3Genau wie Dad gesagt hatte, stachen wir am fünfzehnten Juli in See.

War ich froh, als wir aufbrachen? Ich weiß es nicht, und das ist die Wahrheit. Ich würde ein Jahr lang eng mit Dad und der Stiefmutter zusammenleben, was mir nicht gerade angenehm vorkam. Aber ich musste nicht zur Schule, und obwohl es nicht sinnvoll schien, die Marlboro lights einzupacken – Dad hasste Raucher –, würde es wenigstens Strände geben. Im Grunde dachte ich nicht weiter über die Reise nach. Ich hatte eben einfach nichts Besseres zu tun. Auch wenn es dumm klingt, so war es.

Und dann die Jacht. Sie war beeindruckend, und das war schon fast eine Entschädigung. Esme hätte sie total krass genannt. Nein, sie drückte sich tatsächlich so aus. Nachdem wir nach Southampton gefahren und an Bord gegangen waren, machte ich ein Foto mit dem Handy und lud es bei Facebook hoch. Esme und Carrie flippten fast aus.

Das Schiff hatte zwei Segel, was ich zuerst für reine Show hielt. Damian, der Kapitän, den Dad angeheuert hatte, erklärte jedoch, zusammen mit dem Motor könnten wir zwölf Knoten laufen, was immer das bedeuten sollte. Die Jacht war weiß und schlank und trotz der Größe anmutig. Inmitten der grauen Betonklötze von Southampton wirkte sie wie ein Rolls-Royce, der vor einer verfallenen Fabrik abgestellt worden war. Sogar die Möwen blieben fern, als wollten sie vermeiden, ihren Kot auf dem Deck zu hinterlassen.

»Das wird toll«, verkündete Dad, als wir über die Gangway marschierten. »Wir verbringen unsere Zeit zusammen wie eine richtige Familie.«

»Von mir aus«, erwiderte ich unverbindlich.

Ganz oben befand sich die Brücke, wo Damian das Schiff steuern oder lenken oder was auch immer tun würde. Daneben lag eine Bar oder ein Esszimmer, wo sich die Wände per Fernbedienung hochfahren ließen, damit man al fresco speisen konnte, wenn einem danach war. So drückte es jedenfalls die Stiefmutter aus und quietschte vor Begeisterung. Unter Deck gab es fünf Schlafzimmer mit jeweils eigenem Bad, wieder darunter ein kleines Kino, ein Spielzimmer und einen Zugang zum Tauchdeck. Den Tauchschein hatte ich schon gemacht – in eine solche Schule war ich gern gegangen, und Dad hatte zur Vorbereitung auf die Reise ebenfalls eine Prüfung abgelegt.

Auf dem Tauchdeck entdeckte ich ein Rettungsboot und ein Schlauchboot mit Außenbordmotor, damit wir uns an Land verlustieren konnten. Das kam wieder von der Stiefmutter.

Das Einzige, was der Daisy May fehlte, war ein Hubschrauberlandeplatz. Wäre eine Segeljacht mit einer solchen Einrichtung im Angebot gewesen, Dad hätte sie mit Sicherheit gekauft. Aber der Anlass war ja das Ende meiner Schulzeit gewesen, und deshalb hatte er nehmen müssen, was gerade zu kriegen war.

Abgesehen von der Daisy May hatte er noch Folgendes erworben:

Damian, den erwähnten Kapitän. Auf eine altmodische Art war er ziemlich heiß, ähnlich wie Brad Pitt, mit funkelnden grünen Augen und irischem Einschlag.

Felipe, den Koch. Nicht heiß. Sprach Englisch mit sehr starkem Akzent. Dank der Proben, auf denen Dad bestanden hatte, wusste ich, dass Felipe phantastische Pfannkuchen backen konnte.

Tony, der… ich weiß nicht, wie man ihn nennen sollte. Vielleicht so etwas wie einen Fremdenführer oder Wachmann, beides in einem. Natürlich nicht der Anführer – das war offensichtlich mein Dad –, aber er war ein Mann, der wusste, wohin man gehen und was man sehen sollte und wohin man besser nicht ging. Dad hatte für den Kauf der Jacht einen komplizierten Vertrag ausgehandelt, und die Bank übernahm die Versicherung. Tony war Teil der Abmachung. Wenn Dad ohne ihn lossegeln wollte, musste er die Versicherung selbst bezahlen, und Dad konnte viel zu gut mit Geld umgehen, um auf so etwas einzugehen.

