19. Tag:

Sarria — Portomarín (24 km), 23. Juni

So allmählich komme ich der magischen Grenze von hundert Kilometern bis Santiago de Compostela näher, denn es heißt, dass man hundert Kilometer zu Fuß gegangen sein muss, um die Compostela, die Pilgerurkunde, in Santiago zu erhalten. Um den Nachweis zu führen, ist pro Tag ein Pilgerstempel, den man in der Herberge, in den Kirchen, bei der Polizei, in den Gaststätten oder Geschäften bekommt, notwendig. Wer jedoch erst in Kastilien mit seinem Weg begonnen hat, muss pro Tag zweimal abstempeln lassen. Wer mit dem Rad oder Pferd nach Santiago pilgert, muss zweihundert Kilometer vorher den Pilgerstempelnachweis führen. Es ist also eine Wissenschaft für sich.

Für mich beginnt heute der Tag wieder mit dem Start um 6.30 Uhr. Der Himmel ist klar und ich hege die Hoffnung, dass es heute endlich wieder ein schöner Tag wird. Mein Weg führt mich zuerst — wie könnte es anders sein? — aufwärts. Schmal, mit vielen Büschen bewachsen, schlängelt sich der Weg, steinbesät und noch immer durch Matsch und Pfützen beeinträchtigt, durch das Land. Nach einer guten halben Stunde geht dann wirklich die Sonne auf, welch ein Wunder! Schon nach ganz kurzer Zeit spüre ich ihre Wärme, wohltuend nach Tagen des Frierens und der Nässe.

Voller Tatendrang laufe ich und finde immer wieder die typischen Natursteinmauern aus völlig andersartigen Steinen unterschiedlicher Größe und Form, rund, rechteckig, und das alles wurde zu einer stabilen Mauer aufgeschichtet, die mit Moosen, Farnen und Steingartenblumen bewachsen ist. Dazwischen blühen Fingerhüte mit hohen Blütendolden voller lilafarbener Intensität oder gelb blühende Königskerzen, die königlich riesig aus ihrer Umgebung herausragen. Immer wieder gibt es Brombeerhecken voller weiß-rosa Blüten, sodass Hummeln und Bienen in diesen summen und arbeiten.

Die Natur ist heute voller Tau, es duftet frisch nach Erde und Bäumen. Ich durchquere kleine Waldstücke mit Lärchen und Kiefern, laufe an Heidekrauthügeln in voller Blüte vorbei und freue mich über kleine Bäche, die gurgelnd am Wegesrand verlaufen. Einmal fließt der Bach sogar über den Weg, und ich gehe über die rechteckigen Steine, die man in das Bachbett gelegt hat, die Schuhsohlen im Wasser. Immer wieder stehe ich vor dicken Eichen, die gut fünfhundert Jahre alt sein müssen. Imponierend, was die wohl für eine Geschichte erzählen könnten? Zwischendurch ergeben sich immer wieder freie Rundblicke talwärts — eine wundervolle grüne, hügelige Landschaft!

Inzwischen, so kurz vor Santiago, laufe ich durch dicht besiedeltes Terrain. Alle dreißig bis sechzig Minuten durchquere ich eine Ortschaft. Hier, in diesen kleinen Dörfern, scheint die Zeit stehen geblieben zu sein, denn es herrscht noch immer die alte, typische Bauart vor. Die Häuser sind aus verschieden großen Steinen gebaut und mit unterschiedlich großen Schieferplatten gedeckt, alles Materialien, die im nahen Umfeld zu finden sind. Das Erstaunliche für mich als Betrachter ist, dass diese Häuser offensichtlich zu einer Stabilität kommen, obwohl jeder Stein und jedes Schieferstück eine andere Form haben. Diese Bauweise hat offensichtlich Tradition, und die Menschen hier verstehen ihr Handwerk.

