7. Tag:

Logroño — Navarrete (12 km), 11. Juni

Morgens, als ich um 6.30 Uhr starte, ist es schon warm. Ich laufe aus der Stadt, die gerade von den schmutzigen Überresten des letzten Abends gereinigt wird, in Richtung Navarrete. Der Weg ist dieses Mal eben, recht gut ausgebaut, doch zum Teil noch nass von den Gewitterschauern der letzten Tage. Der nasse Lehmboden klebt an meinen Schuhen, und ich muss aufpassen, dass ich nicht ausrutsche.

Am Wegesrand blühen wieder die von mir so bewunderten Feld- und Wiesenblumen, und ich kann mich nicht satt sehen daran. Ich blicke über weite Täler, leicht hügelige Weinberge mit roter Erde, auf denen die Weinpflanzen wie Zinnsoldaten stehen. Am Stausee vorbei, Naturschutzgebiet als Biotop, sehe ich einen Otter zweimal unter den Büschen vorbeihuschen. Was für eine einzigartige Natur!

Immer wieder mache ich kleine Pausen, um vor allem zu trinken und meinen Rucksack abzusetzen, rede fast immer mit vorbeilaufenden Pilgern aus aller Welt. Einige kenne ich schon, zumindest vom Sehen, und so fällt die Begrüßung etwas herzlicher aus. Mein Rücken ist vom Rucksacktragen immer nass geschwitzt, und ich versuche bei jeder Pause, in der Sonne sitzend, etwas zu trocknen.

Die Zeit vergeht, bei fast ebener Strecke, die ich mühelos mit meinen Walking-Stöcken bewältige. Mein Rucksack und ich, wir passen inzwischen zusammen, seit er leichter geworden ist und ich den Tipp eines anderen Pilgers beherzige und den Rucksack so aufsetze, dass der Gurt eng in der Taille zusammengezogen wird, sodass meine Hüftknochen das Gewicht des Rucksackes tragen. Es muss eben alles gelernt werden!

Im Laufe des Tages stelle ich fest, dass ich mehrere Stellen an meinem Körper habe, die jucken. Bei genauerem Hinsehen erkenne ich kleine rote Pünktchen, die inzwischen durch das Kratzen mit roter Haut unterlegt sind. Sollten das etwa Flohstiche sein? Es sieht ganz so aus, dass ich in meiner letzten Unterkunft Flöhe in meinem Bett hatte. Eine ziemlich eklige Vorstellung, jedoch kann ich nun nichts mehr daran ändern. Ich kann nur hoffen, dass die Folgen davon möglichst schnell wieder verschwinden.

Gegen 11.00 Uhr komme ich unversehens an eine Holzhütte, in der etwas verkauft wird. Bei näherem Hinsehen bemerke ich, dass es hier einen Pilgerstempel gibt und dass Kekse, Äpfel und Kirschen an Pilger verschenkt werden. Welch ein Luxus, denn es gibt auch wieder einen Brunnen, sodass ich alles bekomme, was ich brauche. Ich mache Pause und fühle mich beschenkt und verwöhnt — ein schönes Gefühl! Der dafür zuständige Mann mit dichtem, weißem Vollbart spricht mich an, wobei die Verständigung so leidlich funktioniert.

Auch andere Pilger machen hier Rast, sodass sich einige Gespräche entwickeln. Schließlich schenkt mir mein Gönner noch eine kleine Kalebasse — einen kleinen Zierkürbis als Symbol für Wasser und Wein, handsigniert mit Ort und Datum — und ich verabschiede mich gerührt. Mit: »Buen camino!«, küsst mich dieser freundliche Mann auf beide Wangen, und nachdem ich noch ein Foto gemacht habe, laufe ich weiter.

Von weitem sehe ich bald Navarrete auf der Anhöhe vor mir liegen, doch der Weg bergauf zu diesem kleinen Ort zieht sich endlos in die Länge. Die Sonne scheint, es ist heiß, und ich habe keine Lust und keine Kraft mehr.

In Navarrete angekommen, suche ich Quartier. Erste Pension: 19,00 €, zweiter Versuch: 20,00 €; alles erscheint mir zu teuer. Noch immer kann ich mich nicht entschließen, in die Pilgerherberge zu gehen, es reicht mir, was ich bisher gehört habe: schmutzig, voll, laut, dreistöckige Betten ohne Leiter, Schlafsäle für 38 Personen usw. Vor allem ist mir auch nicht klar, ob ich dann ständig auf meine Sachen achten müsste. Das stelle ich mir extrem anstrengend vor. Also, das alles motiviert mich nicht sehr. Allerdings scheitert mein nächster Versuch, bis Nájera mit dem Bus weiterzufahren, daran, dass der Bus erst in zwei Stunden fährt. Diese Auskunft habe ich, wie man mir riet, vom Apotheker vis-a-vis der Bushaltestelle erhalten.

