5»Wir sind mit SSAS ausgerüstet«, erklärte Tony. Er wies uns im Kino in die Sicherheitsmaßnahmen des Schiffs ein. »Steht ein Angriff zu befürchten, drückt Damian als Erstes auf den Notrufknopf. Das ist ungefähr so, als würde man an Land den Notruf wählen. Alle, auf die es ankommt, erfahren sofort, dass wir in Schwierigkeiten stecken.«

»Moment mal«, wandte ich ein. »Warum sollten wir überhaupt Schwierigkeiten bekommen?« Ich hatte mich verspätet und wusste nicht genau, worum es ging.

»Piraten«, erklärte Tony. »Aus Somalia. Sie haben dieses Jahr schon ein paar Schiffe geentert. Aber uns dürfte nichts passieren. Wir fahren nicht an der somalischen Küste entlang, sondern nur ein Stück durch den Golf von Aden. Wir werden jederzeit genau auf halbem Wege zwischen Somalia und dem Jemen bleiben, also hundertfünfzig Kilometer von Somalia entfernt.«

»Wie beruhigend.«, sagte ich. »Von den verdammten Piraten hast du mir bisher noch nichts gesagt, Dad.«

»Da hat Amy sogar recht«, schaltete sich die Stiefmutter ein. »Niemand hat etwas von Piraten erwähnt. Warum weichen wir ihnen nicht einfach aus?«

»Das ist nicht möglich«, erklärte Damian, der hinten in einem Lehnstuhl saß. »Wir wollen vor dem Monsun in Südindien sein, und das heißt, dass wir hier entlangfahren müssen.«

»Wir können allerdings Vorkehrungen treffen«, beruhigte Tony uns. Er baute sich vor dem Bildschirm auf, nahm eine Fernbedienung und drückte auf einen Knopf. Der Film zeigte ein kleines Holzboot, das über die Wellen hüpfte. Darin saßen Männer, die Piratenkopftücher trugen. Sie waren bewaffnet, einer trug sogar eine Bazooka auf der Schulter. Anscheinend war der Film vom Deck eines größeren Schiffs aus aufgezeichnet worden, denn wir blickten nach unten. Das Boot der Piraten näherte sich, einer der Männer streckte sich, um das Netz an der Seite des größeren Schiffs zu packen. Der Kameramann beugte sich vor und richtete das Objektiv nach unten, um alles aufzunehmen.

Doch dann kam aus dem Nichts ein Wasserstrahl, der das Gesicht des Piraten traf und ihn in das kleine Boot zurückwarf.

»Ein Wasserschlauch.« Tony hielt den Film an. »Wir haben einen auf jeder Seite der Jacht, um Brände zu löschen. Wenn uns Piraten angreifen, können wir die Wasserwerfer besetzen und Angriffe abwehren.«

»Das klingt ja, als könnte wirklich was passieren«, wandte ich ein.

»Wir müssen vorbereitet sein«, erklärte Tony. »Ein starker Wasserstrahl kann die Piraten vom Entern abhalten. Achten Sie alle darauf, dass keine Knoten im Schlauch sind – das kann den Unterschied zwischen einer Gefangennahme und der Freiheit ausmachen. Die Wasserwerfer sind stark genug, wenn man sie richtig einsetzt. Mister Fields, ich bitte Sie, die Steuerbordseite zu übernehmen, wenn es Ihnen recht ist. Ich übernehme die Backbordseite. Damian muss auf der Brücke bleiben, um Kontakt zur Marine aufzunehmen, falls wir sie erreichen können. Sobald die Düse ausgerichtet ist, öffnet man einfach den Absperrhahn und trifft die Gegner.«

»Na gut«, sagte ich. »Die haben Bazookas, wir haben Wasserpistolen.«

Tony funkelte mich an.

