8. Tag:

Navarrete — Nájera (14 km), 12. Juni

Inzwischen habe ich von einigen Mitpilgern gehört, dass in schwierigem Gelände eine Wegstrecke von zwei bis drei Kilometern pro Stunde eine gute Leistung bedeutet. Ich habe auch schon gemerkt, dass ich hier niemals das Zeit- Entfernungsverhältnis von zu Hause anwenden kann, denn zu Hause schaffe ich eine 10-km-Walkingstrecke in einer Stunde und 45 Minuten.

Die vierzehn Kilometer heute gestalten sich erwartungsgemäß wieder anders. Seit 6.30 Uhr bin ich unterwegs. Der Weg ist einfach heute, eben, kaum Steigung, doch verläuft er über lange Strecken neben der Schnellstraße und ist daher landschaftlich nicht so schön. Auch ist es warm; schon beim Losgehen laufe ich in kurzer Hose und ausgeschnittenem T-Shirt. Trotzdem brauche ich fast jede Stunde eine Pause: Rucksack absetzen, trinken, kurz hinsetzen und ab und zu etwas essen. In den Pausen sehe ich stets mehrere Pilger und Pilgerinnen an mir vorbeiziehen, die allein oder zu zweit unterwegs sind, viele jung, so um die zwanzig Jahre, aber einige auch in meinem Alter oder älter.

Nach zwei Stunden verändert sich das Landschaftsbild, der Weg führt von der Straße weg durch Weinberge — Weinreben überall, dazwischen stets imposante Ausblicke über das weite Tal, auf die Berge dahinter. Zwischendurch sind Felsgruppen zu sehen, riesige Steine zu großen Haufen gestapelt. Was für eine Landschaft!

Schließlich gibt es wieder übereinander gestapelte Wunschsteine, zu denen ich auch einen lege und mir etwas wünsche. Ich glaube daran und hoffe, dass mein Wunsch in Erfüllung gehen wird. Wenig später erreiche ich einen Zaun, in dessen Maschengeflecht die Pilger lauter Kreuze aus Stöcken gesteckt haben. Ich bin irritiert, gehe weiter und mache nach längerer Wegstrecke das Gleiche. Dieses hier ist ansteckend, ich weiß nicht, warum, es berührt mich, und ich fühle mich ergriffen und verbunden mit all den anderen Pilgern, die diesen Weg schon gegangen sind und noch gehen werden. Nach weiteren dreißig Minuten stehe ich auf einmal an einer weißen Wand, die den Weg säumt, mit folgender Aufschrift in Deutsch und auch Spanisch:

Staub, Schlamm, Sonne und Regen,
das ist der Weg nach Santiago.
Tausende von Pilgern
und mehr als tausend Jahre.
Wer ruft dich, Pilger?
Welch ’ geheime Macht lockt dich an?
Weder ist es der Sternenhimmel
noch sind es die großen Kathedralen,
weder die Tapferkeit Navarras
noch der Rioja-Wein,
nicht die Meeresfrüchte Galiciens
und auch nicht die Felder Kastiliens.
Pilger, wer ruft dich?
Welch’geheime Macht lockt dich an?
Weder sind es die Leute unterwegs
noch sind es die unendlichen Traditionen,
weder Kultur und Geschichte
noch der Hahn Sto. Domingos,
nicht der Palast von Gaudí
und auch nicht das Schloss Ponferradas.
All' dies sehe ich im Vorbeigehen
und dies’ zu sehen ist Genuss.
Doch die Stimme, die mich ruft,
fühle ich viel tiefer in mir.
Die Kraft, die mich vorantreibt,
die Macht, die mich anlockt,
auch ich kann sie mir nicht erklären.
Dies kann allein nur Er dort oben.
(E.G.B.)

Wieder fühle ich mich ergriffen, heute schon das zweite Mal. Mir kommen richtig die Tränen, und ich suche erst einmal nach einem Taschentuch und empfinde eine Verbundenheit mit Tausenden von Pilgern, die vor mir diesen Weg beschritten haben. So entscheide ich, dass ich diese Worte, die ich soeben gelesen habe, notiere.

Sollte der Pilgergedanke doch ansteckend sein? Was macht dieser Weg mit den Menschen, wenn man sich auf ihn einlässt? So ein bisschen wird mir das alles fast unheimlich. Ich bin nun wirklich nicht der religiöseste Mensch und kann mich des Zaubers dieses Weges trotzdem immer weniger entziehen.

Gedankenverloren gehe ich weiter. Ich fühle mich zufrieden, friedlich, entspannt und genieße diesen schönen Tag in freier Natur. Auch dieser Tag bringt mir wieder Neues, er bewegt etwas in mir, was ich noch nicht so recht in Worte fassen kann.

So gegen 12.00 Uhr — ich bin nun schon wieder fünfeinhalb Stunden unterwegs — finde ich ein schattiges Plätzchen unter Büschen, breite meine grüne Fleecedecke aus und lege mich zur Pause hin. Meine Hand liegt auf meiner Tasche, meine Beine strecke ich aus Sicherheitsgründen auf meinem Rucksack aus, und meinen Kopf habe ich auf einem Stein — mit der Decke darüber — abgelegt. Nach ganz kurzer Zeit schlafe ich ein, tief, fest und entspannt, wohl wissend, dass ich hier nicht allein, sondern ständig begleitet von vorbeiziehenden Pilgern bin.

