6. Tag

Viana – Logroño (9 km), 10. Juni

Als ich nach elf Stunden Schlaf wach werde, ist es bereits 7.30 Uhr, und ich kann mich nicht entschließen, sofort aufzubrechen, da es regnet. Meine gewaschenen Sachen sind immer noch nass, gewitterregennass von gestern Abend, sodass ich gezwungen bin, alles in einer Plastiktüte zu verstauen und nass im Rucksack mitzunehmen. Also mache ich mich langsam fertig, esse einen Müsli-Riegel, der wieder einmal das Frühstück ersetzt, trinke Selters und packe ein, diesmal alles regenfest, und marschiere los.

Der Weg nach Logroño ist einfach, meist eben, häufig geteert, aber leider auch stellenweise regendurchnässt und lehmverklebt, was sich an den Schuhen und Hosenbeinen sichtbar macht. Zwischendurch regnet es immer wieder, mal mehr, mal weniger, also, eine reine Freude ist es heute nicht, und ich bin dankbar, dass ich nur eine relativ kurze Strecke vor mir habe.

Zwischendurch kann ich mich nicht satt sehen an den wild wachsenden Blumen am Wegesrand — roter Mohn, gelbe Lilien, weiße Kamille, weiße Margeriten, Disteln, lilafarbener Günsel in Hütchenform, gelber Ginster, Steingewächse in Farben von Gelb über Blau bis Rot und Lila — , zwischen Feldern mit Hafer angelegt. Es ist einfach eine Freude, diese kunterbunte Natur zu bewundern. Außerdem sind heute Hunderte von kleinen Schnecken unterwegs, die wohl alle bei Regenwetter einen Betriebsausflug machen. Hin und wieder, wenn ich Pause mache, um Luft zu schöpfen, sehe ich zurück auf den Ort Viana mit seinem Kirchturm, malerisch eingebettet in hügeliges Gelände, mit Feldern und Wiesen und kleinen Baumgruppen mit Laubbäumen. Die Berge der Pyrenäen liegen Wolken verhangen, aber immer noch erkennbar, zu meiner rechten Seite, und ich liebe diese fast unberührte Natur, auch bei diesem Wetter.

Unter der Regenjacke ist es unglaublich warm, und ich überlege allen Ernstes, ob ich überhaupt eine benötige, da ich auf der Haut genauso nass bin wie auf der Regenjacke. Andere Pilger ziehen an mir vorbei oder laufen hinter mir, viele in Regencapes gehüllt, einige aber auch im T-Shirt, denn kalt ist es nun wirklich nicht.

Endlich, es ist fast Mittag, erreiche ich Logroño. Der Weg vom Ortsschild bis hinein in die Stadt zieht sich endlos hin. Am Wegesrand gibt es wieder Möglichkeiten, etwas in einer Wellblechbaracke zu trinken, doch ich bleibe bei meinem Mineralwasser. Hunde liegen brav in ihren steinernen Hütten, gut gegen die sonst oft herrschende Hitze und heute gegen Regen geschützt. Schließlich erreiche ich den Ebro, überquere die alte, steinerne Brücke mit den sechs Torbögen und finde neben der Bücherei eine Cafeteria, in der ich frühstücken kann. Inzwischen ist es 12.00 Uhr, und ich bestelle café con leche und ein bocadillo mit Ei und lasse mir beides schmecken. Zu meiner Freude ist der Preis moderat und ich fühle mich gestärkt, sodass ich entspannt auf Zimmersuche gehen kann.

Vorher will ich mir meinen Pilgerstempel in der albergue, der Herberge, abholen. Diese ist jedoch noch geschlossen und öffnet erst um 14.30 Uhr. Nebenan, in der Kirche, frage ich nach Stempel und Unterkunft — Französisch geht gut — und werde um die Ecke zur nächsten Polizeistation geschickt. Hier klappt es mit Englisch. Der Leiter der Polizeistation schickt alle anderen weg, mit denen er gerade im Gespräch gewesen war, und hilft mir sofort weiter. Ich erhalte den liebevollsten Stempel mit der perfektesten Unterschrift, die man sich vorstellen kann. Auf die Frage nach einem preisgünstigen Zimmer nennt er den Preis von 15.00 €, und als ich nicke, geht er nach nebenan und telefoniert, um zu prüfen, ob die Unterkunft noch frei ist. Sie ist es, und ich verlasse die Polizeistation mit einer Kopie des Stadtplanes der Innenstadt, einer genauen Adresse und guten Hinweisen für die fünf Minuten Weg zu meinem Quartier. Nach kurzer Zeit, als ich gerade den nächsten Platz erreicht habe, kommt mir mein polizeilicher Helfer hinterher, um zu prüfen, ob ich auch alles finde. Er verabschiedet sich dann nochmals, und ich bin ganz gerührt über so viel Fürsorge.

