24. Tag:

Arzúa — Rúa (19 km), 28. Juni

Heute bin ich früh wach, mache mich fertig und gehe gegen 7.00 Uhr los. Draußen ist die Luft klar und kalt, aus den Wiesen steigt langsam Nebel hoch. Ich bin warm angezogen — lange Hose, Fleece-Pullover und Wetterjacke, und trotzdem fröstele ich. Meinen Weg vom Quartier aus finde ich wieder nach dem sich wiederholenden Prinzip: Ich steuere die Kirche an, gehe von dort zur Pilgerherberge um die Ecke und finde dann den ersten gelben Pfeil, der mir die Laufrichtung zum Weg des Camino Santiago vorgibt.

Es geht kurzfristig an der Straße entlang, bis der Ort Arzúa zu Ende ist und mein Weg seitlich ansteigt, um sich dann im Wald zu verlieren. Im Nu stecke ich mitten im Blätterdach, laufe zwischen hohen Farnhainen entlang, durch Buchenansammlungen und Eukalyptuswälder. Inzwischen lugt die Sonne zaghaft durch die Blätter, und in den Lichtungen steigt langsam der Nebel hoch. Welch ein Schauspiel der Natur! Mein Weg führt mich immer wieder bergauf und bergab, so wie ich es gewohnt bin; allerdings kann ich auf dem Waldweg gut laufen, da heute wenige Steine vorhanden sind und der Boden nahezu getrocknet ist. Schließlich finde ich den Kilometerstein, der mir Herzklopfen bereitet: 26 km bis Santiago de Compostela!

Immer, wenn ich Waldstücke verlasse, laufe ich an Feldern mit Mais, an Gemüsegärten vorbei. Am Wegesrain wachsen Blumen, lila Fingerhut, rosa Malven, gelbe und lilafarbene Margeriten, blaue Glockenblumen, mit Ginsterbüschen versetzt. In den Orten finde ich weiterhin viele alte Häuser, mit Weinpflanzen umrankt, schön angelegte Hecken mit mannshohen Hortensienbüschen in Weiß, Rot, Rosa und Blau. Auch sehe ich immer wieder Palmen, riesige, hohe Bäume, Heckenrosen, Malvenbüsche, Fuchsien als hohe Rankgewächse am Haus. Die Luft duftet nach Blüten und frischer Erde, es gibt viele bunte Schmetterlinge und dicke, brummende Hummeln.

Für mich ergeben sich viele Motive zum Fotografieren von wirklicher Schönheit — nur einer stört, und das ist der Mensch, der heute in Riesenansammlungen vertreten ist. Viele junge Leute laufen mit wenig Gepäck, Schulklassen, alle wollen die letzten 100 Kilometer Pilgerstrecke bis Santiago zu Fuß gehen. Dazwischen sehe ich aber auch »Luxuspilger«, die ohne Gepäck schnellen Schrittes vorankommen. Diese haben offensichtlich ihr Gepäck abgegeben und laufen organisiert, denn sie haben festgelegte Strecken und vorgebuchte Unterkünfte. Bequem, sicher, aber ich möchte das nicht. Ich genieße alles, was improvisiert ist, ich bin autark und mache Pause in meinem Rhythmus und lege die Länge meiner Wegstrecke selbst fest. Mein Rucksack stört mich nicht mehr, jedenfalls nicht, wenn ich ihn circa alle zwei Stunden absetze und Pause mache. Meine Füße haben sich inzwischen so gut an mein tägliches Laufpensum gewöhnt, dass es mir keine Mühe mehr macht und ich auch keine schmerzenden Füße habe. Es ist schon erstaunlich, wie belastbar der Mensch ist, wenn er ausreichend trainiert.

