36Durch das schimmernde Wasser blickte ich zur Sonnenscheibe hinauf. Sie bebte und glühte.

Ich hielt den Atem an und hörte das Wasser in den Ohren rauschen. Die Stimmen meiner Eltern kamen aus weiter Ferne, von der anderen Seite einer Barriere.

Wir waren im Strandhaus auf dem North Fork. Dad hatte, was selten vorkam, das ganze Wochenende frei. Ich war sechs oder sieben und hatte die Windpocken. Deshalb war ich die meiste Zeit im Pool hinter dem Haus und schwamm. Im Wasser ließ der Juckreiz für eine Weile etwas nach. Dad verbrachte seine freie Zeit vorwiegend am Grill. So sehe ich ihn immer noch vor mir – wie er sich über den Grill beugt, wie zwischen den zischenden Fleischstücken die Flammen züngeln. Es gab auch Fisch, den er auf dem Fischmarkt in Southold gekauft hatte.

Ich hielt mich im flachen Bereich des Pools auf. Ich schwamm zwar nicht, aber ich wollte auch nicht hinaus und spielte im Wasser. Dann entdeckte ich etwas Erstaunliches. Wenn ich den Atem anhielt und untertauchte, konnte ich durch das Wasser den Himmel betrachten. Das Blau und die flauschigen Wolken schimmerten und tanzten, wenn ich sie durch die Linse des Wassers ansah. Es war unglaublich – das grelle Sonnenlicht auf dem Wasser, das Funkeln, das Beben und Pulsieren des Himmels.

Also drehte ich mich auf den Rücken, hielt den Atem an und ließ mich schlaff hängen, sodass ich knapp unter der Wasseroberfläche schwebte und nach oben blickte. Ich konnte den Atem ziemlich lange anhalten und deshalb eine ganze Weile so verharren, ehe ich den Bann brechen und wieder auftauchen musste.

Auf einmal schien mich eine Eisenklammer am Arm zu packen. Ich wurde aus dem Wasser gerissen und auf die harten Fliesen geworfen wie ein gefangener Fisch. Ich schrie, als meine Mom sich über mich beugte und mir die Finger in den Mund steckte.

»Mom!«, rief ich.

»Oh, Amy, du…«

Dann gab sie mir eine Ohrfeige. Es war das erste und einzige Mal, dass sie mich schlug. Ich konnte es nicht fassen. Ich lag auf den feuchten, heißen Fliesen, die den Pool umgaben, und starrte zu ihr hinauf. Sie trug ein blaues Sommerkleid mit gelbem Blumenmuster. Erst jetzt sah ich, dass es klatschnass war. Ihre Augen waren geweitet, voller Angst und auch für mich erschreckend, Tränen rannen ihr über das Gesicht.

»Was habe ich denn…«, begann ich.

»Ich dachte, du seist tot!«, kreischte sie. So habe ich noch nie jemanden schreien hören. Ihre Stimme klang nicht menschlich, sondern wie die eines Tiers. Hinter ihr kam Dad angerannt, wie immer zu spät. »Ich dachte, du seist ertrunken!«, schrie sie.

»Oh«, antwortete ich.

Mehr fiel mir nicht ein. Obwohl ich so klein war, erkannte ich, wie dumm ich gewesen war und warum meine Mom solche Angst gehabt hatte. Schreckliche Gewissensbisse blühten in mir zu einer dunklen Nachtblume auf, die mir seitdem keine Ruhe mehr lassen.

Ich bin schuld, dachte ich. Sie weint meinetwegen. Ich bin schuld.

Dann hob sie mich hoch und umarmte mich. Das schmerzte wegen der Windpocken, aber ich wehrte mich nicht. Ich ließ mich von ihr festhalten, während sie schluchzte.

»Oh, meine Amy!«, stieß sie hervor. »Oh, meine Amy!« Sie wiederholte die Worte wie ein Gebet, das mich am Leben erhalten sollte.

Ich betrachtete unterdessen den Himmel. Ich habe nicht darüber nachgedacht, wollte ich ihr versichern. Ich wollte dir keinen Schrecken einjagen.

Später, als ich älter wurde, erinnerte ich mich oft an jenen Moment, den ich im Nachhinein unerträglich fand. Diesen Gesichtsausdruck wollte ich bei meiner Mutter nie wieder sehen. Und dazu das Schamgefühl. Es war auch peinlich, irgendwie schüttelte es mich innerlich so, wie wenn man die eigenen Eltern beim Sex erwischt. Es lag wohl daran, dass ich etwas sehr Persönliches beobachten konnte. Etwas Intimes, das ich nicht hätte sehen sollen. Ich erkannte, wie sehr meine Mutter mich liebte, und das weckte in mir eine unermessliche Angst.