Viehzucht wird betrieben, das rieche ich, obwohl nur hier und da Hühner und ein paar Kühe zu sehen sind. Die Landbevölkerung ist bei der Arbeit, ich sehe jetzt auch ab und zu Menschen, die noch immer mit der Sense mähen und die kleine landwirtschaftliche Maschinen bedienen. Und es gibt Hunde, meist große Schäferhunde, von denen oft mehrere frei herumlaufen. Etwas mulmig ist mir schon, wenn ich an ihnen vorbeilaufe, obwohl sie mich völlig ignorieren. Der Weg ist gut ausgezeichnet, und ich finde immer mal ein Schild mit der gelben Muschel mit den gemalten Strahlen oder mit dem Pilger als Strichzeichnung in Schwarz, häufig auch mit dem mir bekannten gelben Pfeil versehen, wenn die Richtung sich ändert.

So komme ich gut voran, muss aber gegen 11.00 Uhr einen längeren Stopp einlegen, um meine lange Hose durch das Abtrennen der Reißverschlüsse in eine kurze zu verwandeln. Dazu muss ich leider meine klobigen Schuhe ausziehen, was das Ganze etwas mühsam macht. Auch ist meine Fleecejacke zu warm, T-Shirt reicht heute.

Als ich nun gerade wieder loslaufen will, kommt eine Pilgerin, etwa in meinem Alter, vorbei und spricht mich auf Englisch an. Wir laufen ein Stück zusammen, englisch redend, und sie erzählt mir, dass sie aus Kanada, 65 Kilometer von Toronto entfernt, kommt. Seit drei Jahren ist sie in jedem Jahr in Europa, stets für circa drei Monate, in denen sie mit dem Rucksack (Backpack) läuft und immer in Jugendherbergen übernachtet.

Wir kommen intensiv ins Gespräch, über den Weg, über Kanada, über Deutschland, und es macht mir Spaß, mich mit ihr zu unterhalten. Sie lobt mein Schulenglisch, und ich bin froh, dass ich immer noch damit Konversation machen kann. Auch erzählt sie mir, dass sie von Europa fasziniert ist, da sie hier in Europa so viele geschichtsträchtige alte Bauten besichtigen kann, was in Kanada unmöglich ist, da dort die ältesten Bauten aus dem 19. Jahrhundert stammen. Schließlich ruft sie jemand mit dem Namen Marianne, und offensichtlich hat sie ihren Pilgerfreund wieder getroffen, mit dem sie Ende Mai in Saint Jean de Pied de Port gestartet ist. Beide freuen sich und haben viel zu erzählen. Marianne verabschiedet mich mit den Worten: »Nice to have met you, have a good camino!«, und so laufe ich, durch unser Gespräch beschwingt, allein weiter.

Alle zwei Stunden etwa mache ich Pause — Rucksack ab, trinken und bei Bedarf eine Kleinigkeit essen. Heute steht Banane auf dem Speisezettel, nahrhaft und einfach zu handhaben.

Die Sonne steht hoch, es ist schon warm, aber noch nicht so heiß, als ich Portomarín ereiche. Zuerst sehe ich die große Brücke über dem Stausee des Rio Miño, und dann geht es wieder nach oben. Auch dieser Ort liegt auf einem Berg, sodass sich ein traumhafter Blick auf den Stausee ergibt.

In der kleinen Stadt angekommen, bewundere ich eine schlichte Backsteinkirche und setze mich erst einmal in den Schatten, um auszuruhen und zu trinken. Sobald ich wieder Kraft geschöpft habe, suche ich mit dem Werbezettel, den ich gefunden habe, mein Quartier, das ich für 10,50 €, mit Bad auf dem Flur, sauber und schön, mit Blick auf den Stausee beziehe. Ausruhen ist angesagt, und ich schlafe zufrieden ein, bevor ich dann mein Baguette aus dem Rucksack esse, um danach die kleine Stadt zu erkunden.

Mein Weg führt mich in die Kirche, die mitten auf einem großen Marktplatz steht. Jedoch ist das Innere dieser Kirche, besonders der Altarbereich, im Gegensatz zu vielen anderen, wie z. B. den Kathedralen in Burgos und León, nicht prunkvoll vergoldet, sondern schlicht, und die bunten Glasfenster leuchten in Blautönen, von der Sonne durchflutet.

