8Die Piraten pflanzten uns auf die Sofas und Lehnstühle im Kino. Ich saß neben Dad, der meine Hand hielt.

»Es ist alles in Ordnung, Amy«, flüsterte er. »Wir sind lebend mehr wert als tot.«

Wie beruhigend, dachte ich. Dann sah ich ihn an.

»Warte mal – du bist lebend mehr wert. Du bist reich. Ich bin bloß deine Tochter.«

»Sei nicht albern!«, widersprach Dad. »Wir sind alle wertvoll.«

»Wirklich?«, fragte Felipe. »Ich habe kein Geld.«

»Darauf kommt es nicht an«, erwiderte Dad. »Es ist eine einfache Rechnung. Wenn einer von uns stirbt, bekommen die Piraten überhaupt kein Lösegeld, ganz egal, wie viel wir sonst gezahlt hätten.«

Auch das fand ich nicht sonderlich beruhigend. Ich fing Felipes Blick auf, der sich anscheinend das Gleiche fragte wie ich: Gibt es einen Punkt, von dem an Dad nicht mehr die Wahrheit sagt?

Angenommen, Felipe starb. Oder Tony. Würde Dad dann nicht trotzdem noch bezahlen, um die restlichen Überlebenden auszulösen?

Allerdings sagte ich nichts dazu. Ich war der Ansicht, es sei nicht gut für die Moral.

Inzwischen hatte ich eigentlich auch keine Angst mehr. Ich fühlte mich eher betäubt. Das war wohl der Schock. Oder ich bin eben so. Ich meine, irgendwie bin ich tatsächlich eine taube Nuss. Innen bin ich leer wie ein Schokoladenosterhase. Das ist aber kein Selbstmitleid, auch wenn es vielleicht so klingt. Es ist einfach so.

Tony lag ausgestreckt auf dem großen Ledersofa. Ein Pirat hatte ihn hochgehoben und dort abgelegt. Ich achtete inzwischen kaum noch auf die Unterschiede zwischen den Piraten – ich wusste nicht einmal, wie viele es waren –, aber dieser eine war mir sofort unheimlich. Er trug ein rotes Stirnband, hatte ein schwaches Kinn und harte Augen. Ausdruckslose Augen. Tote Augen. Die Kabinenwände strahlten mehr menschliche Wärme aus als diese Augen.

Der Jüngere kam mit einem Verband aus Stoffstücken und versorgte geschickt Tonys Bein. Ich hoffte, dass der Verband sauber war. Es sah zumindest danach aus. Dann gab der Pirat dem mit den kalten Augen einen Befehl, oder jedenfalls klang es danach, und ging. Der Mann beachtete uns nicht. Er holte so etwas wie Kautabak hervor – Khat, wie ich später erfuhr –, schob ihn sich in den Mund und kaute. Schließlich ging er zu dem Stuhl in der Ecke, setzte sich und schloss die Augen.

Tony rührte sich, zuckte vor Schmerzen zusammen und wandte sich an Damian.

»Hast du jemanden alarmiert?«, fragte er leise.

»Ja. Die Royal Navy und SSAS

»Gut.«

»Was macht dein Bein? Hast du starke Schmerzen?«

»Geht so«, sagte Tony. »Die Kugel hat nur eine Fleischwunde gerissen. Ich hatte Glück.«

»Verschwinden sie wieder, wenn sie unser Geld und unsere Sachen haben?«, fragte ich die Stiefmutter.

»Ich fürchte nicht«, antwortete Dad an ihrer Stelle.

»Warum nicht

»Sie verlangen ein Lösegeld.«

»Dann zahl! Zahl ihnen, was immer sie wollen!«

»Ja«, stimmte Felipe zu. »Bitte bezahlen Sie die Männer. Ich will nach Hause.«

Der Pirat mit dem Stirnband öffnete kurz die Augen, grunzte, wackelte ein wenig mit der Waffe und schloss die Augen wieder. Es war jetzt schon klar, dass ich den Kerl nicht leiden konnte.

»Ganz so einfach ist das nicht«, wandte Tony ein. »Es gibt eine Versicherung. Außerdem die Royal Navy. Wir müssen erst mal abwarten und sehen, was sie eigentlich verlangen.«

»Um Gottes willen!« Die Stiefmutter brach wieder in Tränen aus.

Ich fing Damians Blick ein. Er lächelte leicht, die irischen Grübchen blitzten wie kleine Lichter.

Kurz danach kam der Anführer herein. Er deutete auf sich.

»Ahmed«, stellte er sich vor.

Da erst bemerkte ich die Narbe, die vom linken Augenwinkel bis zum Kinn verlief. Er war eine starke Persönlichkeit, was wohl vor allem die klugen und strahlenden Augen verrieten. Ich will damit sagen, ich erkannte gleich, warum er der Anführer war.

Dann deutete Ahmed auf den jüngeren Mann, der so gut Englisch sprach.