»Es kommt vor allem darauf an, sie am Entern zu hindern«, widersprach er. »Sie werden nicht schießen, weil wir lebendig viel mehr wert sind. Solange wir sie am Entern hindern, ist alles in Ordnung. Dazu brauchen wir die Wasserwerfer. Außerdem werden wir ab sofort Knotenseile hinter uns herschleppen. Die verhindern, dass Boote von hinten aufschließen können, weil sich die Seile in den Außenbordmotoren verfangen. Zudem fahren wir von morgen Abend an dunkel.«

»Dunkel?«, fragte ich meinen Dad.

»Verdunkelung wie im Krieg«, erläuterte Tony. »Nachts löschen wir alle Lichter und ziehen die Vorhänge vor. Wir wollen nicht aus weiter Ferne bemerkt werden.« Er deutete auf einen Tisch, wo sich zusammengerollte schwarze Abfalltüten, Laken und Handtücher stapelten. »Sie alle helfen bitte beim Verdunkeln der Fenster mit«, fuhr er fort. »Kein Schimmer darf nach draußen dringen.«

»Wenn sie Radar haben, sehen sie uns aber trotzdem«, wandte Damian ein und zwinkerte mir zu.

»Haben Piraten überhaupt Radar?«, fragte die Stiefmutter entsetzt. Tony warf Damian einen bösen Blick zu.

»Ein paar schon«, gab Tony mit seinem West-Country-Akzent zu. »Manche sind… manche sind ganz gut ausgerüstet.«

Dad machte eine geringschätzige Geste.

»Das habe ich mir schon angesehen«, erklärte er. »Die Wahrscheinlichkeit liegt bei null Komma eins Prozent. Deshalb benutzen die großen Schifffahrtslinien immer noch diese Route. Selbst wenn man das Risiko durch die Piraten berücksichtigt, ist es billiger, die Ladungen auf diesem Weg zu verschiffen, als Geld für Treibstoff auszugeben und um das Horn von Afrika zu fahren. Die Lösegelder, die die Piraten verlangen, sind vielleicht hoch, aber die Wahrscheinlichkeit, ihnen zu begegnen, ist unendlich gering.«

»Null Komma eins Prozent ist nicht unendlich klein«, erwiderte die Stiefmutter. »Das ist immer noch eins zu tausend.«

Manchmal vergaß ich, dass sie als Broker in Dads Bank gearbeitet hatte, ehe die beiden zusammengekommen waren. Also war sie nicht ganz und gar dumm.

»Ja, schon«, räumte er ein. »Aber das ist immer noch sehr unwahrscheinlich. Ehrlich, jeden Tag passieren zig Schiffe den Golf von Aden, ohne geentert zu werden. Die Marineeinheiten aus Frankreich, Großbritannien und den USA fahren ständig Patrouille. Außerdem sind wir kein großes Containerschiff. Aus der Ferne und im Radar wirken wir wie ein Fischerboot oder ein anderes unbedeutendes Fahrzeug.«

»Genau«, stimmte Tony zu. »Wir schalten auch das AIS ab.«

»AIS?«, fragte ich.

»Das automatische Informationssystem«, erläuterte Tony. »Es sendet unsere Kennung, unsere Position, die Route und alles über uns an alle Empfänger im Umkreis von hundert Kilometern. Im Grunde verrät es allen anderen Schiffen, wo wir uns aufhalten. Wenn wir es abschalten, wissen viele Piraten einfach nicht mehr, dass wir überhaupt da sind. Und falls sie es wissen, erkennen sie nicht, dass wir eine Jacht sind.«

Ich dachte einen Moment lang nach.

»Dann weiß die Marine auch nicht mehr, dass wir da sind, oder?«

Tony runzelte die Stirn.

»Äh, nein.« Er hielt inne. »Aber das ist in Ordnung, weil wir noch das SSAS haben. Das Alarmsystem. Jedenfalls nutzen die Piraten zum Angriff kleine Boote und können sich somit nicht weit von der somalischen Küste entfernen.«

»Es wird sowieso nichts passieren«, meinte Dad. »Auf keinen Fall.«

Er hatte recht.

