13Als Geiseln auf der Daisy May gerieten wir in eine seltsame Zeitschleife. Ich könnte Ihnen heute nicht mehr sagen, wie lange wir segelten – fünf Tage oder eine Woche? –, weil ich es gar nicht weiß. Ich erinnere mich nur noch, dass wir mehrere Tage brauchten, um die somalische Küste zu erreichen. Aber in einer solchen Situation verliert man leicht das Zeitgefühl, bis man nicht einmal mehr sagen kann, ob nun gerade Wochenende ist oder nicht. Alles gerinnt zu einem einzigen Tag voller Ängste.

Wir gewöhnten uns auch an die Gebete, deren regelmäßiger Ablauf zu der Eintönigkeit beitrug. Am ersten Morgen wachte ich auf, als einer der Männer zu singen begann. Ich glaube, es war Ahmed. Ich blickte auf Tonys Armbanduhr und sah, dass es erst fünf Uhr war. Ich konnte es nicht glauben. Diese Stimme in der Dunkelheit, dieses endlose »Allahu akbar, Allahu akbar…«. Es war wie ein Weckruf oder eine Erinnerung zu nachtschlafender Zeit, damit ich das Wichtigste nicht vergaß: Somalische Piraten hatten unser Boot geentert.

Als ich sie eines Nachmittags zum ersten Mal sah, wie sie die kleinen Teppiche ausbreiteten und niederknieten, war ich überrascht, dachte ich doch, sie müssten sich nach Osten wenden. Später erwähnte ich es Tony gegenüber, der mich groß ansah, als wäre ich unglaublich dumm. Mekka lag von uns aus gesehen im Norden und nur ein kleines Stück nach Osten verschoben, erklärte er mir.

Einmal kam Damian ins Kino herunter und sagte, er habe über das Satellitentelefon einen Anruf angenommen. Ahmed sei gerade bei ihm gewesen und habe ihm erklärt, wohin er segeln müsse. Damian hatte abgenommen, nachdem Ahmed anscheinend nichts dagegen gehabt hatte. Es war tatsächlich die Royal Navy gewesen! Man folgte uns und wusste, wo wir waren, und wir sollten durchhalten.

»Ahmed hat das alles mitgehört«, erklärte Damian im Kino. »Danach hat Ahmed mir den Hörer abgenommen und der Marine gesagt, sie sollten nicht wieder anrufen. Wir rufen an. Dann hat er aufgelegt. Die ganze Zeit war er völlig ruhig. Es hat ihn überhaupt nicht gestört.«

In mir, in den dunklen Verstecken meines Bewusstseins, wand sich etwas wie ein Aal.

»Warum stört es ihn nicht…«, begann ich.

»Denk doch nach!«, erwiderte Tony. »Was soll die Royal Navy unternehmen? Die Piraten haben Geiseln in ihrer Gewalt. Damit sind die Waffen der Marine nutzlos.«

Es war ein ernüchternder Gedanke.

Endlich kam das Land in Sicht. Es sah so ähnlich aus wie Ägypten, aber wilder und… irgendwie schien es älter zu sein.

»Ku soo dhawaada Somaliland«, sagte Ahmed, als wir uns dem Strand näherten. »Willkommen in Somalia.«

Wir hielten auf einen geschwungenen weiten Sandstrand zu, auf dem viele kleine Holzboote lagen. Sie waren umgekippt und wirkten außerhalb des Wassers fehl am Platz. Wie Spielzeug, das ein Riese weggeworfen hat. Hinter dem Strand erhoben sich Dünen, dahinter Felsen, die zu Bergen anwuchsen und Tausende von Rottönen aufwiesen, die sich stetig veränderten und in allen Regenbogenfarben schimmerten, wenn Wolken vor der Sonne vorbeizogen.

Und zwischen dem Sand und den Bergen

»Eyl«, grinste Ahmed.

Ich war nicht sicher, worauf er so stolz war. Abgesehen von dem Sand sah ich nur ein paar Hütten, einen einsamen Pick-up, einen verschrumpelten Baum und Ziegen, die hier und dort angebunden waren. Ein Teil des Orts verbarg sich hinter den Dünen oder den Felsen, aber besonders beeindruckend war das alles nicht.