Am Ende sollte sich aber herausstellen, dass es doch kein so guter Einfall der Firma war, Tony mit auf die Jacht zu schicken.

Wie auch immer, Tony war eine Sechs, wenn wir über das Heißsein sprechen. Weder heiß noch unheiß. Er war einer dieser Männer, auf die man überall trifft – durchschnittliche Größe, durchschnittliches Gewicht, leicht ergrautes Haar. Er sprach, als stamme er aus dem West Country, aber das war auch schon das Interessanteste an ihm. Trotzdem war er nach Dad der mächtigste Mann an Bord. Ich meine, Damian war zwar der Kapitän, aber er war nur für die nautischen Belange zuständig. Tony sollte dafür sorgen, dass wir überlebten.

Sobald wir an Bord waren, ging ich in mein Zimmer – Dad bestand darauf, es meine Kajüte zu nennen – und packte meine Sachen aus. Ich hatte ein Doppelbett, einen Plasmabildschirm mit DVD-Player und ein eigenes Bad. Auf den Nachttisch stellte ich das Foto von Mom in dem Silberrahmen, auf dem sie mit mir schwanger ist. Es wurde in Griechenland am Pool aufgenommen. Sie lacht und kümmert sich in ihrem grünen Bikini nicht die Bohne um ihren riesigen Bauch.

Als ich meine Sachen auspackte, entdeckte ich die Geige. Sie lag ganz unten im größten Koffer. Eine Woche vor der Abreise war zusammen mit den Sachen, die ich mit Dads Kreditkarte gekauft hatte, ein komplettes Kofferset von Burberry in meinem Zimmer erschienen. Die Geige steckte wohlbehalten im gepolsterten Koffer unter meinen Sachen. Mir stockte der Atem.

Dazu müssen Sie wissen, dass die Geige in die Zeit vor dem Ereignis gehört. Ich weiß nicht, wer sie eingepackt hatte, ob mein Dad oder die Stiefmutter, aber ich glaube, es war mein Dad, und er hätte es doch besser wissen müssen. Der Anblick weckte alle Erinnerungen, die in mir umherschwirrten wie die Motten um das Licht. Das Licht war die Violine.

Zum Beispiel erinnerte ich mich an die Privatklinik an dem Tag, als die Twin Towers einstürzten.

Ich war zehn Jahre alt, und meine Mutter lebte seit einem Monat in dieser äußerst teuren Einrichtung in der Nähe von Cold Spring im Staat New York. Es ging ihr allmählich besser. Sie hatte ein paar Elektroschocktherapien bekommen, und nur die hatten ihr irgendwie geholfen. Aber seit ihrer Ankunft hatte sie gut siebzig Pfund zugenommen, und sie zitterte.

Ich erinnerte mich auch an den vorherigen Besuch, bei dem ich mit ihr im Speisesaal gesessen hatte. Sie hatte aus keinem ersichtlichen Grund losgeschrien und behauptet, die Schwestern wollten sie vergiften.

Ich weiß schon, was Sie denken: Therapien mit Elektroschocks gibt es nicht mehr. Da irren Sie sich aber gewaltig.

Dies war lange, bevor ich die Begriffe Zwangsstörung oder schwere klinische Depression kennenlernte, aber glauben Sie mir, ich wusste alles über diese Erkrankungen.

Am elften September hatte ich die Geige in die Klinik mitgenommen, weil ich mich an einer neuen Musikschule bewerben wollte und Mom sich gewünscht hatte, mich spielen zu hören. Das sei wie ein Sonnenstrahl in diesem Haus. Also ging ich auf ihr Zimmer, das eher einer Suite in einem wirklich schönen Fünfsternehotel ähnelte, auch wenn sie immer klagte, wie schlecht die Klinik sei, und spielte für sie. Ich hatte mich für ein Capriccio von Paganini entschieden, weil ich damit ein bisschen angeben konnte.

Mom lächelte, während ich spielte. Ich hatte sie seit Wochen nicht mehr lächeln sehen, und allein das öffnete mein Herz. Sie hatte recht – der Sonnenschein brach durch und brachte alles zum Erstrahlen.

