28Das war der gute Teil des zweiten Tags. Schlecht dagegen war die Tatsache, dass ich pausenlos an Farouz dachte. Ich hatte geglaubt, er könne mich verstehen und uns verbinde etwas wirklich Greifbares. Doch er hatte uns hintergangen und verraten, dass das ganze Geld Dad gehörte. Ich war wütend.

Ja, ich war vor allem wütend, aber nicht verletzt.

Das sollte sich bald ändern.

In der Nacht lag ich mit geschlossenen Augen da und wartete auf den Schlaf. Dad und die Stiefmutter tuschelten im Dunkeln. Widerlich. Tony murmelte mit sich selbst.

Auf einmal hörte ich einen Rhythmus. Musik.

Ich richtete mich auf und erkannte im Zwielicht, dass Tony meinem Beispiel folgte.

»Was ist das?«, fragte Dad.

»Musik.« Tony hatte wirklich eine Begabung, das Offensichtliche auszusprechen.

»Da macht jemand Musik«, ergänzte ich.

Es war leicht zu erkennen, denn es klingt anders und viel voller, wenn jemand ein echtes Instrument spielt.

»Sehen wir doch nach!«, schlug Tony vor.

Eins musste ich ihm lassen, er hatte Mut. Die Tatsache, dass er angeschossen worden war, konnte ihn nicht aufhalten. Er war wie ein Spielzeughase mit voller Batterie. Er hatte keine Probleme damit, sich an den Verhandlungstisch zu setzen und die Piraten böse anzustarren oder mitten in der Nacht seltsamen Geräuschen auf den Grund zu gehen.

»Ich bleibe hier«, erklärte die Stiefmutter.

»Aber natürlich«, erwiderte Tony.

Was wollte er damit sagen? Hielt er sie im Kino für sicherer aufgehoben, oder war seine Bemerkung ein Seitenhieb, weil er sie für feige hielt? Ich tippte auf Letzteres, aber sein Tonfall war zweideutig gewesen, sodass mein Dad ihn nicht zur Rede stellen konnte. Ich mochte Tony auf der Stelle besser leiden.

»Ich komme mit«, entschied ich. Einerseits hatte ich eine Ahnung, was dort draußen zu hören war, andererseits fühlte ich einen Knoten in der Magengrube.

Tony öffnete die Tür, und Dad und ich folgten ihm, nachdem er sich im Korridor umgesehen und festgestellt hatte, dass keine Wächter in der Nähe waren. Damian wäre sicher auch mitgekommen, aber er schlief und schnarchte laut.

Die Musik kam aus dem hinteren Teil der Jacht. Nennt man ihn nicht das Heck? Jedenfalls wandten wir uns in diese Richtung und schlichen weiter. Das war vermutlich gar nicht nötig, weil die Piraten uns sowieso nicht hörten. Im Esszimmer hielten wir inne und blickten durch ein Bullauge zum hinteren Deck hinaus, wo das Licht eingeschaltet war. Ich musste an etwas völlig Unpassendes denken: englische Wichtigtuer, die durch die Gardine spähen und alles überwachen, was in der Nachbarschaft vor sich geht.

Draußen war eine Party im Gang. Flaschen aus der Bar – einige aus durchsichtigem, andere aus dunklem Glas – lagen auf dem Boden.

»Ich dachte, Moslems trinken keinen Alkohol«, meinte Dad.

»Jede Wette, dass sie auch keinen Khat kauen dürfen«, ergänzte Tony.

Ich achtete kaum auf die beiden, sondern beobachtete Farouz.

Er saß auf einer umgedrehten Kiste und spielte auf der Oud. Er hielt das Instrument, als wäre es etwas Lebendiges, ein kleines Kind oder eine Geliebte. Wie er es beschrieben hatte, ähnelte es einem Banjo oder einer Gitarre, aber mit dickerem Bauch und schmalem Hals. Er bewegte die Hände sehr schnell und leicht. Aber nicht behutsam, sondern eher… instinktiv. Als könne er auf gar keinen Fall eine falsche Saite anschlagen, weil die Oud ein Teil von ihm war.

Er spielt gut, dachte ich. Der dumme Gedanke durchdrang meinen Zorn, die Eifersucht und den Schmerz.

Die meisten anderen Piraten trommelten, klatschten in die Hände oder benutzten was immer sich in Reichweite befand – Kaffeedosen, das Deck, die Knie. Ahmed sang. Klar und geschmeidig perlte seine Stimme über die Musik wie das Wasser im Bachbett. So wie ich ihn kannte, hätte ich ihm solche Töne nie zugetraut. Es war, als käme aus dem Kaugummiautomaten ein Tiffany-Ring.

Dad und Tony flüsterten miteinander, während ich zusah und Musik hörte. Es war erstaunlich. Diese Musik klang ganz anders als die westliche – pentatonisch, in einer Molltonart, dahinter ein komplizierter Rhythmus. Sie erinnerte mich an den Blues, und dann schalt ich mich eine Närrin, weil der Blues sich natürlich aus Musik wie dieser entwickelt hatte. Sklaven aus Afrika hatten die Rhythmen leise bei der Arbeit in Amerika gesummt und hundert Jahre später laut gesungen. Einen Wechsel zwischen Strophen und Refrain schien es nicht zu geben. Es war eher eine freie Improvisation über vorgegebene Tonfolgen, und ich dachte wiederum an den Jazz.

