Die letzten Tage

Die letzten Tage zu Hause gleichen einem nicht endenden Albtraum: Tausend Kleinigkeiten sind noch zu regeln, zu klären, abzuarbeiten, sodass der Alltag zunehmend einer Belastungsprobe gleicht. Die Nerven liegen blank, alle sind wegen der zunehmenden Unruhe gereizt, und die letzten Tage vergehen in Zeitlupe. Ich selber bin nervös, da stellt sich schon öfter mal die Frage nach der Sinnhaftigkeit dessen, was man so vorhat.

Anstrengend bis kränkend zeigt sich die Umwelt. Jeder ist besorgt, manche sind verständnislos, manche frustrierend.

»Ich dachte, du wolltest dich bei uns noch verabschieden«, sagt meine Schwester ein wenig bitter unterlegt. Eine liebe Nachbarin kann noch immer nicht fassen, was ich so vorhabe. »Ganz allein willst du los? Das würde mir im Traum nicht einfallen!«, ist ihr Kommentar. »Aber du musst ja wissen, was du machst.«

Viele Freunde zeigen keinerlei Verständnis für mein Vorhaben, aber bedauern die Zurückbleibenden hingebungsvoll. Sie bieten Hilfe an in all ihren möglichen Facetten, sodass ich sehr aufpassen muss, dass mein schlechtes Gewissen nicht überhand nimmt.

Was ist daran verkehrt, wenn ich nach dreißig Jahren Ehe und Kindern wieder ein Stück von meinem eigenen Leben zurück haben möchte? Soll ich zu Hause sitzen, mit Tränen in den Augen, und nur zusehen, wie alle gehen und ich ohne Lebensperspektive zurückbleibe? Ich habe mich entschieden, die aktive Perspektive zu wählen — Stillstand ist Rückschritt — und dazu gehört auch ein gewisses Ausprobieren von »neuen« Situationen. Vielleicht hätte ich das alles mit 18 machen sollen. Doch damals ist dies alles in einer anderen Zeit aus vielfachen Gründen für mich nicht möglich gewesen. In jungen Jahren ist man naturgemäß rücksichtsloser und denkt weniger über die Dinge nach, die man vorhat. Heute gelte ich mit meinen anstrengenden Wünschen als besondere Spezies.

Aber es gibt auch liebe, freundliche Situationen, Freunde, die mir ernsthaft wünschen, dass ich unterwegs das finden möge, was ich suche. Der lieben Menschen gibt es viele, die sich von mir Postkarten, SMS und sonstiges wünschen. Einige wenige bezeugen auch, dass ich Mut habe, eine solche Planung allein anzugehen, zumal die ersten zwei Tage Anreise mich in zwei fremde Städte führen werden, wo ich nicht nur die Unterkunft, sondern auch Verkehrsanbindungen fremdsprachig regeln muss. Jemand fragt mich auch allen Ernstes, ob man etwas verbrochen haben muss, dass man so etwas tun muss.

Die Menschen sind also so unterschiedlich wie ihre Umgehensweise mit meiner Situation. Bei einigen ist ein wenig Bewunderung mit dabei, einige fangen an, darüber nachzudenken, wie sie sich selber in einer solchen Situation fühlen würden. Aber allen ist eines gemein: Sie sind irritiert. Warum eigentlich? Ich will nicht mit eigener Schwerkraft zum Mars fliegen, sondern als verheiratete Frau, Mitte Fünfzig, allein für circa vier Wochen nach Spanien reisen, um dort zu wandern. Dazu hatte auch eine Freundin gefragt, ob ich mir das Gepäck jeweils zum nächsten Ort bringen lasse. Wäre ja schön, wenn man so einen Butler hätte.... Aber davon bin ich sicher weit entfernt. Laufen in unserer Zeit und dazu noch viele hundert Kilometer, das ist schon merkwürdig, wo heute doch jeder, wenn er nur einen Liter Milch holen will, das Auto benötigt. Merkwürdig, merkwürdig, das ist zum Teil die unterschwellige Meinung, die indirekt überall durchklingt, jedoch kaum einmal offen geäußert wird.

Meine Kinder imponieren mir in diesem Zusammenhang unglaublich. Meine Söhne, beide vom Reisefieber gepackt, zeigen das meiste Verständnis. Der Jüngste, fast achtzehn Jahre alt, wünscht mir beim Verabschieden viele schöne Erlebnisse, sodass ich ganz gerührt zusehen muss, dass ich aus seinem Zimmer komme. Mein ältester Sohn, bereits wander- und reiseerprobt, versorgt mich seit Wochen mit guten Tipps, Literaturvorschlägen und Verhaltenshinweisen. Ich merke, dass er Angst um mich hat, und so ist unser letztes Telefonat lang und liebevoll, und ich versichere meinem Sohn, dass ich schon über zwölf Jahre alt bin. In diesem Zusammenhang wird mir seit langem wieder bewusst, wie sehr Eltern ihre Kinder nerven können, doch es geht auch umgekehrt.

Meine Tochter hält sich bedeckt, zwar interessiert, aber zurückhaltend. Ich kann das Gefühl nicht loswerden, dass sie die Veränderungen, die in letzter Zeit bei ihrer Mutter vorgehen, zunehmend unheimlich oder zumindest Besorgnis erregend findet. Dennoch begleitet auch sie mich liebevoll mit Abschiedsbesuch und Wiedersehens-SMS, was mich sehr zufrieden stimmt.

In den letzten beiden Nächten zu Hause schlafe ich unruhig, träume viel und bin dauernd wach, morgens demnach müde und unausgeschlafen. Es wird Zeit, dass das »Warten auf Godot« ein Ende nimmt.

Wenn nicht jetzt, wann dann?
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