14Eigentlich wollte ich die Sterne gar nicht sehen.

Ich konnte einfach nicht schlafen, das ist alles. Auch als wir vor Eyl geankert hatten, waren wir nicht ständig eingesperrt. Wir durften uns frei bewegen, das Boot aber natürlich nicht verlassen. Selbst wenn wir die Flucht gewagt hätten – wie hätten wir das anstellen sollen? Zur somalischen Küste schwimmen? Die Vorstellung war absurd.

Ich will damit sagen, dass die Piraten nicht rund um die Uhr jeden unserer Schritte überwachten.

Eines Nachts, nicht lange nachdem wir die Küste erreicht hatten, verließ ich das Kino und ging auf das vordere Deck. Ich hoffte, an der frischen Luft würde ich vielleicht müde. Das war allerdings sehr dumm von mir. Viele Monate lang hatte ich mich bemüht, nicht zum Himmel hinaufzublicken und nicht daran zu denken, was es dort zu sehen gab, wenn die Sonne untergegangen war. Ich wollte nicht an meine Mutter erinnert werden, die mir etwas Dummes über Sternenstaub erzählt und gemeint hatte, ich könne sie immer zwischen den Sternen finden. Vor diesem Hintergrund hätte ich wirklich etwas vorsichtiger sein sollen. Aber wahrscheinlich leidet die Konzentration bei einer Entführung.

Genau wie hinten standen auch auf dem vorderen Deck drei Sonnenliegen. Sie wirkten lächerlich und fehl am Platz wie ein Swimmingpool im Kriegsgebiet. Ich blieb an einer der Liegen stehen und betrachtete das dunkle Meer.

Allerdings war es gar nicht dunkel.

Bläulich glühte und schimmerte das Wasser unter mir. In diesem Moment zerfiel ich in zwei Teile wie eine Walnuss, die aus der Schale gelöst wird. Eine Hälfte staunte über den schönen Anblick, die andere Hälfte dachte: Ich blicke zwar nach unten, aber ich erkenne die Sterne.

Benommen drehte ich mich um, und um nicht nach oben zu sehen, ließ ich mich mit geschlossenen Augen auf einer Sonnenliege nieder. Ich seufzte.

Dann hörte ich ein Geräusch, einen jener Laute, die kaum wahrnehmbar sind, aber verraten, dass sich jemand bewegt. Ich richtete mich auf und wandte mich um. Ein Schatten löste sich aus der Dunkelheit und kam auf mich zu.

Es war der junge Mann namens Farouz, der gut Englisch sprach. In einiger Entfernung blieb er stehen. Ich erkannte den Umriss seiner Waffe. Er zündete sich eine Zigarette an, die kirschrote Glut war ein neuer kleiner Stern auf der Jacht, aber nicht so hell wie die Sterne am Himmel. Der Rauch stieg auf, ich betrachtete die Konturen seiner Wange. Mein Bewusstsein speicherte eine Momentaufnahme, wie es eben manchmal geschieht. Bis heute sehe ich ihn genau vor mir: die Art, wie er den Kopf schief hielt, die Rauchkringel.

»Magst du die Sterne?«, fragte er leise.

Er konnte nicht wissen, wie schwierig diese Frage für mich war. Die Erinnerungen an Mom schnürten mir die Kehle zu, und ich wollte nicht mit ihm reden. Lieber wäre ich aufgestanden und gegangen, aber ich wusste mich zu benehmen. Es wäre wohl sehr unhöflich gewesen. Zugleich war mir bewusst, wie abwegig ein solcher Gedanke war, diese Sorge, ich könne einen Piraten beleidigen, der mich als Geisel festhielt und mir letztlich mit dem Tod drohte, falls er kein Geld bekam.

Außerdem hatte ich Angst, er könne mir Schmerzen zufügen, wenn ich nicht mit ihm sprach. Also

»Ich habe nicht die Sterne betrachtet, ich wollte nur eine Weile hier sitzen«, erwiderte ich.

»Sieh hinauf!«, forderte er mich auf und deutete zum Nachthimmel.

Ich war ein Tiger, auf allen Seiten von Speeren umringt. Ich senkte den Blick. »Nein, tut mir leid, ich…«, murmelte ich.

Er lächelte mich an.

»Keine Angst, ich tue dir nichts«, versprach er. »Bitte, sieh nach oben! Sie sind schön.«

Was blieb mir anderes übrig?

Ich blickte hinauf.

