, dicke, schwarz-graue Wolke begleitet mich weiter und bringt mich schließlich mit dicken Tropfen dazu, meine Regenjacke anzuziehen und meinen Rucksack regensicher zu ummanteln. Trotz des Regens mache ich Pause, sicher und warm in meiner Trekkingkleidung verpackt, die regensicher und atmungsaktiv ist. Die Ausrüstung muss stimmen, das ist mir schon lange klar. Auf dem Weg habe ich schon so viele gesehen, die, wenn sie abends in Sandalen herumlaufen, ihre Füße komplett bepflastert haben, und ich sehe sie humpeln. Ich habe zurzeit die zweite Blase am kleinen Zeh, und ich brauche ein Blasenpflaster, um mein Problem in den Griff zu bekommen. Doch ist das alles zum Glück nicht weiter dramatisch.

Nach kurzer Zeit hört es wieder auf zu regnen, und ich sehe den nächsten Ort, Rabanal del Camino, mit dem charakteristischen Kirchturm. Gegen 14.00 Uhr, also nach sieben Wanderstunden inklusive Pausen, bin ich da.

Die Zimmersuche ist nicht schwierig, ich vergleiche und wähle das günstigste zu 20,00 € aus. Es ist ein schönes, sauberes Zimmer im 1. Stock, mit Natursteinwänden, unverputzt und mit Duschbad. Die Pilgerherberge hätte mich nur 5,00 € gekostet, doch da hätte ich noch dreißig Minuten im Regen warten müssen, bis sie um 14.30 Uhr öffnet. Ich genieße den Luxus, um 14.00 Uhr mein Zimmer zu beziehen, zu duschen, zu essen und erst einmal eine Stunde in völliger Ruhe zu schlafen. Danach erkunde ich den kleinen, niedlichen Ort, kaufe für den nächsten Tag ein und bin rundherum zufrieden.

Am Abend gehe ich in die Pilgerherberge und entdecke wieder einmal einen lauschigen Innenhof mit Holzbänken und — tischen, mit einer Bar und gemütlichen Sitzgruppen. Ich setze mich an einem länglichen Holztisch dazu und erkenne einen Pilgerbekannten wieder. Während ich auf mein Essen warte, höre ich von meinem Nachbarn, dass er stets einige Zeit arbeitet, um dann wieder so lange unterwegs zu sein, wie sein Geld reicht. Er hat schon die halbe Welt bereist und kann sehr interessant davon erzählen. Wir haben eine netten Abend miteinander, reden und essen zusammen. Als ich mein sehr reichliches und schmackhaftes Essen inklusive Getränk bezahlen soll, bin ich sprachlos, denn die freundliche Dame hinter dem Tresen will nicht einmal fünf Euro von mir haben. Es ist einfach preiswert und gemütlich in den Herbergen, nur möchte ich in den dort vorhandenen Schlafsälen nicht schlafen. Ich brauche meine Rückzugsmöglichkeit, ein wenig Privatsphäre und möglichst eine Dusche für mich allein.

Wenn nicht jetzt, wann dann?
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