Nach kurzer Zeit erreiche ich mein hostal. Das Zimmer ist zweckmäßig, ziemlich sauber, mit Etagenbad, aber so weit in Ordnung und mitten im Zentrum.

Voll zufrieden und tatendurstig gehe ich nach einer Pause, in der ich erst einmal meine nassen Sachen zum Trocknen ins offene Fenster hänge, in die Stadt, die heute, am Sonntag, überfüllt ist. Man feiert das Fest des Barnabas Fiesta de San Barnabe zu Ehren des Stadtpatrons, der erfolgreich gegen die Franzosen geholfen und Fisch, Brot und Wein verteilt hat.

Die Innenstadt ist übervoll, die Calle Mayor mit Konfetti in allen Farben ausgelegt, die Leute sind festlich und zum Teil mit ihren schwarz-roten Trachten gekleidet. Mädchen, die offensichtlich ihre Kommunion feiern, ganz in langen, weiten, weißen Kleidern, sind überall zu sehen. Die Leute sitzen in Straßencafés und genießen ihren café con leche oder ihr Glas Rotwein. Vino tinto aus der Rioja ist ein Erlebnis, und ich setze mich dazu und genieße den schweren, dunkelroten und sehr aromatischen Wein, freue mich an der inzwischen wieder scheinenden Sonne, dem Blick auf einen riesigen Springbrunnen, umgeben von feiernden, fröhlichen Menschen, die diesen schönen Tag sichtbar zu würdigen wissen.

Diese Stadt ist recht groß und hat eine sehr schöne, breite Fußgängerzone, gepflastert, mit Grünanlagen und Spielmöglichkeiten für Kinder, mit Straßencafés und vielen interessanten Geschäften auf modernem Niveau. Trotz allem ist Logroño eine alte Stadt mit vielen alten Häusern in den Seitenstraßen, mit gepflasterten Plätzen und einer schönen Kathedrale neben mehreren Kirchen. Beeindruckend ist auch die große Brücke über den Rio Ebro, die mit ihren vielen Rundbögen eindeutig an die römische Zeit erinnert.

Leider setzt das Wetter dem fröhlichen Treiben ein Ende, denn das Gewitter des letzten Tages — oder ein neues — kommt heran, sodass erneut die heftigsten Regenschauer einsetzen. Eine Dusche ist gar nichts dagegen, und die Freude dauert fast zwei Stunden an. Völlig durchnässt erreiche ich mein Zimmer, wo ich erst einmal abwarte. Doch im Süden gehen die Uhren offensichtlich anders als bei uns in Deutschland, und im Nu scheint die Sonne wieder; die Bürgersteige trocknen, und die Straßen füllen sich. Es ist 24 Grad C warm, und die Welt ist in Ordnung.

Die ganze Stadt ist auf den Beinen, in der Innenstadt wimmelt es von Menschen jeden Alters. Alle haben sich festlich herausgeputzt, sodass ich mit meiner Trekking-Ausrüstung schon fast unangenehm auffalle. Viele Frauen und vor allem Kinder sind in ihre Trachten gekleidet — rote oder grüne Röcke mit schwarzen Streifen und passenden Halstüchern über der weißen Bluse. Kleine Mädchen tragen weiße Kleider, die mit bunten Blüten benäht sind, im Kontrast zu den vielfach dunklen Augen und Haaren ein zauberhafter Anblick.

Auf dem Marktplatz wird an einem großen Stand Essen verteilt: So wie früher San Barnabas Essen an die Armen verteilte, so bekomme ich jetzt für zwei Euro ein großes Stück Brot mit Fleisch und gekochten Paprika, warm, und dazu einen Becher Rotwein — schließlich befinde ich mich in der Rioja! Ich freue mich über das unverhoffte »Geschenk« und spare mir so das Abendessen. Weiter laufe ich durch die Stadt, bewundere den Festumzug mit Musik, die von zwei Musikbühnen in der Stadt ausgestrahlt wird, und um 23.00 Uhr genieße ich noch ein unverhofftes Feuerwerk. Als ich danach im Bett liege, wird in der Stadt noch lange weitergefeiert, doch ich will morgen früh um 6.00 Uhr aufbrechen und sollte jetzt Ruhe finden.

Wenn nicht jetzt, wann dann?
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