Frühstück bekomme ich heute wieder unterwegs nach circa zweieinhalb Stunden Wegstrecke. Ich bin richtig hungrig, esse bocadillo mit Mettwurst und trinke café con leche. Auch im Gartenlokal ist viel los, ein ständiges Kommen und Gehen, wobei ich immer wieder mit Leuten ins Gespräch komme. Heute treffe ich auf auffällig viele Deutsche, sodass die Konversation völlig unproblematisch ist. Weiter geht es, inzwischen hat die Sonne Kraft bekommen, und es weht nicht mehr so ein kalter Wind wie gestern, sodass ich im T-Shirt laufen kann.

In den Ortschaften, die ich durchquere, bemerke ich, dass viele Bauern Tierhaltung betreiben. Es gibt Hühner und vor allem Kühe, die einmal direkt an mir vorbei über die Dorfstraße zur Weide getrieben werden. Überall sehe ich Hunde und Katzen, sodass ich immer wieder etwas Neues zu betrachten habe.

Gegen 13.00 Uhr ist es heiß, ich habe Durst und suche mir eine Stelle für die nächste Rast. Neben meinem Weg finde ich ein schönes Restaurant mit Innenhof, Wein überrankt, wo ich mich ausruhen und stärken kann. Im Nu bin ich in ein Gespräch verwickelt, das sich so nett gestaltet, dass ich Zeit und Raum vergesse.

Als ich weitergehe, ist es bereits 15.00 Uhr, und ich bin bestürzt, denn so kurz vor meinem Ziel, Santiago, bei so vielen Pilgern, die Quartier suchen, bedeutet das nichts Gutes. Und wirklich: Erst bei der dritten Anfrage im übernächsten Ort habe ich Glück, denn dort erhalte ich das letzte freie Zimmer, wunderschön, aber viel zu teuer. Da es vorher immer completo hieß, habe ich aber Bedenken, heute noch weiterzugehen, da ich fürchte, sonst eventuell ohne Quartier dazustehen. Mein Zimmer ist wirklich edel möbliert, hat sogar eine Sofaecke und ist also sehr gemütlich. Zudem habe ich ein großes Badezimmer mit einer großen Badewanne, modern gefliest und zu einem Bad einladend. Hier genieße ich auch die Vielzahl der Steckdosen, alle in europäischer Norm, sodass ich gleichzeitig mein Handy und die Batterien für die Digicam aufladen und auch den Fön benutzen kann. Welch ein Komfort! Zudem hat mein Hotel einen großen Garten mit einer Liegewiese, in dem ich einen großen Teil des Nachmittags, in der Sonne sitzend, verbringen kann.

Auch gibt es im kleinen Ort Rúa viele alte Häuser, sodass es sich lohnt, dort noch einmal herumzuschauen und zu fotografieren. Laufen, ohne Strümpfe in Sandalen, ist wie Schweben auf Wolken, ich genieße hier meine wieder gewonnene Freiheit sehr. Später, im Garten sitzend, gibt es überall Möglichkeiten für Gespräche, doch ich halte mich heute zurück, denn ich brauche, nachdem der Weg heute derart voll war, ein bisschen gefühlte Einsamkeit.

Beim Abendessen setze ich mich zu einer allein sitzenden Dame, und schnell sind wir im Gespräch. Sie ist Dänin, Pilgerin, und wir unterhalten uns bei ensalada mixta und vino tinto auf Englisch, welches wir beide ganz gut beherrschen. Es wird noch ein netter Abend, auch wenn ich nicht zu spät ins Bett will, weil der morgige Tag anstrengend werden wird.

Wenn nicht jetzt, wann dann?
titlepage.xhtml
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_000.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_001.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_002.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_003.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_004.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_005.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_006.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_007.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_008.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_009.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_010.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_011.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_012.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_013.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_014.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_015.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_016.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_017.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_018.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_019.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_020.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_021.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_022.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_023.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_024.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_025.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_026.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_027.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_028.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_029.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_030.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_031.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_032.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_033.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_034.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_035.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_036.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_037.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_038.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_039.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_040.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_041.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_042.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_043.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_044.html
Wenn_nicht_jetzt,_wann_dann__split_045.html