Es passierte nichts.

Zumindest in der ersten Nacht nicht.

Nach der Unterweisung gingen wir alle rundherum und hängten Sachen vor die Fenster und Bullaugen – Müllsäcke, Kleidung, Handtücher, alles Mögliche. Draußen schraubten wir die Birnen heraus, die nachts das Deck beleuchteten.

In dieser Nacht segelten wir verdunkelt vom Roten Meer in den Golf von Aden hinaus.

Es war ein eigenartiges Erlebnis. Wir konnten nicht lesen oder fernsehen, weil der Widerschein zu sehen gewesen wäre. Deshalb aßen wir früh zu Abend, und danach ging ich in mein Zimmer, legte mich aufs Bett und hörte im Dunklen Musik.

Als ich aufwachte, war es Morgen, und mein iPod war stumm.

Wir frühstückten auf dem Deck. Felipe hatte Rührei und Croissants gemacht, dazu gab es wie immer Müsli, Obst und Kaffee. Es war ein schöner Tag, die Sonne stand wie ein Klecks aus geschmolzenem Metall am Himmel, ein paar Wolkenfetzen zogen über uns vorbei. Die See war ruhig, und eine leichte Brise wehte, weshalb wir das Hauptsegel gesetzt hatten. Damian hielt es für besser, so oft wie möglich das Segel zu nutzen, um Treibstoff zu sparen.

Nach dem Frühstück blieb ich an Deck und beobachtete das Meer und die unendlichen Farben. Oft schimmerte das Wasser wie Silber oder Stahl im Licht. Dann erschienen unzählige Türkistöne, dann wieder wurde es so blau, wie ein Meer eigentlich sein sollte, auch wenn man es nur selten so sah. Es war inzwischen auch recht heiß, gut vierzig Grad.

Etwa eine Stunde später bemerkte ich etwas vor uns am Horizont. Ich beobachtete es eine Weile, bis ich sicher war, dass es sich um ein Schiff handelte. Es war recht groß, womöglich ein Tanker oder ein Trawler, also machte ich mir keine Sorgen.

Trotzdem ging ich nach drinnen und stieg die Treppe zur Brücke hinauf. Damian blickte mit einem Fernglas durch die großen Fenster hinaus.

»Dann hast du es auch bemerkt«, sagte ich.

»Ja. Sieht aus wie ein Trawler, aber ich kann mich irren. Gut, dass die Segel gesetzt sind, so kann ich elf Knoten aus ihr herausquetschen.«

»Äh, na gut.«

Er lächelte.

»Entschuldigung, die Macht der Gewohnheit. Entspann dich einfach! Das sind auf keinen Fall Piraten. Es ist ein großes altes Fischerboot, wahrscheinlich aus dem Jemen.«

Ich kehrte auf das Deck zurück. Da war wieder der Nachteil einer Jacht: Sie ist sehr langsam. Es dauerte eine gute Stunde, bis der Trawler nahe genug war und wir ihn genau betrachten konnten, und dann noch einmal eine halbe Stunde, bis wir ihm mit dem Wind im Rücken ausweichen und auf Distanz bleiben konnten.

Irgendwann war er hinter uns im Kielwasser, schrumpfte zu einem kleinen Punkt und verschwand schließlich ganz.

Erst als ich die Schultern sinken ließ, merkte ich, wie stark ich mich verkrampft hatte. Ich legte mich bequem hin und nahm eine Ausgabe von GQ zur Hand, die irgendjemand, vermutlich Damian, liegen gelassen hatte.

Als ich die Zeitschrift halb durchgeblättert hatte, ertönte das Horn des Schiffs, und ich sprang einen Meter senkrecht in die Luft. Sofort rannte ich wieder hinein und zur Brücke hinauf.

Daniel stand fluchend am Ruder.

»Was ist?«, fragte Tony, der gleich hinter mir heraufgepoltert kam.