Wird es auch für mich so sein?, fragte ich mich wohl tausendmal. Werde ich meine Kinder auch so sehr lieben? Wird es mir genauso wehtun, wenn einem von ihnen etwas zustößt? Wenn Eltern so große Angst ausstehen mussten, ließ ich es wohl besser ganz bleiben.

Nachdem sie sich umgebracht hatte, dachte ich noch viel öfter an diesen Sommer und an den Tag, als Mom mich nass und spuckend aus dem Pool gezogen hatte.

Wenn dir die Vorstellung, ich könnte ertrinken, so wehgetan hat, dachte ich, warum hast du es dann überhaupt getan? Warum hast du mich alleingelassen?

Als ich wieder zu mir komme, ist ringsum auf dem Deck der HMS Endeavour einiges los. Jemand zieht mich hoch, bis ich sitze und an der Wand lehne. Ich erkenne Meer und Himmel, die am Horizont ineinander übergehen. Vor dem inneren Auge sehe ich immer noch Farouz, der im Rauch des Pick-ups stirbt.

Mein Vater sagt etwas zu mir, dann wendet er sich um, weil links von ihm etwas passiert. Ich folge seinem Blick. Es ist die Stiefmutter, der jemand von der Leiter hilft. Sie lächelt mich an, ihre Miene zeigt Traurigkeit und Besorgnis zugleich. Der Saum ihres Kleids ist vom Meerwasser nass geworden, nachdem sie am Strand ein Stück waten musste.

Ich bin beeindruckt von ihrem Mut, aber sie weiß noch nicht, dass alles vorbei ist, weil Farouz tot ist.

»Was ist los?«, fragt sie. »Was ist mit Amy passiert

»Das wissen wir nicht«, antwortet Dad.

»Hitzschlag«, behauptet Kapitän Campbell. »Ein Trauma. Wir haben Berater und medizinisches Personal an Bord. Sie kommt schon wieder auf die Beine. Aber wir sollten sie nach drinnen bringen und ihr eine Cola und etwas zu essen geben. Dann können die Ärzte sie…«

»Nein«, widerspreche ich. »Nein, ich bleibe hier.«

»Amy, hör auf den Kapitän!«, schaltet sich Dad ein. »Geh hinein und…«

»Lass sie doch!«, unterbricht ihn die Stiefmutter.

Dad schließt überrascht den Mund.

Ich achte nicht weiter auf die beiden. Von hier aus, wo ich sitze, kann ich den Strand beobachten. Den Pick-up, der immer noch brennt.

Aber halt!

Ich sehe noch etwas anderes. Der Hubschrauber ist gelandet, und dort laufen Soldaten herum. Sie bilden eine Absperrkette und zielen nach außen, während andere

»Fernglas!«, verlange ich.

»Amy, wir…«

»Fernglas!«

Jemand reicht mir eins. Ich halte es vor die Augen und drehe am Stellrad, bis ich die Szene scharf sehe. Der weniger stark verbrannte Pick-up scheint zum Greifen nahe. Ein Mann liegt mit dem Gesicht nach unten auf der Motorhaube, man hat ihm mit Handschellen die Hände auf dem Rücken gefesselt.

Dann der Grund, warum ich ein Fernglas verlangt habe: Dort werden noch weitere Männer festgenommen und zum Hubschrauber gestoßen. Aus dieser Richtung hat es fast den Anschein, als würden sie aus dem brennenden Pick-up gezogen. Die Männer sind nur Silhouetten, sie flimmern und sind nicht voneinander zu unterscheiden.

Was, wenn

Jemand zerrt an meinem Arm. Ich reagiere nicht darauf, sondern beobachte weiter den Hubschrauber, in den die gefangenen somalischen Männer verfrachtet werden. Schließlich lösen die Bewaffneten den Kordon auf, und der Rotor setzt sich in kreisende Bewegungen. Die letzten Männer springen hinein, der Hubschrauber hebt ab. Es knattert, anscheinend schießt jemand auf den Hubschrauber, der das Feuer jedoch nicht erwidert, sondern einfach nur zum Schiff zurückfliegt.

