18Eigentlich war ich meiner Mom nicht böse. Ich bin es auch heute nicht. Ich will damit sagen, dass ich ihre Tat verstand. Es ging ihr nicht gut, und sie wollte dem Elend ein Ende bereiten. Ich glaube, ich konnte ihre Entscheidung respektieren.

Der einzige Abschiedsbrief war eine kurze, an mich gerichtete Nachricht. Am Abend, nach dem Krankenhaus, fand ich ihn unter dem Kopfkissen. Nach dem Wartezimmer. Nachdem man uns den kleinen Beutel mit ihrem Ehering gegeben hatte, den ich jetzt am Ringfinger trage. Es ist mir egal, ob jemand denkt, ich sei verlobt. Die Handtasche und die Börse mit meinem Kinderfoto gab man uns nicht, weil sie mit Blut bedeckt waren – verunreinigt, wie die Sekretärin im Krankenhaus sagte. Diese Sachen mussten verbrannt oder eingeäschert werden.

Meinem Dad habe ich nie von dem Abschiedsbrief erzählt. Auch den Anruf habe ich nie erwähnt. Werfen Sie mir das vor? Ich wollte eben nicht offen zugeben, dass ich sie getötet hatte, dass ich ungeheuer dumm gewesen war und nicht begriffen hatte, was sie plante.

Der Brief unter meinem Kopfkissen war ganz kurz:

Wir sind Sternenstaub.

Ich ballte die Hand zur Faust und zerknüllte den Zettel. Laut rasselte der Atem in meiner Brust. Alles strahlte sehr hell.

Im Geist war ich wieder mit Mom am Strand auf dem North Fork. Ich war noch klein, vielleicht neun Jahre alt. Sie zeigte mir die Sterne. Der North Fork ist den Hamptons ähnlich, aber weniger aufgetakelt, wie Dad es ausdrückte. Kurz nach seiner ersten großen Beförderung hatte er das Haus gekauft. Es steht in der Nähe einer Kleinstadt namens Greenport, wo es einen Jachthafen, viele Antiquitätenläden und ein paar Bars und Restaurants gibt. Im Emilio’s aßen wir immer Pizza, im Sound View beobachteten wir das Meer und bestellten Krabben und Hummer.

Vor allem fuhren wir wegen der Aussicht nach North Fork. An unserem Ende, dem entfernten, ist die Halbinsel sehr schmal. Dort überwiegt die Landwirtschaft: Mais und Kürbisse, die in der entsprechenden Jahreszeit am Straßenrand auf Karren verkauft werden. Außerdem Wein und Weintrauben. Zu beiden Seiten sieht man hinter den unglaublich langen Stränden das Meer in der Sonne glitzern oder bei schlechtem Wetter im Zwielicht schimmern. Das Land ist flach, es gibt nur einige Dünen, die Seevögel und die Grasinseln. Es ist schön.

Besonders bei Nacht. Im Vergleich zu New York und anderen Gegenden gibt es dort nur sehr wenig Licht. Die Sterne platzen förmlich aus der Finsternis hervor.

»Daraus sind wir gemacht«, sagte Mom zu mir, dem neunjährigen Mädchen, als sie zum Himmel deutete. »Wusstest du das?«

»Was?«

»Sternenstaub. Daraus sind wir gemacht.«

»Nein, sind wir nicht«, widersprach ich, weil ich gerade etwas in der Schule gelernt hatte. »Wir sind aus DMS gemacht.«

»DNS«, berichtigte Mom mich. »Und das ist ganz richtig. Aber ich meine Dinge, die noch viel kleiner sind. Dazu muss man bis zum Urknall zurückgehen. Was ist damals passiert? Es gab eine große Explosion, die Kohlenstoffatome und Materiebrocken in alle Richtungen schleuderte. Aus einigen sind Sterne geworden, aus einigen die Monde. Aus einigen sind wir entstanden.«

»Sind wir wirklich aus den gleichen Sachen gemacht wie die Sterne?«

»Ja, Liebes. Auf der Ebene von Partikeln stimmt das.«

»Wow«, sagte ich, das neunjährige Mädchen.

»Und wenn unser Stern stirbt – ich meine die Sonne –, dann wird sie zur Supernova, und wir werden alle wieder zu Kohlenstoffatomen und schweben durch das Universum. Dann ist alles, was je gelebt hat, wieder zusammen und schwebt in winzigen Stückchen durch das All, bis schließlich ein neuer Stern entsteht. Wenn wir sterben, könnten du und ich eines Tages in demselben Stern zusammen sein.«

Damals achtete ich nicht richtig darauf.

»Die Sonne stirbt?«, fragte ich. »Wann denn?«

Ich hatte Angst bekommen. Im Rückblick finde ich Moms Worte von damals ziemlich schräg. So etwas sollten Eltern ihren kleinen Kindern nicht erzählen. Außerdem hätten dabei alle möglichen Alarmsignale anschlagen müssen, aber ich war nur ein Kind, und wenn ich überhaupt etwas hörte, dann begriff ich nicht, dass es ein Alarm war. Ich war wie ein Säugling im Krieg, der den Luftalarm für ein Wiegenlied hält.

»Nein, meine Kleine, das tut mir leid«, lenkte sie ein. »Ich wollte dir keine Angst machen. Die Sonne wird noch sehr lange scheinen. Noch Milliarden von Jahren.«

»Oh, na gut.«

»Aber wichtig ist, dass es nicht das Ende ist, wenn wir sterben. Die Atome leben ewig. Du und ich, wir könnten auch aus einem Stückchen von einem Dinosaurier bestehen.«

»Aus einem Dinosaurier?«

»Ja. Du und ich, wir könnten denselben T-Rex in uns haben.«

Ich hob die Hände, fletschte die Zähne und brüllte. Mom spielte mit und quietschte. Brüllend und kichernd jagte ich sie über den Strand.

Sechs Jahre später fand ich die Nachricht in meinem Zimmer und setzte mich aufs Bett, weil sich in meinem Kopf alles drehte.

Ich wusste, was sie mir sagen wollte: Eines Tages würden wir uns in einem Stern wiedersehen.

Wie kann sie es wagen?, dachte ich.

An diesem Abend entfernte ich alle selbst leuchtenden Sterne aus meinem Zimmer, trug sie in den hinteren Garten, kippte Feuerzeugbenzin darüber und verbrannte sie. Mein Vater fragte nie nach dem Grund.