»Zum Fischen?«, fragte ich und zeigte auf die vielen kleinen Boote.

Ahmed lachte und deutete hinter mich.

Ich wandte mich um. Wir standen auf dem Vorderdeck, von dem aus ich die Küste beobachten konnte. Deshalb hatte ich weder den Tanker gesehen, der einen Kilometer entfernt vor Anker lag, noch das etwas weiter entfernte Containerschiff.

»Für Proviant«, erklärte er. »Aus dem Ort.«

Ich starrte nur. Die kleinen Boote dienten dazu, Proviant auf die Jacht zu schaffen. Außerdem lagen vor Eyl noch andere Schiffe, die ebenfalls gekapert worden waren. Wir waren nicht die Einzigen. Das machte die Sache sogar noch beängstigender. Es war, als sei die Piraterie der Haupterwerbszweig dieser Stadt.

In den folgenden Tagen erkannten wir, dass dies absolut der Wahrheit entsprach. Es war unmöglich, die Piraten im Auge zu behalten, weil ständig Motorboote kamen und wieder abfuhren, um Wächter abzulösen und Lebensmittel zu bringen.

In dieser Zeit aßen wir noch die Vorräte von unserem Schiff, die Felipe für uns zubereitete. Die Piraten aßen zu jeder Mahlzeit Nudeln, nichts als Nudeln. Einer von ihnen zündete den Gasofen an, und dann kochten sie stundenlang den Inhalt der Dosen, die sie an Bord gebracht hatten. Es sah widerlich aus.

Oh, und der Kaffee! Den Kaffee darf ich nicht vergessen.

Ich glaube, am dritten Tag nach der Ankunft in Eyl sahen wir, wie sie ihn zubereiteten. Ich ging mit Tony draußen über den Laufgang, der die beiden Decks miteinander verband. Er durfte sich die ganze Zeit frei bewegen. Wir kamen am Bullauge der Kombüse vorbei, wo wir eine Bewegung bemerkten. Drinnen hockte ein Pirat vor einer großen Spülschüssel und schraubte gerade den Deckel einer Kaffeebüchse ab. Die Schrift war arabisch, also stammte sie vermutlich nicht aus unseren Vorräten. Er kippte die ganze Dose in die Spülschüssel, richtete sich auf und ging zum Lagerschrank. Mit einem Paket Zucker kehrte er zurück und kippte das ganze Kilo dazu. Dann trug er die Schüssel zum Wasserhahn und ließ kaltes Wasser einlaufen.

»Was zum…«, begann Tony.

Der Pirat nahm den Metallbecher, der an seinem Hosenbund hing, tauchte ihn in das grässliche Gebräu und nippte daran. Offensichtlich zufrieden verließ er mit der Schüssel die Kombüse.

»O Himmel!«, stöhnte ich.

»Ja«, meinte Tony. »Felipe darf das auf keinen Fall sehen.«

Ich lachte. Felipe betrachtete die Kombüse als sein Revier. Er hasste es, wenn sich die Piraten dort zu schaffen machten, auch wenn er sich nicht dagegen wehren konnte. Und er hasste es, dass sie ihm die Messer weggenommen hatten. Er durfte sie nur benutzen, während ein Wächter aufpasste.

»Tja«, sagte Tony, »immerhin können wir hoffen, dass sie von einer Überdosis Koffein einen Herzinfarkt bekommen.«

Natürlich geschah das nicht, obwohl sie jeden Tag eine Schüssel von dem Zeug tranken. Man sah nie einen Piraten, der nicht rauchte, Khat kaute oder den sogenannten Kaffee trank. Auf Fluren und Gängen tauchten immer mehr schwarze Flecken auf, wo die Kauer ausgespuckt hatten. Als hätten Vögel das Schiff übernommen und reine Schwärze statt weißem Guano geschissen.

Der Zigarettenqualm war allgegenwärtig. Sogar Farouz hatte meistens eine Kippe zwischen den Lippen und stieß den Rauch durch die Nasenlöcher aus. Das ist eigentlich auch die lebhafteste Erinnerung, die ich an ihn habe.