Was, wenn

Ich weiß, wo sich der Landeplatz befindet, ich habe ihn von der Daisy May aus gesehen. Ich springe auf, lasse das Fernglas fallen und renne los. Hinter mir ruft jemand. Ein Matrose öffnet vor mir eine Tür, ich weiche hastig aus und bemerke aus den Augenwinkeln sein verblüfftes Gesicht. Meine Füße trampeln laut auf dem Metalldeck. Ich komme an Türen und Korridoren vorbei, sogar an einem mächtigen Geschütz, das aufs Meer zielt.

Die blauschwarzen Metallwände fliegen an mir vorbei. Die allgegenwärtige Sonne steht am Himmel und zeichnet meinen Schatten auf die Wand und den Boden, während ich laufe. Über mir starren Antennen und Satellitenschüsseln in den Himmel.

»Amy, bleib stehen!«, ruft mein Dad mir nach.

Ich denke nicht daran. Ich laufe weiter, bis ich das hintere Deck erreiche. Dort sehe ich die sechseckige Landefläche mit dem gelben Kreuz. Der Hubschrauber sinkt wie ein riesiger Vogel senkrecht herab. Ein Mann, ausgerüstet mit Schutzbrille und Kopfhörer, steht auf dem Deck und winkt mit zwei gelben Stäben. Ich gehe weiter, im Luftzug der Rotorblätter flattert mein Haar hinter mir her wie ein Strom aus dunklem Wasser. In dem starken Wind muss ich die Augen halb zukneifen. Die Luft ist warm, als stünde ich vor einem riesigen Föhn.

Die Tür des Hubschraubers öffnet sich, und der erste der Soldaten – nennt man sie überhaupt so, wenn sie auf einem Schiff stationiert sind? – springt heraus. Gebückt und fast in der Hocke kommt er zu uns herüber. Weitere Männer folgen ihm.

Dann die Piraten.

Ich sehe Bärte und Kopftücher, verrückte Kleidung, Armani gemischt mit Lumpen. Der Rotor bremst ab, aber der Luftzug ist immer noch sehr stark und verformt die Gesichter der Männer, die aussteigen. Sie wirken fremd und vertraut zugleich wie die Tiere, die man vom Meeresboden in den niedrigeren Druck heraufholt.

Der Erste, den ich erkenne, ist Asiz. Er scheint sehr klein zu sein, als er sich im starken Wind bückt, während der Rotor sich langsamer und leiser dreht. Er bewegt sich nur vorwärts, weil ihm ein Mann folgt, der ihn mit dem Gewehrkolben weiterstößt. Dann folgt ein zweiter Pirat, den ich kenne, dessen Namen ich aber nicht weiß. Sie haben ihm die Hände gefesselt, und der Stolz und das kämpferische Gebaren sind verflogen. Asiz’ Kleidung hat Brandlöcher, seine Haare sind versengt.

Ist er aus dem Pick-up gesprungen?, frage ich mich. Ist er herausgekommen, ehe der Wagen in die Luft flog?

Ahmed entdecke ich nirgends, so wenig wie

Nein.

Auf einmal habe ich das Gefühl, ein Felsbrocken drücke mir auf die Brust, zerquetsche mich und hindere mich am Atmen.

Ich erkenne Ahmed.

Hände packen mich an den Armen, jemand zerrt mich zurück, als Ahmed aus dem Hubschrauber springt.

Er landet anmutig auf dem Deck. So anmutig, wie es mit auf dem Rücken gefesselten Händen möglich ist. Hinter ihm folgt ein Uniformierter mit einem Sturmgewehr, doch Ahmed bückt sich nicht wie Asiz. Er geht aufrecht, der Wind peitscht sein Haar, bis er das große X auf dem Landeplatz verlässt und das Hauptdeck betritt. Endlich verstummt die Maschine des Hubschraubers.

Dad dreht mich zu sich herum, legt mir die Hand unter das Kinn und sieht mich besorgt an. Ich entziehe mich ihm.

Ahmed. Wenn Ahmed überlebt hat, dann

Dann müsste doch auch

Ahmed läuft Blut aus der Nase. Auf einer Seite ist sein Gesicht verquollen und wie geschmolzen. Mein Gott, er hat Brandwunden, denke ich. Er war im Truck und ist lebendig herausgekommen, hat sich aber trotzdem Verletzungen zugezogen. Sein T-Shirt ist verkohlt, auf einer Schulter ist der Stoff ganz verschwunden. Die Haut darunter ist schwarz. Grässlich.

Trotzdem lächelt er mich an, als er mich mit meinem Vater sieht, der mich zurückhält.

Ich betrachte den Hubschrauber, aus dem niemand mehr aussteigt. War es das? Wo ist Farouz?