In meinem Kopf dröhnten die schrillen Akkorde, die Bernard Herrmann in Psycho eingesetzt hatte: Es und Ges zusammen, immer wieder, um die Stiche in der Dusche zu untermalen. Ich wusste schon, dass es eine schlimme Wendung nehmen würde, weil ich im Kopf diese dissonante Musik hörte. Ich glaube, meine Instinkte schrien mir etwas zu.

»Dingis«, sagte Damian. »Mit Außenbordmotor. Sie haben von hinten zu uns aufgeschlossen.«

Als er sprach, schob sich links der Bug eines kleinen Boots vor, das jedoch gleich wieder zurückfiel. Darin bemerkte ich auch einen Mann, der ebenfalls schnell wieder verschwand.

»Verdammt!«, schimpfte Tony. »Der Trawler?«

»Ja. Anscheinend war er so etwas wie ein Mutterschiff.«

»Ein Mutterschiff?«, fragte ich. Es klang nach Science-Fiction, was ich auf der Brücke der Jacht inmitten der öden See ziemlich unpassend fand. Natürlich dachte ich auch an meine Mutter, was ich nicht ganz so daneben fand. Für mich ist das Wort Mutter nicht mit Sicherheit verbunden. Es birgt sogar eine Menge Gefahr in sich, auch ohne dass man das Wort Schiff hinzufügt und das Ganze auf Piraten bezieht.

»Ich habe bisher nur davon gehört und wusste nicht, ob es ein Gerücht war oder nicht«, meinte Tony.

»Verdammt, verdammt, verdammt.« Grunzend wirbelte Damian das Ruder herum und schob den Hebel ganz nach vorn.

Die Jacht ruckte, war aber zu langsam. Links neben uns erschien wieder ein Dingi, in dem sich die Silhouetten bewaffneter Männer abzeichneten.

»Was ist ein Mutterschiff?«, fragte ich. Meine Stimme klang belegt.

»Die Piraten können lange auf einem solchen Schiff leben«, erklärte Tony. »Ein großes Schiff kann viele Vorräte mitführen. Sie machen kleine und schnelle Boote daran fest und können auf diese Weise mitten auf dem Meer angreifen. So sind sie nicht mehr auf küstennahe Gewässer beschränkt und…«

»Hast du nicht was Besseres zu tun?«, fiel Damian ihm ins Wort.

»Oh«, sagte ich.

Mir wurde übel. Ein richtig fieses, ekliges Gefühl in der Magengrube.

»Was ist hier los?« Dad kam herein. Er trug seine Badehose, die graue Brustbehaarung und der Schmerbauch waren deutlich zu sehen. Wahrscheinlich hatte er auf dem hinteren Deck ein Sonnenbad genommen.

»Anscheinend Piraten«, berichtete Tony überraschend ruhig. »Gehen Sie an Ihren Wasserwerfer, ich besetze meinen.«

»Aber Sarah schläft noch…«

»Lassen Sie sie schlafen. Besetzen Sie den Wasserwerfer!«

Damian drückte auf einen roten Knopf im Steuerpult und hob das erste der beiden Satellitentelefone ab. Er grunzte enttäuscht, legte auf und nahm das zweite Telefon. Er wählte eine Nummer.

»Ja, Admiral«, sagte er nach einer Pause. »Hier ist die zivile Jacht Daisy May. Unsere Position ist11°93’ nördlicher Breite und 44°32’ östlicher Länge. Wir werden von Piraten angegriffen. Ich wiederhole, wir werden von Piraten angegriffen.«

In diesem Moment erschien das Dingi wieder. Es hüpfte auf den Wellen und überholte uns. Drei Männer waren an Bord, die sich mit einer Hand an der Seite festhielten.

»O mein Gott!«, stieß ich hervor, als mir auffiel, was sie in den freien Händen hielten.

»Die sind bewaffnet«, erklärte Dad, als sei das nicht völlig offensichtlich.