Über mir funkelten Milliarden von Sternen. So etwas habe ich im ganzen Leben noch nicht gesehen. Wahrscheinlich lag es daran, dass es hier keine Luftverschmutzung gab. Ich wollte immer noch nach drinnen gehen und den Piraten ohne Erklärung stehen lassen, um vor den Schmerzen zu fliehen, die in mir aufloderten. Andererseits konnte ich keinen Finger rühren, saß wie gebannt auf der Sonnenliege und starrte nach oben.

Zwischen den Sternen, die ich kannte und die ich – in eine Decke eingehüllt – mit Mom im Garten betrachtet hatte, funkelten zahllose unbekannte Sterne, von deren Existenz ich nichts geahnt hatte. Ich sah die Milchstraße, aber nicht als verwaschenen Fleck am Himmel, sondern wie in einer Diashow mit Weltraumfotos: eine große weiße Wolke mit bläulichen Zonen und voller Feuer, die sich über den ganzen Himmel spannte. Ringsum erstreckte sich tiefschwarz das Universum.

Mom hatte mir alle Sterne genannt. Vom Deck der Daisy May aus erkannte ich natürlich sofort den Großen Wagen – man sieht ihn in der ganzen nördlichen Hemisphäre, was unsere derzeitige Position einschloss. Aber auch den Wassermann, den Steinbock, die Fische – alle Herbstkonstellationen.

Einen Moment lang konnte ich nicht sprechen, weil ich fürchtete, mir zerbrächen die Worte im Mund wie eine Kommunionsoblate, und dann hätte meine bebende Stimme verraten, wie ich mich fühlte.

Also gut.

»Hier gibt es mehr als bei mir zu Hause«, räumte ich schließlich ein.

»Nein«, widersprach er. »Es sind genauso viele. Allerdings kannst du zu Hause wegen der Straßenlaternen weniger erkennen.«

Sein Englisch war sehr korrekt, so als läse er aus einem Buch vor. Vielleicht war es nicht hundertprozentig richtig, vielleicht machte er manchmal grammatische Fehler oder suchte nach einem Wort, aber das unterschlage ich hier. Gäbe ich seine Worte dem Klang nach wieder, dann könnte er für einen schlichten Mann gehalten und herablassend behandelt werden. Doch das war er zweifellos nicht, und er hätte es nicht verdient, so eingeschätzt zu werden. Er war klug, viel klüger als ich.

»Ja, das weiß ich«, antwortete ich ein wenig gereizt. »Ich bin nicht so dumm«, fügte ich hinzu. Dann aber fühlte ich mich ziemlich dumm, weil ich etwas so Kindisches gesagt hatte.

Er hob die Schultern und zog an der Zigarette.

»Ich habe gehört, dass die Seeleute früher mithilfe der Sterne navigiert haben«, fuhr er nach einer kleinen Pause fort. »Ich frage mich, wie so etwas möglich war.«

»Weißt du das nicht? Du bist doch Seemann.«

»Wieso bin ich Seemann?«

Ich verstand ihn nicht.

»Ihr habt Dingis«, erklärte ich. »Und du bist gerade auf einem Boot.«

Er lachte.

»Genau wie du selbst. Weißt du denn, wie man segelt

»Nein, das nicht, aber…«

»Aber? Ich bin in Mogadischu und Puntland zur Schule gegangen. Auf die Highschool. Ich habe Bücher gelesen und wollte Professor werden wie mein Vater. Von Booten verstehe ich nichts.«

»Warum bist du dann Pirat geworden?«

Er kam etwas näher, und ich erkannte im schwachen Licht seine Miene.

»Machst du Witze?«, fragte er. »Ich glaube, du machst Witze.«

»Nein, ich…«

»Es gibt keine Schule mehr. Keine Lehrer. Keinen Vater. Die Rebellen sind gekommen und haben das meiste mitgenommen. Dann haben die islamischen Fundamentalisten den Rest an sich gerafft. Die al-Shahaab.«

»Bist du denn kein Moslem?«

Wieder lachte er.

»Natürlich bin ich Moslem, aber ich bin nicht wie sie. Diese Leute… erinnerst du dich an Nine Eleven? Als die Hochhäuser in New York zerstört wurden?«

Du hast ja keine Ahnung, dachte ich. Aber ich nickte nur.

»Manche Leute hier haben das Ereignis gefeiert«, fuhr Farouz fort. »Sie haben auf den Straßen gelacht und gesagt, jetzt habe der Krieg zwischen dem Islam und dem Westen begonnen. Darüber haben sie sich gefreut. Ich dagegen hatte Angst, denn ich war der Ansicht, dass sie recht hatten. Es war wirklich der Beginn eines Kriegs. Nur dass der Krieg jetzt… es ist nicht mehr nur ein Krieg gegen den Westen. Die al-Shahaab bringt die eigenen Leute um.«

Ich wusste nicht, warum, aber er tat mir leid, und ich wollte ihm etwas zeigen, wie meine Mom mir manchmal etwas gezeigt hatte. Ohne von der Liege aufzustehen, deutete ich auf die Sterne.