Es ist heiß, ich bin hungrig und sehr müde, irre in einem hässlichen Ort mit vielen Baustellen herum und weiß nicht weiter. Endlich kommt die Rettung in Form eines etwas ungepflegten spanischen Mannes, den ich nach einem Quartier frage. Dieser Mann ist so freundlich, mich circa fünf Minuten lang zu einem spanischen Quartier zu begleiten, wo ich 13,00 € zahlen soll für ein Zimmer, das angemessen und sauber und in fast gutem Zustand ist, auch wenn die abgebrochene Wandlampe lebensgefährlich ist. Bad und WC befinden sich allerdings auf dem Flur, aber damit kann ich leben. Mir ist alles egal, auch, dass mein Vermieter sofort Ausweis und Geld haben will. Ich beziehe mein Zimmer und möchte nur noch eines: schlafen! Nach gut zwei Stunden werde ich wach, meine Waden schmerzen noch immer, aber ich fühle mich viel besser. Zeit, das Badezimmer auszuprobieren. Mit Duschtuch umwickelt, Badelatschen an den Füßen, mit Duschgel bewaffnet, begebe ich mich drei Türen weiter. Zuerst wird das Wasser nicht warm, und dann ist es so heiß, dass ich meinen eingeschäumten Körper inklusive der Haare nicht abduschen kann, ohne mich zu verbrühen. Endlos fummele ich an der Duscharmatur herum, bis ich schließlich einigermaßen entschäumt in mein Zimmer zurückgehen kann. Doch auf dem Flur ist es dunkel — das Licht ist defekt — und ich finde mein Zimmer nicht mehr. Ich irre herum, endlos, und erst beim dritten Versuch werde ich zum Glück fündig: Der Schlüssel passt. Es ist eben nicht jedermanns Sache, völlig nackt, nur mit einem Badetuch umwickelt, an fremden Zimmertüren herumzuprobieren!

Schließlich mache ich mich fertig und will los zum Einkaufen. Als ich jetzt durch die Straßen laufe, erscheint mir der kleine Ort nur noch halb so hässlich und schmutzig wie heute Mittag. Inzwischen ist es fast 18.00 Uhr, und ich lasse den Tag ruhig ausklingen, sitze auf dem Marktplatz draußen bei Rotwein und Selters im Schein der untergehenden Sonne und wundere mich über die moderaten, viel geringeren Preise der Getränke als in Deutschland. Jetzt geht es mir wieder gut. Was so eine kleine Ruhepause doch ausmacht!

Als die Sonne dann untergegangen ist und es schon schummerig wird, suche ich mir ein Restaurant mit der Möglichkeit, draußen sitzen zu können, um dort zu essen. Ich finde ein solches, bei dem die Sitzplätze von Weinpflanzen umrankt sind, mit einem romantischen Blick auf die angestrahlte, rötlich schimmernde Backsteinkirche des kleinen Ortes. Bei Salat mit Brot und Rotwein genieße ich den lauen Abend in dieser unwirklichen Atmosphäre. Um mich herum duften die Blumen in den Blumenrabatten, die Blätter und Zweige der Weinranken säuseln leicht im Wind, als die ersten Sterne am Himmel aufgehen. Sie tauchen zusammen mit dem Mond, der fast vollständig rund erscheint, Tische, Stühle und Gäste des Restaurants in ein surreales Licht. Von dezenter spanischer Musik ummalt, ergeben sich amüsante und zum Teil auch tief empfundene Gespräche mit den Gästen am Nachbartisch. Dort sitzen zwei Pilgerinnen, die sehr fröhlich von ihrer heutigen Quartiersuche berichten. Offensichtlich haben sie eine Straße gesucht, die es zweifach mit fast gleichem Namen in diesem Ort gibt, sodass sie fast eine Stunde lang von Einheimischen hin- und hergeschickt wurden, bis sie merkten, wo ihr Problem eigentlich herrührte.

Weiterhin schildert ein älterer Herr in der Gesellschaft dieser beiden Frauen seine berufliche Situation in der Schweiz, in der er so belastet gelebt hat, dass er keinen anderen Weg sah, als seinen Beruf aufzugeben. Seitdem nun seine Entscheidung klar ist, geht es ihm viel besser, auch wenn er noch immer nicht so recht weiß, wie er sein Leben nach der Pilgerreise auf dem Jakobsweg weiterführen möchte und kann.

Wir kommen ins Philosophieren über den Sinn des Lebens, über die persönlichen Zielsetzungen, über die Notwendigkeit, auch manchmal persönliche Freiräume und Entspannungszeiten zu beanspruchen. Auch diskutieren wir angeregt über die Rolle der Mitmenschen, der Familie in einem solchen Entscheidungsprozess. Kein Mensch lebt für sich allein, jeder ist eingebettet in ein Beziehungsgeflecht, das einen tragen sollte, es aber leider nicht immer tut. In schwierigen Lebenssituationen ist auch die Toleranzgrenze bei jedem Menschen unterschiedlich hoch. Das, was für den einen unerträglich ist, kann für den anderen noch völlig in Ordnung sein.

In der gemütlichen Atmosphäre dieses Abends vergehen die Stunden schnell. Immer mehr Gäste brechen auf, doch wir können uns noch immer nicht trennen. Die beiden deutschen Pilgerinnen erzählen Geschichten aus ihrem Leben, sprechen über ihre Beweggründe, zum Jakobsweg aufzubrechen. Eine von ihnen hat als allein erziehende Mutter drei Kinder groß gezogen, hat zudem immer gearbeitet und möchte jetzt, da ihre Kinder groß sind, für sich ein neues, anderes Leben beginnen. Sie wünscht sich Zeit für sich, für die Dinge, die ihr Freude machen, möchte endlich einmal unabhängig ihr eigenes Leben bestimmen.

Ich kann das, was diese Frau sagt, so gut verstehen, geht es mir in vielen Aspekten doch ganz ähnlich! Auch mir ist hier zunehmend klar geworden, dass keiner auf Dauer sein Leben nur so führen kann, wie andere es sich wünschen und vorgeben. Jeder hat auch eine Verantwortung für sich selbst und muss vorerst einmal für sich selbst sorgen. Diese Sätze meiner Tischnachbarin berühren mich, ich finde mich in ihnen wieder und fühle mich verstanden, und das tut mir gut.

Wenn nicht jetzt, wann dann?
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