Hier bekomme ich heute von einer freundlichen jungen Dame meinen Pilgerstempel, und das Fotografieren ist hier, im Gegensatz zu vielen anderen Kirchen, erlaubt, was mich sehr freut. Ansonsten gibt es im neuen Portomarín nur wenige alte Häuser, was dadurch zu erklären ist, dass das alte Portomarín 1962 im Stausee verschwunden ist. Damals hat man nur sehr wenige Bauwerke vorher abgebaut und an neuer Stelle akribisch und Vorbild getreu wieder aufgebaut. Jedoch ergeben sich in diesem Ort viele wundervolle Ausblicke auf den Stausee, sodass ich im Grünen im Park sitze und mich an diesem wundervollen Bild nicht satt sehen kann. Das Wasser schillert in der Tiefe in allen möglichen Grün- und Blautönen in der Sonne, überspannt von der langen Brücke, über die ich vorhin gelaufen bin.

Heute Abend esse ich wieder einmal das Pilgermenü, das hier nur 6,50 € kostet. Dieses besteht aus einer Vorspeise nach Wahl, bei der ich mich für einen grünen Salat mit Oliven, Tomaten, mit Thunfisch entscheide. Dazu gibt es drei große Stücke frisches Mischbrot und ein Getränk nach Wahl, entweder Rotwein oder Selters. Da ich heute mit zwei Pilgerbekannten esse, bestellt der eine den Rotwein und ich die Selters, und wir teilen. Als Hauptgericht habe ich diesmal poto ausgewählt, drei Stücke gebackenes Fischfilet, die mit Pommes frites serviert werden. Als Nachtisch bestelle ich wieder einmal tarta de Santiago, den leckeren Mandelkuchen, den ich schon kenne. Also in diesem Lokal stimmt das Preis-Leistungs-Verhältnis, und der Blick auf den Stausee ist atemberaubend.

Meine beiden Tischnachbarn sind dieses Mal aus Deutschland, Nähe Köln und Nähe Leipzig. Beide erzählen etwas von ihrer Geschichte, beide laufen diesen Weg, um nach dem Verlust von lieben Angehörigen wieder »den Kopf frei zu bekommen.« Beide Herren haben sich auf dem Weg kennengelernt und laufen inzwischen schon so manche Teilstrecke zusammen. Man trifft sich hier auf dem camino eben nicht nur einmal, sondern immer wieder — purer Zufall — manchmal auch nach vielen Tagen erneut wieder.

Diese Männer, beide so um die sechzig Jahre alt, sind sich auch einig, dass es hier so viele preiswerte Quartiere gibt, dass es nicht mehr unbedingt der Schlafsaal mit 38 Betten und oft überlasteten Sanitäranlagen sein muss, sondern, dass ein wenig Komfort und eine ruhige Nacht in einer Pension oder einem hostal viel wert sind. Das sehe ich auch so, obwohl offensichtlich auch in den Herbergen, albergue, ein altersmäßig sehr gemischtes Publikum anzutreffen ist. Viele Ältere gehen dort hin, weil sie Kontakt und Gespräche suchen. Heute haben wir beobachtet, dass in der nahe gelegenen Herberge spanische Schulklassen eingefallen sind, sodass wir alle sehr froh sind, dass wir separat schlafen.

Meine Kontakte, die ich bisher auf dem Weg hatte, ergaben sich fast alle beim Laufen. Wenn man sich wegen unterschiedlicher Pausenzeiten und Fotostopps das dritte, vierte Mal überholt, dann kennt man sich vom Sehen, und oft ergeben sich Gespräche. Außerdem wird am camino jeder immer von allen so freundlich begrüßt, wie ich es noch nicht erlebt habe. Es ist sicher eine besondere Sorte Mensch, die hier anzutreffen ist.

Der heutige Abend klingt gegen 21.00 Uhr, kurz nach Sonnenuntergang aus, es wird kühl, und alle sind müde und sehen erwartungsvoll dem nächsten Tag entgegen.

Wenn nicht jetzt, wann dann?
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