»Siehst du den Großen Wagen?«, fragte ich. »Er wird auch Ursa Major genannt. Denk dir auf der rechten Seite eine Linie, die gerade nach oben führt. Siehst du den hellen einzelnen Stern darüber? Das ist der Polarstern. Wo du auch bist, wenn du in Richtung dieses Sterns gehst, bewegst du dich nach Norden.« Er folgte meinem Finger, dann lächelte er breit. Ich sah im Dunklen seine weißen Zähne schimmern. Er hatte lange Wimpern – länger als meine, und ich bin ein Mädchen. An der Außenwand des Esszimmers drückte er die Zigarette aus.

»Danke«, sagte er. »Das ist gut zu wissen. Aber in einem Punkt irrst du dich. Das ist nicht der Große Wagen. Das ist das Kamel.«

»Das Kamel? Ich verstehe nicht, wie…«

»Nein?«

Auf einmal saß er neben mir auf der Sonnenliege. Er hatte sich auf die Kante gehockt. Seine Haut war warm. Ich spürte es wie einen Brennofen in der Nacht. Mein Herz tat einen Sprung, als er mir auf einmal so nahe war. Er hob die Hand und zeichnete mit dem Finger eine Linie in den Himmel.

»Siehst du? Da ist der Hintern, dort ist der Höcker, am anderen Ende der Kopf.«

Ich sah es. Ein Kamel, das sich niedergelegt hat. Vielleicht nicht so offensichtlich, aber wer kann schon behaupten, dass der Große Wagen wirklich einem Wagen gleicht? Oder dem Bären, den die Griechen dort sahen?

»Oh, na gut«, stimmte ich zu. »Aber es hat keinen Schwanz.«

»Nein«, bestätigte er. »Der Schwanz wurde abgerissen.« Es klang, als sei dies etwas ganz Selbstverständliches.

»Abgerissen? Von wem?«

»Von einem hungrigen Mann.«

Ich setzte mich auf. Die Unterhaltung war schon zu Beginn seltsam gewesen, und sie wurde immer verrückter.

»Was meinst du damit? Wieso ein hungriger Mann?«

Er legte die Waffe, die immer noch an der Schnur hing, neben uns auf das Kissen. Einen Moment lang dachte ich, ich könnte sie an mich bringen und auf ihn richten. Aber was hätte ich als Nächstes tun sollen? Auf keinen Fall hätte ich abgedrückt. Außerdem war die Waffe bestimmt gesichert, und ich wusste nicht, wie man sie entsicherte. Drinnen hielten sich zudem die anderen Piraten auf, die Dad und die Stiefmutter jederzeit töten konnten. Das wollte ich nicht. Ich wollte nicht, dass jemand starb.

Als ich mich von der Waffe losriss, hielt er meinen Blick fest – so fühlte es sich an. Er hielt mich fest, und ich konnte mich nicht mehr abwenden, selbst wenn ich gewollt hätte. Er betrachtete die Waffe und sah mir wieder in die Augen. Dann lächelte er, und ich wusste nicht, was dieses Lächeln zu bedeuten hatte. Ob ihn meine kleine Phantasie belustigte oder ob er mir zu verstehen gab, dass ich keine Chance hatte und tot wäre, ehe ich die Waffe überhaupt in der Hand hielt. Um nicht völlig durchzudrehen, entschied ich mich für die erste Variante.

»Alle unsere Geschichten drehen sich um den Hunger«, erklärte er.

»Oh, ach so«, lenkte ich ein. »Warum?« Ich wollte immer noch hineingehen, aber er hatte etwas an sich, diese Besonnenheit, mit der er sprach, und ich blieb.

»Das Land ist eine Wüste«, erklärte er. »Hier gab es immer Hungersnöte.«

»Verstehe«, erwiderte ich. »Und deshalb hat jemand dem Kamel am Himmel den Schwanz abgerissen.« Ich wusste, es klang sarkastisch, und ich schämte mich für meine Worte. Hungersnöte sind wirklich kein Grund zum Scherzen. Es war nur so, dass er seine Worte mit diesem übertrieben korrekten Englisch aussprach, als wären sie nichts weiter als der Hintergrundkommentar eines Dokumentarfilms. Hungersnöte gab es schon immer – einfach so, alles klar.

