30Mein Dad schnarchte, die Stiefmutter hatte sich an seine Schulter gekuschelt. Sie hielten Händchen, was ich eklig fand. Es war schon schlimm genug, dass die Stiefmutter in unserem Haus in London die ganze Zeit in der Nähe war, aber es war noch schlimmer, sie anstelle meiner Mom hier zu sehen, wie sie sich nachts an meinen Dad schmiegte.

Tony lag schwer atmend auf dem Sofa.

Ich stand von dem Lehnsessel auf, in dem ich geruht hatte, und bewegte mich vorsichtig durch den Raum, tat einen Schritt, hielt den Atem an und sah mich um.

Dad schnarchte weiter.

Der Raum war dunkel, nur in einer Ecke, wo Felipe eine Zeitschrift gelesen hatte, brannte eine Lampe. Auch er schlief inzwischen. Ich huschte zur Tür und wich den Hindernissen auf dem Boden aus – abgestreifter Kleidung. Damian schlief auf dem Bauch auf einem Berg Sofakissen. Ich fühlte mich unbeholfen, aber auf dem dicken Teppich machten meine Füße keine Geräusche.

Das Kino schien einen ganzen Kilometer lang zu sein, obwohl es in Wirklichkeit höchstens zwanzig Schritte waren. Überzeugt, mein Dad habe sich aufgerichtet, wandte ich mich noch einmal um. Wenn er mich bemerkte, ging ich eben zur Toilette.

Ich legte die Hand auf den silbernen Türknauf und drehte ihn herum. Er gab ein kaum hörbares Quietschen von sich. Wieder sah ich mich nervös um.

Niemand rührte sich.

Ich zog die Tür einen Spaltbreit auf.

Sie knarrte entsetzlich.

Verdammt. Ich verharrte reglos und lauschte. Mein Dad hatte zu schnarchen aufgehört. Ich beobachtete ihn im Zwielicht. Dann hörte ich ein Rasseln, und das Schnarchen setzte wieder ein. Mit brutaler Wucht strömte die Luft in meine Lungen.

Zähneknirschend öffnete ich die Tür etwas weiter, zwängte mich schließlich hindurch und hielt sie fest, damit sie nicht zuknallte.

Als ich auf das Deck trat, standen natürlich schon die Sterne am Himmel. Anscheinend gab es hier niemals Wolken und Regen. Wie konnte hier überhaupt etwas wachsen? Ich verstand, warum Farouz gesagt hatte, alle somalischen Geschichten handelten vom Hunger. Sogar die Geschichte vom Eichhörnchen und vom Löwen – denn der Löwe hatte doch das Eichhörnchen gefressen, oder?

Ich setzte mich auf eine der Sonnenliegen. Im Dunkeln hatte ich ein Top von All Saints angezogen, das mir gefiel, und einen Fünfzigerjahre-Rock, den ich in der Brick Lane gekauft hatte. Schon gut, es war dumm, dass ich mich so aufgebrezelt hatte, und komisch war es, weil ich immer noch so wütend war. Aber was sollte ich machen?

Ich musste nicht lange auf Farouz warten. Inzwischen erkannte ich seine Schritte und den Rhythmus, mit dem er ging. Hoffentlich wurde im Kino niemand wach, weil er zur Toilette musste und bemerkte, dass ich fehlte. Wegen der Piraten machte ich mir keine Sorgen. Die meisten Wächter mit Ausnahme von Ahmed und Farouz waren gewöhnlich mit Khat zugedröhnt, betrunken oder ausgelaugt, nachdem sie diese schreckliche Mischung aus Kaffee und Zucker getrunken hatten, von der sie anscheinend abhängig waren.

Also war ich allein, bis Farouz kam. Er sagte leise und gedehnt »Hallo«, als wolle er niemanden aufschrecken, und dann war ich nicht mehr allein.

Er setzte sich auf die Sonnenliege neben meiner. Sein Gesicht war wie immer in Rauch gehüllt. Er spielte mit seiner Waffe, wollte etwas sagen, hielt inne, begann noch einmal.

»Ich… ich habe Ahmed gesagt, dass ich den gleichen Anteil wie vorher haben will«, erklärte er schließlich.

»Was?«, fragte ich schockiert. »Warum?«

»Für dich.«

Ich sah ihn an. Etwas regte sich in mir, etwas Hartes wurde weich wie altes Brot im Wasser.

