20. Tag:

Portomarín — Hospital de la Cruz (12,8 km), 24. Juni

Heute Morgen, schon beim Aufwachen, merke ich, dass es mir schlecht geht, so richtig. Ich fühle mich noch immer hundemüde und zerschlagen, habe Gliederschmerzen und Kopfweh. Mit Mühe rappele ich mich auf und bin um 7.00 Uhr startklar. Draußen ist es wieder ungemütlich, also volle Ausrüstung: lange Hose, Jacke. Es ist neblig und kühl, als ich loslaufe. Nach kurzer Strecke führt mein Weg mich neben der Straße entlang wieder bergauf, und das fast eine Stunde lang. Der Nebel und die Steigung machen mir zu schaffen, heute ist mir der Rucksack wieder zu schwer, und ich bin völlig fertig.

Als die Sonne endlich den Nebel durchbricht, verändert sich der Weg, führt mich nun durch kleine Waldstücke, an Wiesen vorbei; auch gibt es Heidekrautberge und immer wieder blühende Blumen in Lila, Rosa, Gelb, Blau und Weiß. Ein Schauspiel der Natur und ich mache viele Fotos, immer aus verschiedenen Perspektiven. Diese Blumen haben es mir einfach angetan, und ich erfreue mich daran.

Inzwischen sind auch viele andere Pilger erwacht, und ich erlebe heute zum ersten Mal eine richtige Pilgerflut auf den letzten hundert Kilometern nach Santiago de Compostela.

Viele junge Spanier, die besagten Schulklassen des letzten Tages, junge Familien mit sechs- bis achtjährigen Kindern und natürlich die übliche Pilgerschar sind auf dem Weg. Ich fühle mich fast wie am Samstagvormittag auf der Haupteinkaufsstraße in der Stadt. Das hätte ich nicht erwartet, und ich bin nicht froh darüber, dass meine relative Einsamkeit nun vorbei ist.

Es wird warm, und mir geht es noch immer nicht gut, ich fühle mich schwindelig und benommen. Aus diesem Grund entscheide ich, eine längere Pause einzulegen, suche mir einen sonnigen Platz auf einer Wiese, breite meine Decke aus und lege mich lang, den Kopf auf meine Handtasche, die Beine erhöht über den Rucksack gelegt. Auch wenn das Gras noch nass vom Tau ist — mit der Decke geht es, und ich bin froh, dass ich ausruhen kann. Offensichtlich spielt mein Kreislauf verrückt. Ich liege über eine Stunde, trinke viel und genieße die Wärme der Sonne. Als ich wieder aufstehe, fühle ich mich immer noch nicht gut, doch ich will weiter.

Im nächsten Ort frühstücke ich erst einmal ausgiebig, denn inzwischen ist es 10.30 Uhr, und ich hatte noch nichts im Magen. Ich merke das erste Mal auf meiner Tour, dass ich vorsichtiger mit mir umgehen muss. So entscheide ich, dass ich heute früher Schluss mache als geplant, denn mein Etappenziel war ursprünglich Palas de Rei. Doch weil es mir nicht gut geht, stoppe ich gegen 13.00 Uhr in Hospital de la Cruz, sobald ich eine ansprechende Gaststätte mit Vermietung finde. Zwar habe ich heute nur knapp dreizehn Kilometer geschafft, aber die Wege und Tage hier sind nicht planbar. Jede Wegstrecke ist anders und die Tagesverfassung auch. Heute muss ich ausruhen. Ich schlafe fast den ganzen Nachmittag, liege im Bett und höre Musik vom MP3-Player, und es dauert nicht lange, bis es mir deutlich besser geht. Bisher habe ich wenig Musik gehört, manchmal abends, denn beim Laufen finde ich es einfach schön, die absolute Ruhe zu genießen.

In der Gaststätte kann ich gemütlich essen, und die Welt ist wieder in Ordnung. Auch ein Weltenbummler braucht offensichtlich mal Pause und eine Nische, um sich zurückzuziehen.

Beim Essen habe ich heute einen internationalen Stammtisch: Ein Spanier, ein Italiener, ein Franzose, ein Mann aus Israel, eine Frau aus Berlin und ich, wir essen zusammen und reden deutsch, englisch, französisch, spanisch im Wechsel. Trotz der Internationalität gibt es eine flüssige Konversation und eine Atmosphäre zum Wohlfühlen. Interessante Lebenswege tun sich auf. Das was mich beeindruckt hat, ist die Aussage, dass einer vor zwanzig Jahren aus seinem Beruf ausgestiegen ist, seitdem soziale Dinge tut und jedes Jahr, immer wieder, auf Pilgerreise geht. Diese Aussage, dass es keine Sicherheit gibt, für nichts, dass es sich nicht lohnt, deswegen so im Arbeitsprozess zu bleiben, dass es kein lebenswertes Leben mehr gibt, stimmt mich sehr nachdenklich.

Die Frau aus Berlin ist auch allein unterwegs, und sie ist die volle Strecke gelaufen. Sie versichert mir glaubhaft, dass auch sie, obwohl ebenso wie ich allein unterwegs, auf der gesamten Strecke nie eine für sie bedrohliche Situation vorgefunden hat. Als Grund für ihre Reise gibt sie an, dass sie zu sich selbst finden wollte, was für sie aber nur am Anfang der Strecke funktioniert hat, während es auf ihren späteren Wegen so viel Kommunikation mit anderen gab, dass sie selten allein gewesen sei. Auch sie bevorzugt private Unterkünfte, um für sich selbst private Rückzugsräume zu behalten. Hinzu kommt, dass auch in den Herbergen keine Sicherheit für den Rucksack samt Inhalt besteht. So ist es Voraussetzung, stets alles Wichtige bei sich zu tragen. Das gilt übrigens auch für die Zimmer in hostals etc., da es auch dort niemals einen Safe gibt, jedenfalls nicht bei den preiswerteren.

Unsere gemütliche Runde endet abrupt so gegen 20.30 Uhr, denn die meisten Pilger gehen früh schlafen und sind morgens zwischen 6.00 und 7.00 Uhr auf dem Weg. Auch ich gehe früh ins Bett. Ich bin müde, auch wenn es mir insgesamt wieder viel besser geht. In der Nacht werde ich mehrfach wach, weil es sintflutartig regnet. Auch ist mir kalt, und ich hole mir eine zweite Decke dazu. Die Betten hier in Spanien sind ein Thema für sich. Es gibt stets ein schmales, langes Kopfkissen, meist links und rechts offen, was ich aus hygienischen Gründen nicht so sehr schätze. Ich liege immer auf einem frischen Laken, doch auch die Zudecke ist ein Thema für sich, denn sie besteht stets nur aus einem frischen Laken, über das eine Wolldecke gelegt wird. Aus hygienischen Gründen wird dann das Laken oben circa zwanzig Zentimeter umgeschlagen, sodass der schlafende Gast nicht mit der Decke in Berührung kommen soll, was jedoch nicht immer klappt, und so von meiner Warte aus sehr gewöhnungsbedürftig ist.

Wenn nicht jetzt, wann dann?
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