»Ganz so einfach ist es nicht«, fuhr er fort. »Soll ich es dir wirklich erklären?«

Nein, wollte ich sagen. Nein, du sollst mich in Ruhe lassen. Aber er war so überraschend sanft, und ich hatte sowieso nichts Besseres vor.

»Äh… ja, gut«, willigte ich ein.

»Schön«, begann er. »Das Himmelskamel.« Wieder deutete er auf das Sternbild. »Der Warsangalistamm war daran schuld. Es gab eine schreckliche Hungersnot, und Kinder und auch alte Menschen starben. So etwas geschah immer wieder, aber diese Hungersnot war besonders schlimm. Es gab sehr, sehr lange keinen Regen. Das Vieh verendete. Die Männer jagten Hyänen und aßen sie. Ich weiß nicht, ob… Gibt es in deinem Land ein Tier, das als schmutzig gilt und nicht gegessen wird?«

»Manche Leute essen kein Schwein.«

»Ich esse kein Schwein. Ich bin Moslem, verstehst du? Aber die Hyänen, die sind viel schlimmer. Schweine sind nur Schweine, du bist ihnen gleichgültig. Wir essen sie nicht, weil Allah es verbietet. Aber Hyänen sind grausame Tiere. Wir geben ihnen alle möglichen Namen: Nachtgänger, Leichenfresser, die Heimtückischen, die Kinderdiebe.«

»Kinderdiebe?«

»Ja. Manchmal haben sie nachts Kinder angegriffen, die allein waren.«

»Oh«, machte ich.

Ich fragte mich, wie es sich wohl an einem Ort lebte, an dem es tödliche Tiere gab. Bisher hatte ich noch nie ernsthaft darüber nachgedacht.

»Das war bestimmt schrecklich«, gab ich zu. »Aber ist das nicht schon lange her? Ist es inzwischen nicht sicherer geworden?«

Er starrte mich lange schweigend an und runzelte die Stirn. Ich wusste nicht, wohin ich blicken sollte, und war verlegen, ohne den Grund dafür zu kennen. Inzwischen weiß ich, was sein Schweigen zu bedeuten hatte, aber er sprach es nicht aus. Jedenfalls nicht in jenem Augenblick. Er sagte nur, nach dem Verschwinden der meisten Hyänen seien andere Wesen in Erscheinung getreten, die den Menschen die Kinder wegnehmen konnten.

Andere Menschen.

Erst da sah ich ihn unwillkürlich wieder an, und er lenkte meinen Blick erneut nach oben zu dem Kamel am Nachthimmel.

»Die Menschen haben die Hyänen gegessen«, fuhr er fort, »und wenn du aus dieser Gegend stammen würdest, wüsstest du, wie nahe sie am Verhungern waren. Auf den Beirdabäumen wuchsen keine Früchte mehr. Hungrige Eltern aßen ihre toten Kinder. Schließlich hielten die Warsangali eine Versammlung ab und baten um Vorschläge, wie man den Stamm retten könne. Ein alter Mann erhob sich und sagte, sie hätten das ganze Vieh, die Zebras und die Hyänen aufgegessen. Es gebe aber Tiere, die sie noch nicht angerührt hätten – die Tiere, die am Himmel lebten wie das große Kamel. Doch die Sternbilder sind heilig, wandte ein anderer ein. Wenn wir das Himmelskamel essen, dann suchen uns noch schlimmere Plagen als eine Dürre heim.«

Farouz machte eine anmutige Geste, die mir wohl zeigen sollte, wie heilig und unantastbar die Sterne waren. Auch seine Gesten waren ungewohnt – sein Körper sprach eine Fremdsprache. Er bewegte sich in einem anderen Dialekt, und manchmal formulierte er ein Wort mit dem Mund und ein ganz anderes mit den Händen, was mir seltsam vorkam.

»Hörst du noch zu?«, fragte Farouz.

»O ja. Entschuldige«, sagte ich.

Es tat mir wirklich leid, weil ich zuhörte oder jedenfalls zuhören wollte. Es war angenehm, mit jemandem zu reden, der ungefähr in meinem Alter und nicht mein Dad, Damian oder die Stiefmutter war. Auf einmal wurde mir bewusst, wie einsam ich auf der Reise gewesen war. Ich hatte Musik gehört und war immer allein gewesen.

»Gut.« Er fuhr fort.