»Das ist Farouz. Ich bin Boss, Farouz ist Übersetzer. Alles klar?«

»Alles klar«, antwortete Dad. »Ich bin…«

»Nein. Du hast keinen Namen. Du bist Nummer Eins. Die da ist Nummer Zwei. Und sie…«

Er ging herum und gab uns neue Namen. Ich war Nummer Drei, wie gesagt. In diesem Moment lief es mir kalt über den Rücken. Ich weiß ja, wie abgegriffen so etwas klingt, aber dieses Kältegefühl breitete sich wirklich auf meinem ganzen Rücken aus. Es war nämlich offensichtlich, warum sie uns Zahlen zuteilten. Es ist viel schwieriger, einen Menschen zu töten, dessen Namen man kennt. Sie machten weiter und nummerierten auch Tony, Damian und Felipe durch. Felipe war der Letzte, er war Nummer Sechs. Wider Willen war ich ziemlich beeindruckt, weil die Piraten die Hackordnung so schnell erfasst hatten. Sie erkannten beispielsweise, dass Damian der Kapitän war, Tony aber im Grunde über ihm stand.

»Jetzt«, verkündete Ahmed, »jetzt will ich Safe mit zehntausend Dollar.«

»Soll ich das Geld holen?«, fragte mein Dad.

»Nein. Du bringst mich hin.«

Er winkte mit seinem AK-47, damit Dad vor ihm durch die Tür trat. Dad warf uns einen Blick zu, hob die Schultern und ging. Ahmed folgte ihm.

Als sie draußen waren, sah Farouz sich Tony an. Er wurde wütend und ging zu dem anderen Piraten, dem Beängstigenden, der kaute. Als Farouz vor ihm stand und ihn anbrüllte, öffnete der Mann gelassen die Augen. Ich hörte mehrmals das Wort biyo.

Der Pirat mit den toten Augen und dem roten Stirnband seufzte, stand auf und ging hinaus. Farouz wippte ungeduldig mit dem Fuß. Gleich darauf kehrte der andere Mann mit einigen Wasserflaschen zurück. Eine reichte er Tony, die anderen stellte er auf den gläsernen Kaffeetisch. Dann setzte er sich wieder.

»Danke«, sagte Tony.

»Gern geschehen«, antwortete Farouz. »Sie hätten es schon früher bekommen müssen«, fügte er hinzu und warf dem anderen Mann, der eine verächtliche Grimasse schnitt, einen wütenden Blick zu.

Das fiel mir auf. Ich meine, dass er nett zu uns war. Gleichzeitig dachte ich darüber nach, wie der andere Pirat hinter Farouz’ Rücken eine Grimasse geschnitten hatte. Falls sie einmal untereinander kämpften, waren solche Konflikte vielleicht von Vorteil für uns. Ich glaube, die Tatsache, dass ich auf diese Weise und derart strategisch nachdenken konnte, bewies doch nur, in welcher Verfassung ich mich befand.

Einerseits hatte ich zweifellos einen Schock, andererseits war meine Wahrnehmung übersteigert. Die Wände schienen zu pulsieren, als wären sie lebendig. Keine Einzelheit entging mir – die Pinselführung der originalen englischen Aquarelle an den Wänden, die Flecken im beigefarbenen Teppich. Es war, als hätte jemand den ganzen Raum unter Wasser erstarren lassen und als wirke das Wasser wie ein Vergrößerungsglas, während es die Geräusche gespenstisch dämpfte.

»Wie lange wollen Sie uns hier festhalten?«, fragte die Stiefmutter.

Farouz schien überrascht.

»Hier in diesem Raum? Keine Ahnung. Eine Stunde vielleicht. Wir durchsuchen nur das Boot. Danach dürfen Sie sich frei bewegen.«

»Wir können gehen, wohin wir wollen?«, fragte die Stiefmutter.

»Warum nicht? Es gibt überall Wachen, also können Sie nicht fliehen. Auf dem Boot dürfen Sie sich frei bewegen. Sie werden aber alle zusammen in diesem Raum schlafen. In Ordnung?«

»In Ordnung«, bestätigte Tony, der offenbar Autorität zeigen wollte, was Farouz allerdings herzlich gleichgültig war, sofern ich seiner Miene trauen konnte.

Danach schwiegen wir eine ganze Weile. Schließlich kehrte Ahmed zurück, Dad folgte ihm. Ahmed hatte einige Stapel mit Banknoten mitgebracht und lächelte. Einen Packen warf er Farouz zu und lachte dabei. Dann machte er eine Geste mit abgespreiztem Daumen, worauf der andere Mann hinausging.

Der Mann mit den toten Augen sagte noch etwas in seiner Sprache, die aus harten Kehllauten und erstickten L-Lauten zu bestehen schien, als wolle der Sprecher jeden zweiten Buchstaben verschlucken wie einen Bissen Nahrung. Dann stieß er ein langes und hartes Lachen aus und verschwand.

»Was war das?«, fragte die Stiefmutter. »Was hat er gesagt

»Nichts«, antwortete Farouz.

Und ich dachte: Er ist der mit der Waffe. Er gibt sich nicht einmal Mühe, gut zu lügen.