Danach gingen wir nach unten in den Gemeinschaftsraum, wo der Fernseher lief und Domino gespielt wurde. Ich weiß bis heute nicht, warum sich seelisch Kranke immer so für Domino interessieren, aber jedenfalls lieben sie das Spiel. Andere spielten Karten oder plauderten. Die meisten sahen fern. Außerdem sabberten sie und so weiter. Es war ziemlich still wie in einem Wartezimmer, nur dass ich nicht wusste, worauf die Leute warteten. Vermutlich auf sich selbst. Ja, sie warteten auf sich selbst, damit es ihnen wieder besser ging.

Dann wurden einige der wacheren Patienten auf das Fernsehen aufmerksam. Jemand drehte die Lautstärke hoch, und auch ich beobachtete schließlich, was dort übertragen wurde.

»Es sind die Twin Towers«, erklärte Mom.

Das wusste ich schon. Dad arbeitete nur ein paar Blocks davon entfernt. An diesem Tag war er jedoch auf Geschäftsreise in Italien, weshalb ich Mom allein besuchte. Ganz allein war ich natürlich nicht. Unser Fahrer wartete auf dem Kiesweg auf mich, um mich zu unserem Apartment am Central Park zurückzubringen.

Auf dem Bildschirm stand einer der Türme in Flammen. Nun wurde es wirklich still ringsum. Ein Sprecher im Fernsehen berichtete über ein Flugzeug, das den Turm gerammt habe, was ich verrückt fand – und das war ironisch, wenn man bedachte, wo wir uns aufhielten. Es war, als sei der Ansager im Fernsehen viel verrückter als alle Zuschauer in diesem Raum. Zugleich dämmerte mir aber, dass sich ein schreckliches Unglück ereignet hatte.

Während wir zusahen, raste das zweite Flugzeug in den anderen Turm und explodierte. Die Patienten kreischten, und sogar ich – obwohl erst zehn – begriff, wie absurd es war, wenn man etwas so Verrücktes in einer Klinik voller gestörter Menschen und Drogenabhängiger beobachtete. Plötzlich kam Mom auf den Gedanken, dies sei ziemlich verstörend für ein kleines Mädchen, auch wenn ich die ganze Angelegenheit eher verwirrend als beängstigend fand. Sie nahm mich an der Hand und führte mich in ihr Zimmer. Ich sollte aber nicht mehr für sie Geige spielen.

Im Rückblick glaube ich, dies war wohl das letzte Mal, dass ich meine Mom wirklich gesehen habe. Nach 9/11 war sie nicht mehr die Alte. Inzwischen vermute ich, dass diese Katastrophe zu viel für sie war. Als sie in die Klinik gegangen war, die sich vor allem um Psychiatriepatienten kümmerte, war die Welt da draußen noch weitgehend normal gewesen. Die Russen und die Amerikaner hatten endlich aufgehört, einander mit Atomschlägen zu drohen, der Westen war sicher und reich, alles war in Ordnung. Auf einmal aber hatte sich die äußere Welt auf beängstigende Weise verändert, und irgendwelche Menschen, die nichts von Sicherheit, Autos und Hypotheken hielten, wollten einfach nur töten.

Aber vielleicht stimmt das gar nicht. Vielleicht war Mom das letzte Mal sie selbst, als sie damals die Klinik verließ und ich aus der Schule nach Hause kam und feststellte, dass sie mein Zimmer mit diesen Sternchen dekoriert hatte, die glühen, wenn man das Licht ausschaltet. Sie hatte es nicht so gemacht wie die meisten anderen, die ein paar davon unter die Decke kleben. Nein, es waren Hunderte, wenn nicht Tausende. Sie waren überall, auf jeder freien Fläche, denn ich sollte, wie sie es ausdrückte, nie vergessen, dass es Magie in der Welt gibt. Meine Mom hat oft solche übertriebenen Sachen gemacht. Mein Schlafzimmer in London hat sie genauso geschmückt.

Seitdem ist mein Zimmer, wenn ich das Licht ausschalte, wie ein Märchenland oder wie ein Observatorium, in dem ich das ganze Universum beobachten kann. Als es Mom noch gut ging, habe ich mich oft darüber gefreut.

Dann wurde sie wieder krank, alles war schrecklich, und die Sterne konnten mich nicht mehr trösten, weil ich mich wie im Gefängnis fühlte. In einem glühenden Gefängnis, das mich festhielt und daran erinnerte, dass Mom immer um mich herum war – das Größte überhaupt in meiner Welt –, dass sie aber nicht immer bei mir sein konnte.

So war Mom oft. Sie schenkte mir etwas Erstaunliches. Die Sterne, das Universum.

Aber irgendwann nahm sie es mir wieder weg.