Es ist kalt im Schatten, und so werde ich nach zwanzig Minuten wieder wach. Ich bin nun gestärkt und ausgeruht, packe meine Sachen zusammen und laufe weiter. Unterwegs sehe ich einen Storch im Flug — welch ein majestätisches Bild! Wenig später stehe ich vor einem Baum mit Süßkirschen, dessen Zweige weit über den Garten auf die Straße hängen. Ich bleibe stehen und genieße die süßen Früchte. Solch ein unverhofftes Geschenk!

Inzwischen komme ich durch ein Industriegebiet, immer weiter bis in die Stadt Nájera. Ich laufe wieder einmal Richtung »Touristinformation« in die City. Unterwegs stärke ich mich noch mit einem café con leche — mein Frühstückskaffee um 13.15 Uhr. Als ich nahe der Kirche in der Altstadt nicht nur die Pilgerherberge, sondern auch die Touristinformation finde, sind beide geschlossen; von 13.30 Uhr bis 16.00 Uhr ist Mittagspause. Pech gehabt! Also muss ich mir mein heutiges Quartier wieder selbstständig und ohne hilfreiche Tipps suchen. Ich spreche mehrere Passanten auf Englisch an mit der Frage nach günstigen Privatquartieren, doch die Sprachbarrieren sind zu groß, und keiner kann mir so recht weiterhelfen. Also frage ich in den hostals mit einem oder zwei Sternen nach. 31,00 €, 34,00 €, 25,00 €, das sind keine zufriedenstellenden Antworten, denn das alles sind Preise ohne Frühstück. Ich gehe also zurück, aus der teuren Altstadt heraus, über die Brücke des Najerilla in die Neustadt zurück und finde dort für 22,00 € ein sehr schönes Zimmer mit Bad und sogar Balkon. Glück gehabt! Manchmal lohnt sich eben Beharrlichkeit.

Nach einer ausreichenden Pause mit Dusche, Wäsche usw. laufe ich in die Altstadt zurück, hole mir meinen Pilgerstempel und gehe auf Entdeckungsreise. Am Fluss, auf einer Bank sitzend, treffe ich eine Pilgerin, die mich gleich duzt, wie es unter Pilgern üblich ist. Sie erzählt mir, dass sie aus Rendsburg komme und im letzten Jahr den Jakobsweg komplett gelaufen sei. Für den Fall, dass sie es unversehrt schafft, habe sie damals ein Gelübde abgelegt, dass sie dann etwas Soziales tun wird. Sie hat es geschafft und ist nun — heute, von Logroño kommend, auf dem Weg nach Santo Domingo De La Calzada, wo sie, ihrem Gelübde entsprechend, unentgeltlich für vierzehn Tage Dienst in einer Pilgerherberge tun will. Das ist aber ein Zufall, ich treffe hier jemanden aus Norddeutschland! Diese Frau imponiert mir, sie hat etwa mein Alter und ist so voll von Religiosität. Sie behauptet, dass es Gottes Wille sei, wenn jemand eine Blase am Fuß oder einen verstauchten Knöchel habe, sodass derjenige sein Tempo auf dem Jakobsweg drosseln muss. Diese Aussage macht mich nachdenklich, und beim Weitergehen wäge ich sie in meinen Gedanken ab.

Nájera ist eine hübsche, kleine Stadt, sehr schön am Fluss, dem Rio Najerilla, gelegen, mit herrlichen Grünanlagen und vielen kleinen, interessanten Geschäften in der architektonisch schönen und gepflegten Altstadt. Hier habe ich eine große Auswahl an Läden mit Kleidung und modischem Schnickschnack, jedoch fällt mir auf, dass es kaum einmal Geschäfte mit Antiquitäten oder Zubehör zur Wohnraumgestaltung gibt.

Ich genieße den freien, sonnigen Nachmittag, schlendere durch die Gassen und lasse es mir gut gehen. Ich bin frei und zufrieden und fast ein wenig zu Hause in Spanien, denn mit jedem Tag wird mir dieses schöne Land vertrauter. Beim Cappuccino in der Altstadt sitzend, plane ich für den nächsten Tag. Morgen will ich die nächsten 85 Kilometer bis Burgos mit dem Bus fahren, denn aufgrund der mir vorgegebenen vier Wochen Zeit und der schwierigen Wegstrecken werde ich bei weitem nicht den ganzen Weg laufen können. Also muss ich Kompromisse machen und werde lange oder weniger interessante Wegstrecken mit dem Bus, der von jedem etwas größeren Ort aus fährt, bewältigen. Wichtig ist nur, die letzten hundert Kilometer bis Santiago de Compostela zu laufen, damit ich meine Pilgerurkunde, die Compostela, erhalte.

Abends sitze ich noch lange draußen, betrachte die bisher gemachten Bilder in meiner Digitalkamera und finde sie, die

Kleine Mohnblume
Einsam am Wegesrand,
zaghaft blühend in Rot,
inmitten von Staub und Steinen des Weges,
einsam, allein,
doch aufrecht die Blütenblätter
gen Himmel reckend,
Wurzeln suchend in steinerner Erde
so wie die Pilger,
die tage-, wochen- und manchmal auch monatelang
ihre Wurzeln suchen
am Rande des Weges.

Wenn nicht jetzt, wann dann?
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