Die ganze Zeit über bewegte Farouz die Finger schnell über das Instrument, als wären sie die beweglichen Teile einer programmierten Maschine. Es klingt vielleicht seltsam, aber dieser Anblick tat mir wirklich weh.

Ich hatte angenommen… ich weiß auch nicht. Ich hatte angenommen, dass Farouz mich irgendwie brauchte. Als sei er mir ein wenig ähnlich und gehöre eigentlich gar nicht zu den anderen Piraten. Aber da saß er und spielte lächelnd die Oud, während Ahmed sang. Kein anderes Bild hätte den Inbegriff von Zusammengehörigkeit besser darstellen können als dieser Anblick. Vor Farouz’ Füßen stand eine offene Flasche, die vermutlich Whisky enthielt. Die Piraten lachten und strahlten ein starkes Einvernehmen und eine Zufriedenheit aus, die beinahe mit Händen zu greifen war.

Ich konnte die Augen nicht von Farouz abwenden.

Du bist nicht wie ich, erkannte ich und spürte einen schmerzhaften Stich. Du bist einer von denen, auch wenn du gebildet bist. Auch wenn du einfühlsam bist. Du hast eine Familie, mit der du auf dem Deck sitzt. Du hast einen Ort, an den du gehörst. Du hast deine Musik.

Und auch: Du hast mich belogen. Du hast mir das Gefühl gegeben, du seist anders und müsstest das alles nur tun, um deinen Bruder zu retten. Auch wenn das zum Teil vielleicht der Wahrheit entspricht.

Als ich Farouz betrachtete, wie er in der warmen Nacht die Oud in Händen hielt, ging mir auf, was ich bisher verleugnet hatte – er liebte sein Leben. Er war gern Pirat.

In diesem Augenblick hasste ich ihn von ganzem Herzen.

Einer der Piraten wandte sich um, als hätte er uns bemerkt, worauf Dad mich am Arm packte und nach unten zog. So hockten wir schwer atmend unter dem Bullauge und warteten darauf, dass die Musik abbrach und sich Schritte näherten. Die Piraten hatten getrunken, vielleicht verloren sie in einer solchen Situation die Beherrschung. Ob sie dann sogar zum Töten bereit waren? Das fragten wir uns alle.

Doch die Musik hörte nicht auf, sondern wurde sogar noch lauter und rauer und stieg in die Nacht empor.

Wenn jetzt die Nördliche Küstenwache auftaucht, könnte sie unsere Piraten im Handumdrehen überwältigen und die Jacht übernehmen, dachte ich. Irgendwie sehnte ich einen solchen Zwischenfall sogar herbei.

Tony zählte irgendetwas mit den Fingern ab und bewegte die Hände, als müsse er sich einprägen, wo sich verschiedene Gegenstände befanden.

»Vor der Tür liegt eine AK«, sagte er. »Wenn wir…«

»Nein«, flüsterte Dad zurück.

»Sie sind betrunken«, drängte Tony. Mir wurde klar, dass er vor allem aus dem Kino geschlichen war, um sich in dieser Hinsicht zu vergewissern. Die Piraten rechneten mit keinem Angriff.

»Ich habe Nein gesagt«, beharrte Dad. »Sind Sie verrückt? Der Kerl trägt immer noch die Pistole an der Hüfte. Auch die anderen sind im Handumdrehen bei ihren Waffen.«

»Wir könnten sie ausschalten«, behauptete Tony mürrisch.

»Das könnten wir«, bestätigte Dad. »Aber dabei würden wir garantiert sterben.«

»Amy kann ins Kino zurückkehren, und dann…«

»Nein«, sagte Dad in normaler Lautstärke. Ich zuckte zusammen, weil die Piraten ihn sicher gehört hatten. Mit dieser befehlsgewohnten Stimme hatte er früher auf dem BlackBerry lästige Anrufer abgefertigt. Das war der Trick der charmanten Führungspersönlichkeit. Wenn er wollte, konnte er jederzeit seine Macht demonstrieren, sich gebieterisch durchsetzen und die anderen einschüchtern.

Es funktionierte auch dieses Mal. Tony hob beschwichtigend die Hände.

»War ja nur ein Vorschlag«, murmelte er.

Ich war erleichtert, aber auch ein wenig enttäuscht. In mir steckte noch ein anderes Ich, das gern bei einem Angriff zugesehen hätte. Das Blatt hätte sich gewendet, die Waffen hätten auf die Piraten gezielt. Ich hätte Tony unterstützt, wollte aber natürlich nicht, dass mein Dad verletzt wurde. Sosehr er mich auch nervte – er war immer noch mein Dad.

Hätten Tony und ich es allein geschafft? Hätten wir das AK erreichen können? Vielleicht. Aber dazu sollte es nicht kommen. Mein Dad hatte Tony gegenüber seine Macht ausgespielt, als jener vorschlug, er und Dad könnten die Piraten überwältigen. Ich wollte nicht wissen, wie er in Fahrt geriete, sobald ich mich selbst ins Spiel brachte.

»Eine Schande«, bemerkte Tony, als wir ins Kino zurückkehrten. »Eine so gute Gelegenheit bekommen wir nie wieder.«

»Manchmal ist das Beste noch nicht gut genug«, erwiderte Dad.

Damit hatte er natürlich völlig recht.