»Wundert Ahmed sich nicht darüber?«

»Vielleicht.« Farouz machte eine abweisende Geste. »Er weiß nur, dass ich nicht mehr Geld haben will. Ahmed ist… er ist kein böser Mensch. Er hat Kinder und eine Frau.«

»Ich weiß.«

»Außerdem…« Farouz zögerte. »Ahmed ahnt wohl, dass ich dich mag.«

Schweigen.

»Du magst mich?«

Sicher war ich nicht, aber ich glaube, er wurde rot.

»Vielleicht«, sagte er. »Und du?«

»Ich weiß nicht. Es gibt jemanden, den ich mag. Er sieht gut aus. Süß. Aber es gibt ein Problem.«

»Oh?«

»Ja. Er ist ein Pirat.«

Farouz rückte etwas näher.

»Küstenwache«, widersprach er.

»Das ist das zweite Problem«, erwiderte ich lachend. »Die Sprachbarriere. Er kann nicht gut Englisch, deshalb…«

Er knuffte mich sanft gegen den Arm.

»He!«

Dann sagte er etwas auf Somali, das wie ein Fluch klang.

»Ich habe es vergessen«, gestand er. »Ich habe ein Geburtstagsgeschenk für dich. Ich wollte es dir schon vorher in deiner Kabine geben, aber… nun ja, ich war abgelenkt.«

Ich dachte an den Kuss. Ja, er war abgelenkt gewesen. Ich auch.

»Wie auch immer, hier ist es.« Er griff in die Hosentasche und drückte mir etwas in die Hand. Es war kalt und kompakt und hatte eine glatte Oberfläche.

Es war eine schlichte kleine Holzschachtel, der Größe nach konnte sie Schmuck enthalten. Zuerst dachte ich: O nein, er wird doch nicht… oder doch? Er ist doch ein

Dann dachte ich: Sei nicht dumm, Amy! Er kann irgendwo zwei Ohrringe oder einen Fingerring gestohlen haben.

Etwas beklommen öffnete ich das Kästchen und war bereit, höflich zu reagieren, während ich mich schon beleidigt fühlte. Er glaubte doch nicht etwa, er könne mich mit gestohlenem Schmuck glücklich machen?

Es war kein Schmuck.

Zuerst konnte ich das Innere der Schachtel nicht deutlich erkennen. Es war ein Häufchen aus winzigen Teilen

Dann

»Sand«, sagte ich.

Er lächelte.

»Aus Somalia. Ich habe ihn vom Strand mitgebracht, als ich die Eier holte, damit du etwas aus meinem Land mitnimmst. Auch wenn du es selbst nicht betreten kannst, auch wenn…«

Ich hob eine Hand, damit er es nicht aussprach. Damit er nicht erwähnte, wann wir uns verabschieden mussten.

Einen Moment lang hielt ich noch das Kästchen mit dem glitzernden Sand in der Hand, dann schloss ich den Deckel und legte die Finger fest darum.

»Danke«, sagte ich.

Er berührte meine Hand, die das Kästchen hielt.

»Gern geschehen.«

Ich öffnete die Finger und nahm seine Hand, damit er sie nicht zurückzog.

»Dir ist kalt«, sagte ich.

»Ja.«

Wir waren uns sehr nahe. Ich spürte die Wärme, die er ausstrahlte.

Die Prellungen im Gesicht waren noch nicht ganz verheilt, und da, unmittelbar vor mir, sah ich die harten Muskeln seiner Arme. Muskeln, mit denen er Menschen schlagen konnte, mit denen er

Nein.

Ich schloss die Augen. Dad und die Stiefmutter irrten sich. Ich war nicht selbstzerstörerisch und hatte keinen Todeswunsch. Das war mir in diesem Moment völlig klar. Nicht die Angst oder die Abwesenheit von Angst war der entscheidende Punkt, sondern die Tatsache, dass ich sehr aufgeregt war. Ich wollte leben und alles erfahren, was es zu erfahren gab.

»Geht es dir gut?«, wollte Farouz wissen.

»Ja.«

Ich legte ihm eine Hand in den Nacken und spürte, wie seine Muskeln arbeiteten. Es war, als wüchse die Haut unter meiner Hand und schmiege sich in die Wölbung, genauso selbstverständlich, wie ich die Geige gehalten hatte.

Er roch nach Rauch. Er roch nach dem Meer. Er roch nach dem Sand.

Mein Herz war ein fremdes Wesen, das in meinen Körper gefahren war und jahrelang geschlafen hatte. Jetzt war es wach und sprang umher.

»Küss mich!«, bat ich.

Er küsste mich.