Hoffnung und Furcht ringen in meiner Brust miteinander wie knurrende wilde Tiere. Wenn er nun entkommen ist?

Aus den Augenwinkeln beobachte ich, wie der Kapitän vortritt und von einem Soldaten etwas entgegennimmt. Er bringt es her und legt es vor mir und Dad, der mich immer noch festhält, auf den Boden. Auch der Verhandlungsführer Jerry ist anwesend. Der Kapitän stößt den Gegenstand mit dem Fuß an. Zuerst erschrecke ich und denke, es sei die verbrannte Leiche eines Piraten, aber dann erkenne ich den Sportbeutel.

»Mit Kevlar verstärkt«, erklärt er Jerry. »Wir haben einen verloren, aber hier stecken zwei Millionen drin. Das wird die Versicherung glücklich stimmen, was?«

Jerry schüttelt staunend den Kopf.

»Diese Höllenhunde.«

Der Kapitän zieht die Augenbrauen hoch.

»Gut gemacht«, sagt Jerry mit einem etwas anderen Tonfall. »Gut gemacht.«

All dies geschieht vor meinen Augen, aber ich beobachte Ahmed. Als ich spüre, dass mein Dad die Aufmerksamkeit auf den Beutel mit dem Geld richtet, reiße ich mich los und renne zu Ahmed hinüber, der gerade zu der grauen Metalltür geführt wird, durch die Asiz bereits verschwunden ist.

Als ich noch einen Meter entfernt bin, baut sich der Soldat, der Ahmed führt, vor ihm auf und hebt die Hand, um mich aufzuhalten.

»Ich verstehe Ihren Zorn«, sagt er. »Aber wir müssen uns an die Gesetze halten. Wir dürfen sie nicht verletzen…«

»Ich tue ihm nichts«, erwidere ich.

Ahmed lächelt hinter dem Soldaten. Oder besser, sein halber Mund lächelt. Die andere Hälfte ist geschmolzen. Ich habe das Gefühl, es bricht mir das Herz, wenn ich noch länger die Wunden ansehen muss.

»Ich verstehe Sie nicht«, antwortet der Soldat. »Bitte, Miss, wenn Sie zur Seite treten könnten…«

Ich schlinge die Arme um mich, damit mich niemand berühren kann.

»Was passiert mit den Piraten?«, frage ich.

Der Kapitän und Jerry sind zu uns getreten, und Jerry übernimmt das Antworten.

»Sie werden nach internationalem Recht verurteilt«, sagt er. »Sie landen im Gefängnis.«

Ahmed schweigt die ganze Zeit und sieht mich an, die Hände hinter dem Rücken gefesselt.

»Wie lange?«, frage ich.

»Wahrscheinlich lebenslänglich«, erklärt Jerry. Er scheint damit zufrieden, für ihn ist der Tag gut gelaufen.

Als wäre es ein Triumph der Justiz, wenn man einen Haufen Piraten mit alten Waffen aus einem Land, wo die Menschen gar nichts haben, besiegt und ins Gefängnis wirft.

Noch während Jerry redet, schiebt der Soldat Ahmed weiter zur Tür. Ich habe das Gefühl, wenn er hinter diesem kühlen blauen Metall im Schatten verschwindet, werde ich ihn nie wieder sehen, und dann ist es zu spät, um etwas über Farouz zu erfahren. Er hält den Kopf die ganze Zeit zu mir gewandt und sieht mich an.

Ich hole tief Luft.

»Farouz?«, frage ich.

Ahmed sieht mich weiter an, während er weggeschleppt wird. Dann wird sein Gesicht sehr traurig. Er hat ihn geliebt, denke ich und weiß tief in meinem Herzen, dass es einen guten Grund gibt, die Vergangenheitsform zu benutzen.

Ahmed schüttelt den Kopf. Jede Bewegung trifft mich wie ein körperlicher Schlag. Dann verschwindet er im Schiff.

Vor dem geistigen Auge sehe ich Farouz auf dem Deck der Daisy May stehen. Er winkt mir zu, hört nicht auf zu winken. Man könnte meinen, der Hubschrauber, der die Gefangenen zum Schiff gebracht hat, sei wie ein elastischer Ball, der in die Hand zurückspringt, aber so ist es nicht. Der Ball ist nur einmal dumpf auf dem Teppich aufgeprallt und bewegt sich nicht mehr.

Nein, denke ich. Bitte verlass du mich nicht auch noch!

Aber es ist zu spät.