»Es gibt nichts Schlimmeres als die Dürre, antwortete ein Stammesmitglied demjenigen, der meinte, sie sollten das Himmelskamel nicht essen. Bald wird es keinen Stamm mehr geben, und was nutzt es dann, die heiligen Dinge zu ehren? Es ist besser, wir essen sie und überleben. Am nächsten Tag zog der ganze Stamm – vielmehr diejenigen, die noch lebten – zu den Al-Mado-Bergen. Dort bildeten sie einen riesigen Turm aus Menschen, bis sie den Himmel erreichten. Alle Stammesmitglieder bis auf den letzten Mann beteiligten sich an dem Turm. Der Mann, der ganz oben stand, stellte schließlich fest, dass er das Dach der Welt und die Sterne berühren konnte. Der Nachthimmel war kalt, und die Menschen im Turm zitterten, als ihnen der Wind durch die Kleider fuhr. Das Kamel in den Sternen hockte an seinem gewohnten Platz. Der Mann auf dem Turm streckte sich und packte den Schwanz des Kamels. Ich habe es!, rief er hinab.

Er hat es!, riefen die anderen, bis auch die Menschen ganz unten auf dem Berg wussten, dass das Kamel gefangen war.

In diesem Moment fiel aber jemandem weiter unten ein, dass er seinen Korb daheim vergessen hatte. Da er kein Behältnis hatte, konnte er sein Stück Fleisch nicht nach Hause zu seiner Familie tragen. Rasch verließ er seinen Platz und stieg den Turm hinunter.

Das war ein Fehler, denn sobald er fort war, geriet der Turm ins Schwanken und brach schließlich zusammen. Alle, die darin steckten, fielen übereinander, überschlugen sich und stürzten die Berge hinunter. Der Mann ganz oben war verzweifelt. Er zog die Machete und schlug auf den Schwanz ein, weil er dachte, er könne wenigstens dieses eine Stück mitnehmen. Das Kamel spürte es natürlich, brüllte und rannte los. Dabei riss der Schwanz vollends ab.«

Ich schauderte, als ich Farouz zuhörte. In meinem Kopf stürzte nicht der Stamm hinunter, sondern meine Mutter, sie raste hinab durch die Schwärze, während über ihr die Sterne standen. In der Schule wurde im Religionsunterricht immer wieder über den Sündenfall gesprochen, und so stellte es sich auch für mich dar, wenn ich an meine Mutter dachte. Es war der Sündenfall. Das Ereignis. Der Sturz in die Verdammnis.

»Alles in Ordnung?«, fragte Farouz.

»Ja«, antwortete ich. »Mir ist nur kalt.«

Es war wirklich kalt. Nach Sonnenuntergang kühlte die Luft erstaunlich rasch ab.

Farouz nickte, zog die Jacke aus und legte sie mir beinahe abwesend über die Schultern – oder er wandte den Blick bewusst ab, damit die Situation nicht zu vertraut und peinlich wurde.

»Aber die Leute unter dem obersten Mann waren fort«, erzählte Farouz. »Also stürzte er auch hinab, hielt dabei aber den Schwanz fest. Manche Leute sagen, er stürzt immer noch und hält den Schwanz fest, weil er so weit oben war, als der Sturz begann.«

Farouz deutete mit der Zigarette, die er sich gerade angezündet hatte, auf das Kamel.

»Deshalb hat das Kamel keinen Schwanz«, schloss er.

Er stand auf, als wolle er gehen, doch bevor er die Tür erreichte, wandte er sich um und hielt mir etwas hin. Es funkelte im Mondlicht und im Sternenlicht, und einen verrückten Augenblick lang dachte ich, er wolle mir einen Stern schenken. Aber dann kam er wieder näher, und ich erkannte meine Chanel-Uhr.

»Hier«, sagte er.

Ich nahm die Uhr, und dabei berührten sich unsere Finger. So etwas geschieht immer wieder im Alltag – wenn man das Wechselgeld für den Kaffee entgegennimmt, wenn man an der Garderobe den Mantel abholt. Aber dieses Mal war es anders. Es war, als hätten unsere Körper miteinander gesprochen.

Farouz berührte meine Hand, genau wie es andere Menschen manchmal taten. Doch es war auf gleiche Weise ähnlich, wie Wasser und Wodka äußerlich nicht zu unterscheiden sind, während beide Getränke ganz anders wirken, wenn man davon kostet.

Ich stand einen Moment lang wie vor den Kopf geschlagen da.

»Wie hast du…«, setzte ich an.

»Das spielt keine Rolle. Aber trag sie nicht und lass sie Mohammed nicht sehen. Er ist… seine Familie hat viel Macht. Er wäre gern anstelle von Ahmed der Boss. Wir müssen vorsichtig sein. Du solltest sie verstecken.«

»Gut, ich verstecke sie«, versprach ich. »Danke. Vielen Dank…«

Aber er war schon verschwunden.